Friedrich Wilhelm Nietzsche: Die Götter der Zukunft …

Dieser Artikel befaßt sich mit dem Untergang des Abendlandes hin zu einer neuen Götterdämmerung künftiger Generationen. Hierbei verliert er sich aber nicht in der Kritik an der Moderne, sondern versucht eine Vision einer neuen und anderen Welt erstehen zu lassen. Nietzsches Religion der Religionen als Überwindung der Postmoderne.

… die Überwindung der Postmoderne

Wenn
wir sagen, dass der von Nietzsche diagnostizierte Nihilismus heute unter dem
Begriff der Postmoderne bereits Wirklichkeit geworden ist, muss sich zwangsläufig
die Frage nach seiner Überwindung stellen. Dass der Nihilismus überwunden
werden muss, steht dabei außer Frage, denn er hemmt die Höherentwicklung
der Menschheit und ebnet der Mittelmäßigkeit den Weg. Außerdem
wächst im Schoß der postmodernen Gesellschaft ein großes Zerstörungspotential
heran, eine Art „destruktiver Gesamtcharakter“, der aus der Ziel-
und Inhaltlosigkeit unserer Zeit resultiert. Walter Benjamin hat ihn zutreffend
beschrieben: „Der destruktive Charakter ist jung und heiter. ( … ) Zu
solchem apollinischen Zerstörungsbilde führt erst recht die Einsicht,
wie ungeheuer sich die Welt vereinfacht, wenn sie auf ihre Zerstörungswürdigkeit
geprüft wird.“ Eine solche Prüfung nahmen bereits die Nationalsozialisten
vor, und ihr Resultat ist allgemein bekannt.

Auch wenn man die herausgehobene Stellung Nietzsches noch nicht in jeder Einzelheit
erkannt hat, spricht schon Habermas in seinem Buch „Der philosophische
Diskurs der Moderne“ von Nietzsche als „Drehscheibe“ beim Eintritt
in die Postmoderne, und W. Welsch schreibt:

„Man täusche sich dabei über die geschichtliche Stellung
Nietzsches nicht. Man muss ihn arg strapazieren, um ihn umstandslos zum Vordenker
der Postmoderne zu erklären. Nietzsche sieht den modernen Pluralismus nicht
gerade positiv. Er ist für ihn vielmehr das Phänomen der modernen
Dècadence schlechthin, demgegenüber es zu einer neuen Totalität
vorzustoßen gilt. Im Pluralismus gewahrt Nietzsche – angesichts des Historismus
– nur die Geschäftigkeit der Vergleichung und Kostümierung . Der
‚Übermensch‘ sollte dann die Überwindung dieser Décadence
darstellen. – Postmodernes muss bei Nietzsche gegen diesen Hauptzug suchen.

Man kann es freilich finden: Nietzsche gestand, dass ihm die genannte Einstellung
zur modernen Décadence schwergefallen sei und dass sie ihn viel gekostet
habe . Er hat sogar die Ambivalenz des von ihm als bloße Décadence
Gebranntmarkten verzeichnet: ‚Es gibt etwas von Verfall in allem, was den
modernen Menschen anzeigt: aber dicht neben der Krankheit stehen Anzeichen einer
unerprobten Kraft und Mächtigkeit der Seele. Dieselben Gründe, welche
die Verkleinerung der Menschen hervorbringen, treiben die Stärkeren und
Selteneren bis hinauf zur Größe.‘ – Die Postmoderne ist genau die
Epoche, in der diese positive Kehrseite des zuvor nur als Décadence Empfundenen
und Praktizierten erfasst und ergriffen wird.“

Nun fällt es selbst den sogenannten Spezialisten der Postmoderne, und
zu diesen muss man Welsch rechnen, schwer zu erklären, was man im heutigen
philosophischen Diskurs überhaupt unter Postmoderne zu verstehen hat. Das
wird deutlich, wenn man im Vorwort zur 3. Auflage seines Buches liest:

„Pluralität
ist der Schlüsselbegriff der Postmoderne. Sämtliche als postmodern
bekannt gewordene Topoi – Ende der Meta-Erzählungen, Dispersion des Subjekts,
Dezentrierung des Sinns, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, Unsynthetisierbarkeit
der vielfältigen Lebensformen und Rationalitätsmuster – werden im
Licht der Pluralität verständlich. Pluralität bildet auch die
Leitlinie aller fälligen Transformationen überkommener Vorstellungen
und Konzepte. Diese postmoderne Pluralität ist jedoch nicht mit der geläufigen
und gefälligen Oberflächen-Buntheit gleichzusetzen. Sie geht tiefer
und greift in Basisdefinitionen ein. Sie ist anspruchsvoller und härter
als der gängige ‚Pluralismus‘.
Gleichzeitig wird diese Pluralität immer von Uniformierungsprozessen bedroht.
Ihnen muss gewiss jede Zeitdiagnose deskriptiv Rechnung tragen; normativ aber
optiert die Postmoderne entschieden für die Gegenseite, für Pluralität.
Deshalb kommt es so sehr darauf an, den harten, an Basisdifferenzen orientierten
Begriff von Pluralität im Auge zu haben. Sein smarter Verwandter nämlich,
der Pluralismus der Oberflächen-Buntheit, führt in seiner Potenzierung
gerade zum Gegenteil von Pluralität: zur Uniformierung in den diversen
Erscheinungsformen der Gleichgültigkeit, Indifferenz und Beliebigkeit.
Während die Aufmerksamkeit auf einschneidende Differenzen die Pluralität
wahrt und verteidigt, führt die Ankurbelung des Oberflächen-Pluralismus
zu ihrer Tilgung. Hier verläuft eine klare Scheidelinie zwischen postmodernen
und pseudo-postmodernen Konzeptionen.“

„Vorab drängt sich eine weitere Unterscheidung auf: zwischen einem
diffusen und einem präzisen Postmodernismus. Der diffuse ist der grassierende.
Seine Spielarten reichen von wissenschaftlichen Universal-Mixturen in Lacan-Derrida-Tunke
bis zu aufgedrehten Beliebigkeits-Szenarien chicer Kulturmode. Das Credo dieses
diffusen Postmodernismus scheint zu sein, dass alles, was den Standards der
Rationalität nicht genügt oder Bekanntes allenfalls verdreht wiedergibt,
damit auch schon gut, ja gelungen sei, dass man den Cocktail nur ordentlich
mixen und mit reichlich Exotischem versetzen müsse. Man kreuze Libido und
Ökonomie, Digitalität und Kynismus, vergesse Esoterik und Simulation
und gebe noch etwas New Age und Apokalypse hinzu – schon ist der postmoderne
Hit fertig. Solcher Postmodernismus der Beliebigkeit, des Potpourri und der
Abweichung um jeden (eigentlich um keinen) Preis erfreut sich gegenwärtig
großer Beliebtheit und Verbreitung.“

Mag Welsch das nun alles beklagen und die postmoderne Pluralität gegen
das abgrenzen, was er die „Oberflächen-Buntheit“ nennt, so ist
das ein ziemlich hilfloses Unterfangen. Welsch vergisst – oder verdrängt
– dabei nämlich, dass es gerade diese Oberflächen-Buntheit ist, diese
Beliebigkeits-Szenarien sind, die in den Augen der Menschen die Postmoderne
charakterisiert und die Menschen prägt.

