Facetten des Unendlichen – Victor Hugo als Philosoph

Alfred de Musset (1810-1857) hielt Victor-Marie Hugo (1802-1885) „‚vielleicht'“ für einen großen Mann, doch für keinen Dichter. André Gide (1869-1951) hielt ihn für den größten französischen Dichter, setzte aber „‚hélas'“ (ach, leider, o weh!) hinzu (Rademacher 12) und schrieb über Hugos Gedichte: „‚Wollte man allerdings versuchen, aus dieser ungeheuren Masse von Versen eine Philosophie herauszuziehen – es wäre verlorene Liebesmüh'“ (Laaths 590).

Bei Hugos beiden bekanntesten Romanen ist diese Mühe nicht vergeblich.

1. Notre-Dame de Paris (1831)

Trotz umfangreicher Quellenstudien (König Ludwig XI. und der Dichter Pierre Gringoire sind historische Persönlichkeiten) bezeichnete Hugo den Roman als „‚Werk der Einbildungskraft, der schöpferischen Phantasie'“ (zit. n. Lücke 100).

Er wollte die mittelalterlichen Kathedralen vor der Zerstörung durch Modernisierung bewahren, das mittelalterliche Rechtswesen kritisieren, die Despotie anklagen und auf das Schicksal aller Leidenden (der Armen, Obdachlosen, Kranken, Behinderten) und Kriminellen aufmerksam machen – ohne Anspruch auf Historizität.

Hugo beschreibt im Roman die leidenschaftliche Liebe als Baum: „sie treibt von selbst, schlägt ihre Wurzeln tief in unser ganzes Wesen und grünt noch oft auf einem gebrochenen Herzen weiter.“ Sie ist „desto zäher, je blinder sie ist. Sie ist niemals beständiger, als wenn sie jeder Vernunft entbehrt“ (S. 437).

2. Les Misérables (1862)

In dem in der deutschen Übersetzung 1516 Seiten umfassenden Werk sind die Sträflinge und Kriminellen, die alleinerziehenden Mütter, die unehelichen Kinder und Waisen, die Soldaten, die Prostituierten, die Bernhardinerinnen und die Pariser Straßenjungen die „Elenden“.

Im Gegensatz zu Notre-Dame de Paris ist in Les Misérables vieles nach historischen Vorbildern gestaltet: Pierre Maurin war das Modell für Jean Valjean, Bischof Miollis für Myriel, eine Prostituierte für Fantine, Hugos Tochter Adèle und andere Kinder für Cosette, der Polizeipräfekt Vidocq für Javert, Hugos Vater für Oberst Pontmercy, Hugo selbst für dessen Sohn Marius, die Klostererziehung von Hugos Geliebter Juliette Drouets für das Bernhardinerinnen-Kloster, Hugos Begegnungen mit Pariser Armen und Sträflingen für die Familie Thénardier, Hugos Liebe zu Adèle Foucher für die Liebe zwischen Marius und Cosette.

Fantine und CosetteDie Handlung der ersten beiden Teile ist schnell erzählt:

Der Galeerensträfling Jean Valjean hat wegen eines geraubten Brotes und mehrerer Fluchtversuche 19 Jahre im Bagno verbracht. (Der Name „Bad“ rührt von dem Sklavengefängnis in Konstantinopel bei den Serailbädern her. Gemeint sind die Strafanstalten in Toulon, Brest und Rochefort, in denen die Sklaverei bei der königlichen französischen Marine durch Zwangsarbeit ersetzt wurde.)

Durch die Begegnung mit Bischof Myriel findet Valjean zum „Morgenlicht der Tugend“, durch die Rettung der achtjährigen Waise Cosette, der unehelichen Tochter von Fantine, „schimmerte für ihn das Morgenlicht der Liebe auf“ (I 476). Die Arbeit im Bernhardinerinnen-Kloster Petit-Picpus als Gärtner macht ihn demütig. „Sein Herz zerschmolz in Dankbarkeit, und seine Liebe wurde noch größer“ (I 616).

Der Umfang des Romans wird im ersten Band aufgebläht durch ganze Abhandlungen über das christliche Leben des Bischofs, über die Schlacht bei Waterloo, über das Kloster Petit-Picpus und über eine philosophische Klosterkritik.