Dagegen eine klare, das Diffuse eliminierende Stellung einzufordern, wie Welsch
es tut, würde zuletzt auch zur Eliminierung der Postmoderne selbst führen.
Die beklagte Oberflächen-Buntheit und Beliebigkeit sind ja Ausdruck des
Verfalls der tradierten Werte, auch die Folge dessen, was V. Havel als die „Verwüstung
der Wertewelt“ bezeichnet hat. Dagegen mögen klare Begriffe hilfreich
sein; aber das auch nur, wenn sie die Überwindung der Postmoderne und die
Konstitution eines neuen Wertesystems, das allgemein anerkannt wird, zum Ziel
haben. Genau darum aber geht es hier nicht; hier will man die Beliebigkeits-Postmoderne
in ein stringentes System überführen, ihr Form und Inhalt geben und
ihr somit Dauer sichern. Genau das aber ist nicht unser Ziel; das ist ganz unzweideutig
die Beseitigung der Postmoderne als das die Gesellschaft prägende System.

Die
Kritik der Postmoderne muss, ganz eindeutig, auch die Kritik an der von ihr
zum Götzen stilisierten Pluralität werden. Nicht etwa, dass Pluralität
in jeder Beziehung abzulehnen ist; aber sie muss ganz einfach als allgemein
seligmachendes System abgelehnt werden, weil sie eine plurale Hilf- und Sprachlosigkeit
mit sich bringt. Genau diese Hilf- und Sprachlosigkeit hat dazu geführt,
dass die Menschen den wirklich großen Herausforderungen nichts entgegenzusetzen
haben. Es geht um ihre Existenz, und sie beschäftigen sich hingebungsvoll
mit Oberflächenphänomenen.

Die Postmoderne (gerade auch als mein Sammelbegriff für die vielfältigen
Erscheinungsformen des modernen Nihilismus) ist eine entscheidende Phase in
der Existenz der Menschheit: entweder schaffen die Menschen es, die Postmoderne
zu überwinden und aus dieser Überwindung die neue Kraft zu schöpfen,
die sie befähigt, die drängenden globalen Probleme zu meistern; oder
die Postmoderne schafft das, was Nietzsche als den „letzten Menschen“
charakterisiert hat, der mit seinem kleinen Glück zufrieden ist und blind
weiter dem Untergang entgegengeht.

Die moderne Philosophie ist ausgebrannt, weshalb sie gern mit Begriffen spielt.
Einer von diesen Begriffen ist der der Postmoderne; mit ihm verschleiert man
das, was eigentlich dahintersteht: Décadence und Nihilismus. Beides,
dessen war sich Nietzsche gewiss, muss und kann überwunden werden; aber
es sind große Anstrengungen zur Überwindung notwendig. Denn aus der
Überwindung muss ein neues, großes Ziel für die Menschen geboren
werden; ohne dieses Ziel ist die Überwindung zwecklos, denn die Menschheit
würde nur in eine neue Phase von Décadence und Nihilismus taumeln. Dieses
Ziel ist der von Nietzsche prophezeite „Zarathustra-Hazar von tausend Jahren“,
das neue goldene Zeitalter. Dass es Skeptiker gibt, die dieses Unternehmen für
nicht durchführbar halten, ist verständlich.

P. Sloterdijk schreibt in seinem Aufsatz „Nach der Geschichte“:

„Das Ende der christlichen Weltepoche bedeutet gerade nicht, dass auf
den apokalyptischen Stress das neokosmologische Aufatmen folgt. Nur in der Generation
unserer Großväter war die Vision suggestiv, dass wir neue Griechen
werden könnten; bis zum Vorabend des Nationalismus war es verlockend, mit
Nietzsche zu glauben, man könne aus der christlichen Dekadenz in die heidnische
Gesundheit emigrieren und die Geschichte für den Kosmos opfern.

Selbst
wenn das Christentum für die meisten Zeitgenossen nur noch eine unwirkliche
zitathafte Größe sein mag: vom kosmischen Kreislauf der Zeiten war
keine Generation jemals so entfernt wie die heutige. Nie war die Rückkehr
von der linearen Geschichte in eine zyklische Ordnung der Dinge so unwahrscheinlich
wie jetzt. Natürlich würde jeder, der auf der abschüssigen Bahn
der Naturverwüstung torkelt, sich gern in ein kosmologisches Posthistoire
hinüberretten, in dem ein souveränes zeitfreies Sein waltet. Ohne
Zweifel hätte es seinen Reiz, sich nachpaulinisch und ohne illusorische
Hoffnungen als ‚ungeheure‘ Sterbliche auf der mütterlichen Erde anzusiedeln.“

Sloterdijk ist zuzustimmen, wenn er den gegenwärtigen Zustand als Ausgangspunkt
für das neue Griechentum annimmt, und er hat recht mit seiner Feststellung,
dass die Menschheit niemals zuvor so weit entfernt waren vom kosmischen Kreislauf
der Zeit. Wo bleibt die Perspektive?

Wenn wir die Unmöglichkeit des Umsteuerns und Umdenkens annehmen, dann
wird der Untergang der menschlichen Zivilisation unausweichlich kommen; ja,
daraus könnte sich sogar der Untergang der gesamten Menschheit entwickeln.
Billigen wir aber der Menschheit Zukunft zu, müssen wir auch bereit sein,
eine weit über den Tag hinausreichende Vision zu entwickeln – auch die
Vision eines neuen Griechentums. Dabei geht es gar nicht darum, sich vorzustellen,
dieses neue Griechentum könne sich global entfalten. Auch Nietzsche hat
solche Vorstellungen nicht gehabt; für ihn war ein neues Griechentum –
als Vorstufe zum Übermenschen – stets auch mit der Vorstellung einer neuen
Rasse verbunden, die durch Zucht und Züchtung zu schaffen wäre.

Also ist die Vision von einem neuen Griechentum gar keine Lehre für die
Massen, keine neue Weltbeglückungs-Ideologie, sondern nur für eine
kleine Gruppe von Menschen, die Gruppe nämlich, die außerhalb von
Herden und Staaten steht und bereit ist, eine neue Gesellschaft zu konstruieren.
Und deshalb ist auch kein neues Griechentum oder seine Schaffung der Kern von
Nietzsches Lehre, sondern die Schaffung einer neuen, letztendlich rein gewordenen
Rasse, eine Planung, die mit Jahrhunderten rechnet. Es ist dies auch die Unterwerfung
unter die Lehre der ewigen Wiederkehr, die Akzeptanz der Lehren Zarathustras
und damit der Religion der Religionen., die das Fundament legt, auf dem sich
dann die Menschen zusammenfinden können, aus denen die neue Rasse wächst.
Wenn es eines fernen Tages diese Rasse gibt, wird sie vielleicht eine neugriechische
Kultur entwickeln; aber dieser Vorgang wird weit in der Zukunft angesiedelt
sein.

Sloterdijk tut so, als sei die Chance, zu einem neuen Griechentum zu gelangen
und damit zur alten kosmologischen Ordnung der Dinge zurückzukehren (zum
Kreislauf), auf unabsehbare Zeit vertan. Aber gerade die geschichtlichen Umbrüche
und Verwerfungen der letzten Jahrzehnte und die Geschwindigkeit, in der diese
Prozesse des Wandels abliefen, haben eher das Gegenteil gezeigt; sie haben bewiesen,
wie rasch sich die als unveränderbar angesehenen Konstellationen ändern.
In dieser Phase des raschen Wandels ist es keineswegs mehr auszuschließen,
dass auch die Religion der Religionen, die von Nietzsche-Zarathustra konzipierte
neue Weltenlehre, als Zukunftsreligion mächtigen Auftrieb erhält und
sich durchsetzt.

Meistens sind es Zeiten von Chaos, Verwerfung und innerer Zersetzung, also
Zeiten des Nihilismus, die neue Lehren hervorbringen, um genau diese Zustände
zu überwinden. So war es mit dem Christentum, dem Buddhismus und dem Islam.
So wird es auch mit der Lehre der ewigen Wiederkehr sein. In ihr findet sich
ein Urgefühl der Menschen nach Freiheit, Dauer und Geborgenheit, ein Gefühl,
das nicht im Korsett von Bevormundung, totaler Fürsorge und Mittelmäßigkeit
endet.

Man
mag Habermas nur zuzustimmen, wenn er festhält, dass eine „rückwärtsgewandte
Ästhetik“ besonders „jene zuerst in der Frühromantik auftauchenden
Motive, aus denen sich Nietzsche ästhetisch inspirierte Vernunftkritik
gespeist hat“, verharmlost . Es geht hier um den Dionysos-Kult, denn gerade
dieser Gott spielte bereits bei den Frühromantikern einer herausragende
Rolle:

„Der Dionysos-Kult konnte für eine an sich selbst irre werdende
Zeit der Aufklärung attraktiv werden, weil er im Griechenland des Euripides
und der sophistischen Kritik alte religiöse Überlieferungen wachgehalten
hatte. Als das entscheidende Motiv nennt M. Frank aber den Umstand, dass Dionysos
als der kommende Gott Erlösungshoffnungen auf sich ziehen konnte. Zeus
hat mit Semele, einer sterblichen Frau, den Dionysos gezeugt, der von Hera,
der Gattin des Zeus, mit göttlichem Zorn verfolgt und schließlich
in den Wahnsinn getrieben wird. Seither wandert Dionysos mit einer wilden Schar
von Satyrn und Bacchantinnen durch Nordafrika und Kleinasien, ein ‚ausländischer
Gott‘, wie Hölderlin sagt, der das Abendland in die ‚Götternacht‘
stürzt und allein die Gabe des Rausches zurücklässt.

Aber Dionysos soll einst, durch die Mysterien wiedergeboren und vom Wahnsinn
befreit, zurückkehren. Von allen übrigen griechischen Göttern
unterscheidet sich Dionysos als der abwesende Gott, dessen Wiederkehr noch bevorsteht.
Die Parallele zu Christus bot sich an: auch dieser ist gestorben und hinterlässt,
bis zum Tage seiner Wiederkehr, Brot und Wein. Dionysos freilich hat das Besondere,
dass er in seinen kultischen Exzessen auch jenen Fundus an gesellschaftlicher
Solidarität gleichsam bewahrt, der dem christlichen Abendland, zusammen
mit den archaischen Formen der Religiosität, verloren gegangen ist.

So verknüpft Hölderlin mit dem Dionysosmythos jene eigentümliche
Figur der Geschichtsdeutung, die eine messianische Erwartung tragen konnte und
die bis zu Heidegger wirksam geblieben ist. Das Abendland verharrt, seit seinen
Anfängen, in der Nacht der Götterferne oder der Seinsvergessenheit;
der Gott der Zukunft wird die verlorenen Kräfte des Ursprungs erneuern;
und seine Ankunft macht der nahende Gott durch seine schmerzhaft zu Bewusstsein
gemachte Abwesenheit, durch ‚größte Entfernung‘ fühlbar;
indem er die Verlassenen immer dringlicher empfinden lässt, was ihnen entzogen
worden ist, verheißt er seine Rückkehr nur umso überzeugender:
in der größten Gefahr wächst das Rettende auch.“

Und, auf die von Nietzsche in seinem Erstlingswerk „Die Geburt der Tragödie“
herausgearbeiteten Pole des Apollinischen und Dionysischen eingehend:

„In Apollo haben die Griechen die Individuation, der Einhaltung der
Grenzen des Individuums, vergöttlicht. Aber apollinische Schönheit
und Mäßigung verhüllten nur den Untergrund des Titanischen
und Barbarischen, der im ekstatischen Ton der Dionysosfeiern aufbrach: ‚Das
Individuum, mit allen seinen Grenzen und Maßen, ging hier in der Selbstvergessenheit
der dionysischen Zustände unter und vergaß die apollinischen Satzungen.“

Habermas hat klar erkannt, warum gerade Nietzsche es war, der eine neue Religion
verkündet, auch wenn ihm vielleicht der Umstand, dass es eine Religion
ist, um die es Nietzsche geht, nicht bewusst ist:

„Da nun der unverdorbene Wille zur Macht nur die metaphysische Fassung
des dionysischen Prinzips ist, kann Nietzsche den Nihilismus der Gegenwart als
die Nacht der Götterferne begreifen, in der sich das Nahen des abwesenden
Gottes ankündigt.“

Denn:

„Nietzsche hat den Bogen des dionysischen Geschehens ausgespannt zwischen
altgriechischer Tragödie und neuer Mythologie.“

Hier findet sich also der Schlüssel zum Geheimnis dessen, welches in Nietzsches
Bekenntnis verborgen liegt, er sei „der letzte Jünger des Philosophen
Dionysos“, er, „der Lehrer der ewigen Wiederkunft …“ Aber nicht
nur das: durch seine „Turiner Himmelfahrt“ wurde Nietzsche selbst
zu Dionysos, erlebte er seine Apotheose als der kommende Gott. Wir Heutigen
haben kaum noch eine Vorstellung davon, was in Turin zwischen November 1888
und Januar 1889 geschah; es war das ein Vorgang, der durchaus mit der Kreuzigung
und Vergottung Jesu‘ verglichen werden kann, ja muss; in Nietzsche inkarniert
sich Dionysos, also nach fast 2000 Jahren wieder ein neuer Gott.