Den Schlüssel zu seinem Roman liefert Hugo mit folgendem Satz: „Dieses Buch ist ein Drama, in dem das Unendliche die Hauptrolle spielt“ (I 551). Das „Unendliche“ ist Hugos philosophischer Begriff für Gott: „Was ist das Ideal? Es ist Gott.

Ideal, Absolutes, Vollkommenheit und Unendliches bezeichnen ein und dasselbe“ (I 562).

Wenn man den Roman vor diesem Hintergrund liest, merkt man schnell, daß es um Philosophie geht. Schon Hugos Widerlegung des Atheismus ist rein erkenntnistheoretisch begründet: „Einen Sinn, der uns fehlt, zur Quelle der Wahrheit machen entspricht der kühnen Sicherheit des Blinden“ (I 560).

Auch den Nihilismus lehnt Hugo ab: „Mit dem Nihilismus ist keine Diskussion möglich, denn der konsequente Nihilist bezweifelt, daß sein Gesprächspartner existiert, und ist sich nicht ganz sicher, ob er selbst überhaupt existiert.

Unter seinem Gesichtspunkt kann es sein, daß er selber für sich selbst nur eine ‚Schöpfung seines Geistes‘ ist.

Bloß merkt er nicht, daß er alles, was er geleugnet hat, in Bausch und Bogen gelten läßt, wenn er nur das Wort ‚Geist‘ ausspricht“ (I 561).

Was erwartet Hugo von der Philosophie? Sie „muß eine tätige Kraft sein, sie muß danach trachten, den Menschen zu bessern. Sokrates muß in Adam eingehen und Mark Aurel hervorbringen, mit anderen Worten, aus dem Menschen der Glückseligkeit den Menschen der Weisheit hervorgehen lassen“ (I 561).

Vom bloßen Genießen hält Hugo wenig: „Das Tier genießt. Denken ist der eigentliche Triumph der Seele. Den Menschen das Denken anbieten, damit sie ihren Durst löschen, ihnen allen mit dem Zaubertrank den Gottesbegriff eingeben, das Gewissen in ihnen mit dem Wissen verbrüdern und sie durch diese geheimnisvolle Gegenüberstellung gerecht machen, solcherart ist die Aufgabe der wahren Philosophie. Die Moral bringt die Wahrheit zum Aufblühen. Nachdenken führt zum Handeln. […] Die Weisheit ist eine heilige Kommunion. Unter dieser Bedingung hört sie auf, eine unfruchtbare Liebe zur Wissenschaft zu sein, um das einzige und unfehlbare Mittel zu werden, das die Menschheit zusammenführt, und aus der Philosophie wird Religion“ (I 562).

Die etablierten Religionen lehnt Hugo ab: „Für die Religion sind wir gegen die Religionen“ (I 564). In der Religion Hugos ist der „Fortschritt […] das Ziel, das Ideal das Vorbild“ (I 562).

Kurz: Hugo propagiert im vorliegenden Roman wie Platon die Philosophie als Streben nach Gott. So heißt es in den Nomoi („Gesetze“): „Eigentliches Maß aller Dinge dürfte für uns also die Gottheit sein […]. Wer also einem Wesen, wie es die Gottheit ist, wohlgefällig werden will, der muß mit allen Kräften bestrebt sein auch selbst ihm ähnlich zu werden. Und nach diesem Grundsatz ist denn der besonnene Mensch mit Gott befreundet, denn er ist ihm ähnlich, wogegen der der Besonnenheit Bare ihm unähnlich ist und im Widerstreit mit ihm und ohne Gemeinschaft mit ihm ist“ (716cd).

Valjeans Gegenspieler ist der Polizist Javert. Hugo charakterisiert ihn als bizarres „Gemisch aus einem Römer, einem Spartaner, einem Mönch und einem Korporal“, als „diesen einer Lüge unfähigen Spion“, als „jungfräulichen Spitzel“ (I 228), aufrichtig, klar, redlich, uneigennützig, streng, ungesellig, gewalttätig, autoritätshörig, geduldig, demütig und bescheiden.

MariusIm dritten Teil charakterisiert Hugo seinen Roman als Bericht über „die Geschichte von vielen Geistern unserer Zeit“ (II 65). Historische Forschung und Handlung laufen nebeneinander her: Thénardier, Cosettes früherer Ziehvater, stellt Valjean mit Hilfe von Pariser Banditen eine Falle, doch Valjean entkommt. Javert nimmt auf einen Tip von Marius hin alle fest. Marius ist der Sohn von Georges Pontmercy, den Thénardier nach der Schlacht bei Waterloo bestohlen, dem er aber auch das Leben gerettet hat.