Denn dass der Dionysos, den Nietzsche verkörpert, nicht mit dem identisch
ist, der vor 2500 Jahren den Griechen bekannt war, wird schon durch die Wortwahl
klar; denn für Nietzsche ist Dionysos kein Gott (und selbst wenn er es
wäre, wäre das für Nietzsche ohne Bedeutung, da er selbst auch
ein Gott ist), sondern, von gleich zu gleich, der „Philosoph Dionysos“
– eben so, wie Nietzsche sich als Philosoph, als Lehrer begreift.

Damit
wird auch klar, dass die von Nietzsche geschaffene Lehre ohne Gott auskommt,
ja auch ohne den „kommenden“ Gott Dionysos. Das ist der große
Schritt vorwärts, den Nietzsche gegenüber den Frühromantikern
macht, für die der „kommende Gott“ im Vordergrund steht, und
zwar als ein christlicher Gott, der – sozusagen – als großer Reformator
der Christenheit auftritt. Aber natürlich gab es auch damals schon zwischen
den Vorstellungen der Frühromantiker und strenggläubiger Christen
schwerwiegende Differenzen; nur versagte man es sich, daraus Konsequenzen zu
ziehen und den Mantel des Christentums schon gänzlich abzulegen. Diesen
Schritt vollzog erst Nietzsche, als er den Tod Gottes nicht nur verkündete,
sondern auch begann, Beweis für diesen Tod zu führen. Die Frühromantiker
warteten auf den neuen Gott:

„Wie Hölderlins stiller tröstender Genius ist auch für
Schelling Christus nur der Beender der Mythologie – ihr télos, der Letzte
des himmlischen Chors -; als Stifter der ‚neuen Religion‘ ist er aber nach
wie vor der kommende Gott, auf den das 19. Jahrhundert wartet und dem die Gesellschaft
den Weg kürzer machen soll. ‚Hätte ich in unserer Zeit eine Kirche
zu bauen, ich würde sie dem heil. Johannes widmen‘, sagt Schelling 1842
in Berlin.“

Aber man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, weder schaffte man es,
das Christentum zu reformieren, noch, durch den „kommenden Gott“ zu
aktivieren; der christliche Gott lag bereits im Sterben. Man kann schon davon
ausgehen, dass das Frühromantikern wie Hegel, Schelling und Hölderlin
bewusst war; nur war die Zeit noch nicht gekommen, um die richtigen Schlüsse
zu ziehen; dies blieb Nietzsche vorbehalten. Aber Nietzsche beschritt den Weg,
einmal eingeschlagen, konsequent bis zum Ende, wurde sein eigener Prophet (Zarathustra)
und zuletzt Gott. Er hatte nämlich erkannt, dass die Menschen noch nicht
reif waren für ein Leben ohne Religion: und so schuf er sich dabei vergottend,
eine Religion ohne Gott: das ist sein größtes Werk!

Ich habe versucht darzustellen, warum gerade Dionysos eine so herausragende,
ja beherrschende Position in Nietzsches neuer Lehre einnimmt. Nietzsche war
bestimmt stark, viel stärker als bislang zugegeben, von den Frühromantikern
beeinflusst; Hölderlin, zu seiner Zeit wegen seines Wahns verpönt,
war bereits in Nietzsches Jugend ein von ihm hochgeschätzter Dichter. Frank
schreibt, bezugnehmend auf Hölderlins „Hyperion“:

„Auch dort nämlich ist unterschieden zwischen wenigen Eingeweihten,
die an die Wiederkunft des Reiches Gottes – sagen wir: an den Advent des neuen
Gottes – glauben, und den vielen Uneingeweihten: die ersehnte Erneuerung der
Welt und der Menschheit – heißt es ja – werden vorbereitet von kleinen
Gruppen Verschworener: im ‚stillen‘ Wirken ‚Einzelner‘ und ‚Weniger‘,
die Hegels Gedicht als ‚Kinder‘ Gottes und der ‚heil’gen Nacht‘ bezeichnet.
Diese „Wenigen“ aber erkennen sich und Eins sind sie, denn es ist
Eines in ihnen, und von diesen, diesen beginnt das zweite Lebensalter der Welt.“

Soweit Hölderlin. Das hat auch Nietzsche beeinflusst. Auch für ihn
steht fest, dass die Herde, die Masse niemals in der Lage sein wird, sich aus
dem Sumpf der Mittelmäßigkeit zu ziehen. Und Nietzsche zieht den
umgekehrten Schluss wie Marx aus seiner Erkenntnis: es ist gar nicht erwünscht,
dass dies geschieht, denn die Herde ist nicht dazu in der Lage, die höchsten
Weihen zu erlangen.

Während
Marx extra eine Klasse, das „Proletariat“, schafft, um für diese
dann „gleiche Rechte“ und, darüber hinaus, die Gesamtherrschaft
(Diktatur des Proletariats) einzufordern, provoziert Nietzsche mit der Erkenntnis,
dass jede höhere Kultur auf Sklavenarbeit beruht. Man sieht, zwischen Marx
und Nietzsche gibt es kaum etwas Verbindendes. Aber ein Punkt ist schon vorhanden,
der Parallelen zwischen ihnen aufzeigt: Marx wie Nietzsche schufen Lehren, die
religiösen Charakter haben. Der Marxismus ist eine Ersatzreligion, der
bis zu ihrem Zusammenbruch Millionen Menschen auf der ganzen Welt huldigten
(und auch heute teilweise noch huldigen). Der religiöse Grund der Philosophie
Nietzsches ist bis heute nur in Ansätzen sichtbar geworden. Wir, die Anhänger
der Gemeinschaft, wollen das ändern.

Die neue Lehre wird durch „stilles“ Wirken „Einzelner“,
„Weniger“ vorbereitet; in der ersten Phase ist sie selbst ein Mysterium,
in ihrer ganzen Tiefe nur wenigen Auserwählten bekannt. Mit der Ausbreitung
der neuen Lehre, der Religion der ewigen Wiederkehr, beginnt das hier so genannte
„zweite Lebensalter“ der Welt, das dann in den „Zarathustra-Hasar
von tausend Jahren“ mündet. Träger dieses Weltalters wird die
neue Rasse sein, die sich auf dem Boden alter griechischer Ideale neu verbindet:

„Worin bestand dieses Ideal denn? In einer religiös fundierten kulturellen
Gemeinschaft, deren Bekräftigung im ‚Fest‘ geschah, als dessen ‚Kronen‘
‚Thebe (…) und Athen‘ genannt werden: Orte der dem Dionysos und der Demeter
heiligen Orgien also, die beide gesamthellenische Bedeutsamkeit erwarben.
Dass alles, die ganze Natur ‚wahrlich zu einzigem Brauche vor Alters gebaut‘
worden sei, lässt sich in diesem Zusammenhang wörtlich verstehen,
wenn wir Kultur als Ingebrauchnahme (cultura) einer natürlichen Lebensumwelt
verstehen, wodurch das Ungebaute in ein Gebäude, z. B. einen Festsaal mit
Boden und Tischen und Tempeln und nektargefüllten Gefäßen umgewandelt
wird. Das entscheidende Merkmal der hellenistischen Identität ist aber
die Konstitution der (Kultur-) Gemeinschaft, das überwältigende Zusammengehörigkeitsgefühl,
in dessen Artikulation sie den tiefen Beweggrund des Gedankens der neuen Mythologie
wiedererkennen …“

So, wie die alte Gemeinschaft der Griechen in der kulturellen (und kultischen)
Gemeinschaft wurzelt, wird auch die neue Gemeinschaft hier ihre Wurzeln haben.
Der sie überwölbende, alles vereinigende Bau wird die neue, von Nietzsche-Zarathustra
verkündete Lehre sein; auf diesem Boden religiöser Einheit wächst
die neue Kultur, die dann wie eine eherne Klammer die neue Rasse zusammenhält
und prägt, bis sie mächtig und stark genug ist, Humus für den
Übermenschen zu sein. Das ist die Verheißung, die in der neuen Lehre
liegt, das ist das Ziel, das über einen langen Zeitraum hinweg angestrebt
werden muss, das ist die große Aufgabe, die es zu erbringen gilt!

In der Postmoderne vollendet sich der von Nietzsche so genannte „Sklavenaufstand“.
Der Sklavenaufstand ist nichts anderes als die Objektivation des Nihilismus,
sein in konkrete Politik übersetztes Erscheinungsbild.

„Was die Priester also nach oben brachte, war, bei Lichte besehn, ein
Sklavenaufstand, was die Prinzipien der Moderne durchgesetzt hat, ein Sklavenaufstand,
was die Kontinuität zwischen beiden ausmacht, das Oben-Sein der Sklaven,
von solchen, die ihren Machtwillen in Idealen, Abstraktionen unkenntlich und
dauerhaft gemacht haben.“

In
unserer heutigen Gesellschaft mit ihren Konsumzwängen, mit ihrer „Oberflächen-Beliebigkeit“,
mit ihrer Inhaltsleere, was Ideale anbelangt (und Götter sind Ideale!):
all das hat den Nihilismus hochgebracht, und „Nietzsche hatte dem ästhetisch
erneuerten Dionysos-Mythos die Überwindung des Nihilismus anvertraut“. Dieser Prozess, den Nietzsche initiiert hat, kommt nur langsam in Gang; der
große Fehler in der Vergangenheit war, dass man in Nietzsche in erster
Linie den Philosophen, kaum aber den Stifter einer neuen Religion sah. Genau
das aber ist er, und erst aus dieser Perspektive betrachtet gewinnt sein Werk
die in ihm ruhende wirkliche Kraft.

Für Nietzsche steht die Überwindung des Nihilismus im Vordergrund;
dass mit dieser Überwindung das gesamte dominierende System fallen wird,
war ihm klar, denn …

„In dieser Gesellschaft kommen die Menschen tendenziell nur noch als
Objekte und Büttel einer überdimensionalen Macht vor, die sich nirgends
mehr in einem Menschen inkarniert, der die Zügel in der Hand hätte,
der von sich sagen könnte: ‚Dies alles ist mein Werk‘, dessen Machtfülle
und Künstleringenium einen ästhetischen Glanz auf das würfe,
was er angerichtet hat, weil es wenigstens zur Verherrlichung seiner Stärke
und Wohlgeratenheit dient, also überhaupt für etwas gut ist. Nein,
nicht einmal das; sondern Sklaverei ohne wirkliche Herrn. Wer unten ist, ist
Lohnsklave. Wer nach oben will, ist Sklave seiner Karriere.“

Klossowski führt dazu aus:

„Die ‚Herrschenden‘ (Industrielle, Militärs, Bankiers, Kaufleute,
Beamte etc.) sind aufgrund ihrer verschiedenen Arbeiten in Wirklichkeit nur
Sklaven, die ohne ihr Wissen für die geheimen Herren arbeiten, das heißt
für die kontemplative Kaste, die unaufhörlich ‚Werte‘ und den
Sinn des Lebens schafft.
Aber dabei handelt es sich nur um eine Vorbereitungsphase: was gegenwärtig
nur im Geheimen existiert, wird eines Tages manifest werden, wenn das leuchtende
Zeichen des Circulus vitiosus am Firmament des individuellen Bewusstseins das
Dasein im Glanz seiner absoluten Sinnlosigkeit und Unsinnigkeit erstrahlen lässt
und es ausschließlich diesen Herren zukommt, nicht nur den Sinn, sondern
auch den Lauf der Dinge zu bestimmen.“

Man mag Klossowski zwar zustimmen, wenn er ausführt, dass die „Herrschenden“
in Wirklichkeit nur Sklaven sind; problematisch aber werden seine Ausführungen
hinsichtlich der „geheimen Herren“, der „kontemplativen Kaste“
– denn diese existiert eben noch nicht. Genau das ist ja die Crux dieser Zeit:
Weder Herr noch Knecht, weder Oben noch Unten, keine Hierarchien mehr, keine
verbindlichen Werte. Der Prozess der Atomisierung der Gesellschaft ist in vollem
Gange, und damit atomisieren sich auch die Wertvorstellungen. Der immer raschere
Wandel, dem sie unterworfen sind, bedingt ihre immer raschere Auflösung,
so dass sie in der totalen Unverbindlichkeit enden. Werte aber setzen Verbindlichkeit
und bedürfen der Dauer; sie verleihen einer Gesellschaft Dauerhaftigkeit.
Wie soll nun in einer solchen Gesellschaft eine kontemplative, noch dazu geheime
Kaste existieren? Nein, Klossowski setzt eine Kopfgeburt in die Welt, die mit
der herrschenden Realität nichts gemein hat.