Erst jetzt wird das harte Urteil gegen Valjean verständlich: Die Marine brauchte Sträflinge als Ruderer, für die die Richter sorgten: „Ein Mann nahm vor einer Prozession den Hut nicht ab, eine hugenottische Haltung. Er wurde auf die Galeeren geschickt. Auf der Straße begegnete man einem Kind. Sofern es fünfzehn Jahre alt war und nicht wußte, wo es die Nacht zubringen sollte, wurde es auf die Galeeren geschickt“ (II 15).

Was Hugo als „ultra“ bezeichnet, nennt man heute Fanatismus oder Massenpsychose: „Das heißt so sehr Parteigänger der Dinge sein, daß man ihr Feind wird. Das heißt so sehr dafür sein, daß man dagegen ist“ (II 56).

Die Entstehung der Verliebtheit des Marius in Cosette schildert Hugo als psychisches Überwältigtwerden: „Plötzlich fühlt man sich erfaßt. […] Du wirst ganz und gar hineingezogen. Ein Zusammenspiel geheimnisvoller Kräfte bemächtigt sich deiner. […] Kein Mensch kann mehr helfen. […] Und je nachdem, ob du an ein boshaftes Geschöpf oder ein edles Herz gerätst, kommst du aus diesem schrecklichen Mechanismus durch die Schande entstellt oder die Leidenschaft verklärt heraus“ (II 149). Marius durchläuft die Stadien der Schüchternheit, Verblendung und Tollheit.

Über die Psyche der Verbrecher bemerkt Hugo: „Die ehrlosen Geschöpfe fühlen sich leicht verletzt, die Ungeheuer sind empfindlich“ (II 235). Das geschönte Selbstbild Thénardiers, der zum Banditen verkommen ist, wird durch seine Prahlerei aufrechterhalten: „‚Ich habe den General auf dem Rücken durch den Kugelregen getragen'“, plustert Thénardier sich auf (II 236). Das Kidnappen und Erpressen von Valjean ist eines der „‚Geschäfte'“ der Verbrecher (II 239), Thénardier belehrt Valjean im Brustton der Überzeugung: „‚Sie sehen, böse Absichten haben wir nicht'“ (II 247). Er will nur die „‚Kleinigkeit von zweihunderttausend Francs'“ (II 246). Falls Valjean nicht zahlt, „‚wird mein Kamerad'“ (Komplize!) Cosette „‚die Daumen umdrehen. So ist das'“ (II 247).

Idyll Rue Plumet und Epopöe Rue Saint-DenisIm vierten Teil, der mit einer Schilderung der ersten beiden Jahre nach der Revolution 1830 beginnt, findet Eponine, die ältere Tochter von Thénardier, die Adresse von Cosette heraus und bringt Marius hin. Valjean hat nach fünf Jahren mit Cosette das Kloster verlassen und ist in die Rue Plumet gezogen.

Seinen Glauben an die Macht des Schicksals formuliert Hugo so: „Gott tut den Menschen seinen Willen in den Ereignissen kund, einem unverständlichen Text, der in einer geheimnisvollen Sprache geschrieben ist“ (II 279). Und: „Wie groß unser Egoismus und unser Groll auch sein mögen, die Ereignisse, bei denen man das Eingreifen von jemandem ahnt, der höher steht als der Mensch, sind auf geheimnisvolle Weise ehrfurchtgebietend“ (II 266).

Auch Marius und Cosette werden vom Schicksal zusammengeführt. Hugos psychologische Erkenntnisse: „Das erste Symptom einer wahren Liebe ist bei einem jungen Mann Schüchternheit, bei einem jungen Mädchen Verwegenheit. […] Die beiden Geschlechter wollen sich näherkommen und nehmen die Eigenschaften voneinander an“ (II 342).

Ein weiteres Kennzeichen der wahren Liebe ist laut Hugo die Verschwiegenheit der Liebenden. Bei der ersten Liebe verschmelzen zuerst die Seelen, die man mit geschlossenen Augen am besten sieht, dann die Körper. „Später wird der Körper lange vor der Seele und die Seele mitunter überhaupt nicht genommen“ (II 447).