Ebenso steht mit seiner Definition des Circulus vitiosus. Nietzsche liegt es
doch gerade daran, der absoluten Sinnlosigkeit und Unsinnigkeit des Seins einen
neuen Sinn zu geben; die Sinnlosigkeit des Daseins darf den Menschen in ihrer
absoluten Totalität gar nicht zu Bewusstsein kommen, weil sie diesen, seinen
tiefsten Gedanken und seinen schrecklichsten, wie er des öfteren ausführt,
nicht aushielten. Also schuf Nietzsche die Lehre der ewigen Wiederkehr, die
Religion der Religionen, um wieder Sinn in das Dasein zu bringen. Sinngebung
durch Zielsetzung, das ist seine Vision. Und erst das Hervortreten der neuen,
von ihm geschaffenen Lehre wird die kontemplative Kaste, die ja nichts anderes
ist als die von Nietzsche herbeigesehnte neue Rasse, schaffen.

Klossowskis Ausführungen verbleiben im Nebel und erwecken den Eindruck,
als existierten die „geheimen Herren“ bereits, ja, als zählte
er dazu (denn wie kann er sonst von ihnen und der kontemplativen Kaste wissen,
da sie doch geheim sind). Aber es gibt sie nicht, denn nichts deutet darauf
hin, dass Kräfte am Werke sind, die die Postmoderne (oder moderne Postmoderne
oder postmoderne Postmoderne) zu überwinden trachten. Denn nur die Überwindung
der Postmoderne ist auch die Überwindung des heute dominierenden Wirtschaftssystems:

Beide Autoren führen ihre Theorie auf dem Wege einer erzählenden
Rekonstruktion der Geschichte der abendländischen Vernunft durch. Heidegger,
der die Vernunft am Leitfaden der Subjektphilosophie als Selbstbewusstsein auslegt,
begreift den Nihilismus als Ausdruck einer totalitär entfesselten technischen
Weltbemächtigung. Darin soll sich das Verhängnis eines metaphysischen
Denkens vollenden, welches von der Frage nach dem Sein in Gang gesetzt worden
ist und gleichwohl dieses Wesentliche vor dem Ganzen des reifizierten Seienden
immer weiter aus dem Auge verliert. Bataille, der die Vernunft am Leitfaden
der Praxisphilosophie als Arbeit auslegt, begreift den Nihilismus als Folge
eines totalitär verselbständigten Akkumulationszwangs. Darin verändert
sich das Verhältnis einer Überschussproduktion, die zunächst
noch der festlich-souveränen Entäußerung dient, die dann aber
immer mehr Ressourcen für den Zweck der Produktionssteigerung verbraucht,
Verschwendung in Konsum verwandelt und der schöpferisch-hingebungsvollen
Souveränität den Boden entzieht.

Für
mich ist klar ersichtlich, dass beide, Heidegger wie Bataille, in diesem Punkt
wesentlich übereinstimmen, wenn auch die Perspektiven unterschiedlich sind,
von denen aus sie ihre Betrachtungen anstellen. Heideggers Feststellung ist
zutreffend, daß der Nihilismus nicht unwesentlich auf die „totalitär
entfesselte technische Weltbemächtigung“ zurückgeführt werden
kann; durch die damit einhergehende Zerstörung der Umwelt, durch diese
Art der Weltbemächtigung findet seine Feststellung ihre zusätzliche
Bestätigung. Bataille wiederum geht davon aus, dass der „totalitär
verselbständigte Akkumulationszwang“, der in „Verschwendung durch
Konsum“ mündet, Schuld am Nihilismus trägt. Zuletzt gilt es,
die Perspektiven von Heidegger und Bataille zu verschmelzen, um zu einer stimmigen
Aussage zu gelangen. Der Nihilismus der heutigen Zeit ist das Ergebnis sowohl
kapitalistischer Verschwendung wie auch der „entfesselten technischen Weltbemächtigung“.
Nur die Überwindung dieser Entwicklung eröffnet uns wieder eine dionysische
Weltsicht, wie Nietzsche sie sich vorstellte.

Ich habe bislang bewusst nur über Nietzsche gesprochen, ihn selbst aber
kaum zitiert, weil ich denke, dass so deutlich wird, wie präsent er auch
heute ist, ohne dass man es unbedingt bemerkt. Er ist, nach dem Zusammenbruch
des Marxismus, der letzte Denker unserer Epoche, der Antworten gibt auf die
Fragen, wie man aus den globalen Krisen entrinnen kann. Dass es sich dabei auch
um religiös interpretierbare Antworten handelt, ist schon deshalb nicht
verwunderlich, weil nur ein solches Lehrsystem den Halt bietet, den die Menschen
heute dringend benötigen; wie in der Vergangenheit aus Buddhismus, Judaismus,
Christentum und Islam, so wird in der Zukunft aus der Wiederkunftslehre das
Wertsystem geschaffen, das die Menschen lenkt. In diesem Zusammenhang darf man
nicht vergessen, dass auch der Marxismus Religion war – trotz oder gerade wegen
Marx’ens Feststellung, Religion sei „Opium für das Volk“; aber
das Volk bedarf solcher Rauschmittel, und so entwickelte sich auch der – real
existierende – Marxismus zu einer Lehre mit stark religiösen Zügen.
Allein die fortdauernde Verehrung Lenins in seinem Mausoleum zeugt davon.

Der Marxismus ist auch ein Beispiel dafür, dass sich Politik ebenso wenig
von der Religion trennen lässt, wie Religion von Politik (was besonders
deutlich im Islam zutage tritt, der diese Trennung gar nicht kennt). Deshalb
kann sich eine Religion, wenn sie wirklich etwas bewirken will, politischer
Wirkung und Einflussnahme im Grunde gar nicht enthalten. Etwas ganz anderes
ist die Trennung von Kirche und Staat. Solange die katholische Kirche mächtig
und fast allein herrschend war, gab es die Frage nach einer Trennung der Gewalten
nicht; erst der Zerfall der katholischen Alleinherrschaft, beschleunigt durch
Reformation und Aufklärung, führten zu dieser Scheidung. Dass es überhaupt
dazu kam, zeigt an, dass der christliche Glaube stark an Kraft eingebüßt
hat.

Es gibt keine Verankerung des Glaubens mehr bei den Menschen; heute sind die
gläubigen Christen, ob nun katholischer oder protestantischer Konfession,
bereits in der Minderheit. Nur der Umstand, dass es in Europa keine wirkliche
Konkurrenz gibt, lässt es noch als christlich erscheinen. Denn der Islam
ist nicht die Religion der Zukunft, wie das manche Fundamentalisten herbeisehnen
und -bomben möchten: die Religion der Zukunft ist die Lehre von der ewigen
Wiederkehr, wie sie Nietzsche-Zarathustra verkündet, und in ihr leben die
dionysischen Prinzipien, wie sie bereits im antiken Griechenland verehrt wurden.

Und warum, kann man fragen, wäre das nicht möglich? Schließlich
gelang auch der Renaissance – nach fast 1000 Jahren! – eine partielle Wiederbelebung
der Antike; und auch damals waren die Menschen bereits durch die lange Zeit
der Christianisierung geschwächt. Es mag sich heute alles als viel komplizierter
darstellen; aber in Wirklichkeit hat sich seit den Tagen der Renaissance nicht
viel geändert. Auch damals war der Katholizismus auf einem historischen
Tiefpunkt angelangt, auch damals drängte alles nach neuen Werten und einem
Aufbruch zu neuen Ufern.

Da war die Wirtschaft, die sich von den Fesseln und Bevormundungen der Kirche
befreite, da war der Fernhandel, der einen enormen Aufschwung nahm und neues
Gedankengut nach Europa brachte, da war das Manufakturwesen, das vollkommen
neue Produktionsformen entwickelte (Formen übrigens, die bereits in der
Antike bekannt waren, dann aber in Vergessenheit gerieten). Vielleicht hätte
der Katholizismus bereits damals sein Ende gefunden, wäre es nicht in Deutschland
zur Reformation gekommen, in deren Verlauf er sich teilweise regenerierte. Auch
das beschreibt Nietzsche:

„Hier tut es Not, eine für Deutschland noch hundertmal peinlichere
Erinnerung zu berühren. Die Deutschen haben Europa um die letzte große
Kultur-Ernte gebracht, die es für Europa heimzubringen gab – um die der
Renaissance. Versteht man endlich, will man verstehen, was die Renaissance war?
Die Umwertung der christlichen Werte, der Versuch, mit allen Mitteln, mit allen
Instinkten, mit allem Genie unternommen, die Gegen-Werte, die vornehmen Werte
zum Sieg zu bringen … Es gab bisher nur diesen großen Krieg, es gab
bisher keine entscheidendere Fragestellung als die der Renaissance – meine Frage
ist ihre Frage -: es gab auch nie eine grundsätzlichere, eine andere, eine
strengere in ganzer Front und auf das Zentrum losgeführte Form des Angriffs!

An der entscheidenden Stelle, am Sitz des Christentums selbst angreifen,
hier die vornehmen Werte auf den Thron bringen, will sagen in die Instinkte,
in die untersten Bedürfnisse und Begierden der da selbst Sitzenden hineinbringen
… Ich sehe eine Möglichkeit vor mir von einem vollkommen überirdischen
Zauber und Farbenreiz – es scheint mir, dass sie in allen Schaudern raffinierter
Schönheit erglänzt, dass eine Kunst in ihr am Werke ist, so göttlich,
so teufelsmäßig-göttlich, dass man Jahrtausende umsonst nach
einer zweiten solchen Möglichkeit durchsucht; ich sehe ein Schauspiel,
so sinnreich, so wunderbar paradox zugleich, dass alle Gottheiten des Olymps
einen Anlass zu einem unsterblichen Gelächter gehabt hätten – Cesare
Borgia als Papst … Versteht man mich? … Wohlan, das wäre ein Sieg gewesen,
nach dem ich heute allein verlange -: damit war das Christentum abgeschafft!

Was geschah?

„Ein
deutscher Mönch, Luther, kam nach Rom. Dieser Mönch, mit allen rachsüchtigen
Instinkten eines verunglückten Priesters im Leibe, empörte sich in
Rom gegen die Renaissance … Statt mit tiefster Dankbarkeit das Ungeheure zu
verstehen, das da geschehen war, die Überwindung des Christentums an seinem
Sitz -, verstand sein Hass aus diesem Schauspiel nur eine Nahrung zu ziehen.
Ein religiöser Mensch denkt nur an sich. – Luther sah die Verderbnis des
Papsttums, während gerade das Gegenteil mit Händen zu greifen war:
die alte Verderbnis, das pecatum originale, das Christentum saß nicht
mehr auf dem Stuhl des Papstes! Sondern das Leben! Sondern der Triumph des Lebens!
Sondern das große Ja zu allen hohen, schönen, verwegenen Dingen!
… Und Luther stellte die Kirche wieder her: er griff sie an … Die Renaissance
– ein Ereignis ohne Sinn, ein großes Umsonst! Ah diese Deutschen, was
sie uns schon gekostet haben! Umsonst – das war immer das Werk der Deutschen.
– Die Reformation; Leibniz; Kant und die sogenannte deutsche Philosophie; die
„Freiheits“-Kriege; das Reich – jedes Mal ein Umsonst für etwas,
das bereits da war, für etwas Unwiederbringliches …“

Wir treiben nun ein großes Werk voran, und wir arbeiten dafür, dass
sich nicht wieder einer dieser dann großen Deutschen berufen fühlt,
es zu zerstören; denn es ist ja ein Faktum, dass gerade wir Deutschen das
größte Geschick darin besitzen, den Lauf der Geschichte negativ zu
beeinflussen. Das eigentliche Wunder dabei ist nur, dass die Geschichte den
Deutschen bislang stets eine neue Chance einräumte. Wollen wir hoffen,
dass wir auch endlich einmal in der Lage sind, diese Chance zu nutzen!