Ein Stück Naturphilosophie: In der Natur sei nichts „wirklich klein“ (II 330). „Ein Schimmelpilz ist ein Siebengestirn aus Blumen, ein Nebelfleck ein Ameisenhaufen von Sternen“ (II 331). „Alles arbeitet an allem“ (II 330). Die Natur sei ein „phantastisches Räderwerk, dessen treibende Kraft die Mücke und dessen letztes Rad der Tierkreis ist“ (II 331f).

Einen breiten Raum nimmt die Schilderung des Aufstands 1832 in Paris ein. Eine der Barrikaden der Aufständischen wird in der Rue Saint-Denis errichtet. Javert wird von den Aufständischen als Polizeispitzel enttarnt und festgenommen, der Polizeiagent Cabuc wird erschossen, nachdem er einen Portier ermordet hat. Eponine opfert für Marius ihr Leben. Marius rettet Gavroche das Leben, schützt die Barrikade und wird zum Führer der Aufständischen ernannt.

Jean Valjean. Im fünften Teil faßt Hugo den Inhalt seines Romans so zusammen: Er beschreibe „den Weg des Bösen zum Guten, des Ungerechten zum Gerechten, des Falschen zum Wahren, der Nacht zum Tag, der Begierde zum Gewissen, der Fäulnis zum Leben; der Roheit zur Pflicht, der Hölle zum Himmel, des Nichts zu Gott. Der Ausgangspunkt ist das Irdische, das Ziel die Seele. Die Hydra am Anfang, der Engel am Ende“ (III 82).

Enjolras übernimmt wieder das Kommando. Valjean schließt sich den Aufständischen an und hilft, wo er kann, allerdings ohne zu töten. Er läßt Javert frei und rettet dem verwundeten Marius das Leben. Alle anderen werden getötet. Valjean läuft Javert nach seiner Flucht durch die Kanalisation direkt in die Arme, doch dieser läßt ihn frei und bringt sich um. Marius heiratet mit Zustimmung seines Großvaters Cosette, die von Valjean eine reiche Mitgift bekommen hat. Thénardier wandert mit Geld von Marius, den er mit seinem Wissen über Valjean vergeblich zu erpressen sucht, in die USA aus und wird Sklavenhändler. Valjean zerbricht an der Trennung von Cosette, die er sich dadurch selbst auferlegt hat, daß er Marius nicht die ganze Wahrheit über sich gesagt hat. Als Marius und Cosette ihn aufsuchen, ist es zu spät: Er stirbt, nachdem er Cosette noch den Namen ihrer Mutter mitgeteilt hat.

In der Auseinandersetzung mit Romankritik seines Freundes Alphonse-Marie-Louis Prat de Lamartine (1790-1869) formulierte Hugo sein Ziel „‚einer Gesellschaft ohne König, einer Menschheit ohne Grenzen, einer Religion ohne Bibel […]: Jeder Mensch ein Eigentümer und ein Herr seiner selbst. Darin besteht für mich die wahre soziale und politische Ökonomie'“ (zit. n. Lücke 360f).

© Gunthard Rudolf Heller, 2020

Literaturverzeichnis

HUGO, Victor: Der Glöckner von Notre-Dame, Übersetzung von Friedrich Bremer und Michaela Meßner, München 1994

  • Die Elenden, aus dem Französischen von Paul Wiegler und Wolfgang Günther, drei Bände, Berlin 51995

KINDLERS NEUES LITERATUR-LEXIKON, hg. v. Walter Jens, 21 Bände, München 1996

KLINGER, Edwin: Kleine Geschichte der französischen Literatur, Düsseldorf 1990

LAATHS, Erwin: Geschichte der Weltliteratur, München/Zürich 1953

LÜCKE, Theodor: Victor Hugo – Roman seines Lebens, Berlin 1979

MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, 25 Bände, Mannheim/Wien/Zürich 91980/81

PLATON: Sämtliche Dialoge Band VII: Gesetze, übersetzt und erläutert von Otto Apelt, Hamburg 1988

RADEMACHER, Jörg W.: Victor Hugo, München 2002

WILPERT, Gero von: dtv-Lexikon der Weltliteratur, vier Bände, München 1971

– (Hg.): Lexikon der Weltliteratur Band II – Hauptwerke der Weltliteratur in Charakteristiken und Kurzinterpretationen, Stuttgart 31993

Gunthard Heller