Es geht darum, die Kräfte zu formen, die dann stark genug sind, die Postmoderne
zu überwinden. Wir wollen das Christentum endgültig als antiquierte
Religion aus dem Bewusstsein der Menschen tilgen und neue Tafeln setzen; wir
werden die Lehre der ewigen Wiederkehr in die Herzen der Menschen senken und
eine neue Gesellschaft schaffen, die in sich und aus sich heraus die Kräfte
entfalten wird, um den Nihilismus zu überwinden. Dann erst liegt die Zukunft
vor uns, und wir werden sie frei gestalten. Ein langer, harter Weg liegt vor
uns, und man darf sich nicht scheuen, auch die Themen aufzugreifen, die bislang
als Tabu behandelt wurden:

„Die Moral der Züchtung und die Moral der Zähmung sind in
den Mitteln sich durchzusetzen, vollkommen einander würdig: wir dürfen
als obersten Satz hinstellen, dass, um Moral zu machen, man den unbedingten
Willen zum Gegenteil haben muss. Dies ist das große, das unheimliche Problem,
dem ich am längsten nachgegangen bin: die Psychologie der ‚Verbesserer‘
der Menschheit. Eine kleine und im Grunde bescheidene Tatsache, die der sogenannten
pia fraus, gab mir den ersten Zugang zu diesem Problem: die pia fraus, das Erbgut
aller Philosophen und Priester, die die Menschheit ‚verbesserten‘. Weder
Manu, noch Plato, noch Konfuzius, noch die jüdischen und christlichen Lehrer
haben je an ihrem Recht zur Lüge gezweifelt. Sie haben an ganz andren Rechten
nicht gezweifelt … In Formel ausgedrückt dürfte man sagen: alle
Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, waren
von Grund aus unmoralisch. -“

So kommt es, dass weder Staat noch Kirche im Grunde „moralisch“ sind;
zur Moral zwingen sie nur die Bürger und die Gläubigen (die ja dieselben
sind). Wie könnte es anders auch sein? Da weder Kirche noch Staat es zulassen
können, dass ihre Anhänger ebenso unmoralisch agieren wie sie selber,
was ja ihre Existenz ernsthaft gefährden würde, muss man ihnen das
schlechte Gewissen einpflanzen. Während also der einfache Gläubige
unter der Sünde leidet, sieht der Kleriker darin ein gottgefälliges
Werk, wenn es nur der Kirche nutzt. Und ebenso verhält es sich beim Staat.
Er ist eine gänzlich amoralische Institution, wenn es um den Erhalt seiner
Macht, seiner Existenz, seiner „Ordnung der Dinge“ geht; aber wehe,
der Bürger würde sich erdreisten, sich ebenso skrupellos zu benehmen:
dann ist er ein Verbrecher, ein Mörder, ein gewissenloses Subjekt. Das
hat nun wenig mit Doppelmoral zu tun, jedoch viel mit dem unbedingten Willen
zur Macht:

„Der Wert einer Sache liegt mitunter nicht in dem, was man mit ihr erreicht,
sondern in dem, was man für sie bezahlt – und was sie uns kostet. Ich gebe
ein Beispiel. Die liberalen Institutionen hören alsbald auf, liberal zu
sein, sobald sie erreicht sind: es gibt später keinen ärgeren und
gründlicheren Schädiger der Freiheit, als liberale Institutionen.
Man weiß ja, was sie zuwege bringen: sie unterminieren den Willen zur
Macht, sie sind die zur Moral erhobene Nivellierung von Berg und Tal, sie machen
klein, feige und genüsslich – mit ihnen triumphiert jedes Mal das Herdentier.
Liberalismus: auf deutsch Herden-Vertierung … Dieselben Institutionen bringen,
solange sie noch erkämpft werden, ganz andere Wirkungen hervor; sie fördern
dann in der Tat die Freiheit auf eine mächtige Weise. Genauer zugesehen,
ist es der Krieg, der diese Wirkung hervorbringt, der Krieg um liberale Institutionen,
der als Krieg die illiberalen Instinkte dauern lässt. Und der Krieg erzieht
zur Freiheit.

Denn was ist Freiheit? Dass man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat.
Dass man die Distanz, die uns abtrennt, festhält. Dass man gegen Mühsal,
Härte, Entbehrung, selbst gegen das Leben gleichgültiger wird. Dass
man bereit ist, seiner Sache Menschen zu opfern, sich selbst nicht abgerechnet.
Freiheit bedeutet, dass die männlichen, die kriegs- und siegsfrohen Instinkte
die Herrschaft haben über andere Instinkte, zum Beispiel über die
des ‚Glücks‘. Der freigewordene Mensch, um wie viel mehr der freigewordene
Geist, tritt mit Füßen auf die verächtliche Art von Wohlbefinden,
von dem Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andre Demokraten
träumen.

Der freie Mensch ist Krieger. – Wonach misst sich die Freiheit, bei Einzelnen
wie bei Völkern? Nach dem Widerstand, der überwunden werden muss,
nach der Mühe, die es kostet, oben zu bleiben. Den höchsten Typus
freier Menschen hätte man dort zu suchen, wo beständig der höchste
Widerstand überwunden wird: fünf Schritte weit von der Tyrannei, dicht
an der Schwelle der Gefahr der Knechtschaft.

Dies ist psychologisch wahr, wenn man hier unter den ‚Tyrannen‘ unerbittliche
und furchtbare Instinkte begreift, die das Maximum von Autorität und Zucht
gegen sich herausfordern – schönster Typus Julius Cäsar -; dies ist
auch politisch wahr, man mache nur einen Gang durch die Geschichte. Die Völker,
die was wert waren, wert wurden, wurden dies nie unter liberalen Institutionen:
die große Gefahr machte etwas aus ihnen, das Ehrfurcht verdient, die Gefahr,
die uns unsre Hilfsmittel, unsere Tugenden, unsere Wehr und Waffen, unseren
Geist erst kennen lehrt – die uns zwingt, stark zu sein … Erster Grundsatz:
man muss es nötig haben, stark zu sein: sonst wird man’s nie. – Jene großen
Treibhäuser für starke, für die stärkste Art Mensch, die
es bisher gegeben hat, die aristokratischen Gemeinwesen in der Art von Rom und
Venedig verstanden Freiheit genau in dem Sinne, wie ich das Wort Freiheit verstehe:
als etwas, was man hat und nicht hat, das man will, das man erobert …“

Die „großen Treibhäuser“ sind im Mahlstrom der Geschichte untergegangen; deshalb
ist es die erste Pflicht unserer Gemeinschaft, neue Treibhäuser zu errichten,
in denen Menschen heranwachsen können, die stark genug sind, die Lehre der ewigen
Wiederkehr zu verbreiten, die Krieger sind von der Art, wie Nietzsche sie sich
vorgestellt hat. Diese Menschen, die den Kern der neuen Rasse bilden, werden
es auch sein, die das System der Postmoderne, also den modernen Nihilismus,
überwinden. Diese Überwindung durch die Religion der Religionen ist zugleich
der entscheidende Aufbruch der Menschheit hin zum nächsten Quantensprung seiner
evolutionären Entwicklung, hin zum Übermenschen!

Autor: W.D. Kaufmann

Philognosie Team