Erich Fromm: Empirische Untersuchungen zum Gesellschafts-Charakter

Unter „Gesellschaftscharakter“ verstand Erich Fromm (1900-1980) den „einer ganzen Gruppe gemeinsamen Charakter“ (III 245) oder genauer Charakterzüge, „welche den meisten Mitgliedern einer Klasse bzw. einer Gesellschaft gemeinsam sind“ (III 476).

Der Gesellschaftscharakter ist keine Entsprechung zum jeweils einmaligen individuellen Charakter, „sondern es handelt sich um […] ein Syndrom von Charakterzügen, das sich bei der Anpassung an die ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen entwickelt hat, die jener Gruppe gemeinsam sind“ (III 254). Er „erklärt, wie sich die allgemeine psychische Energie in die spezifische Form der psychischen Energie verwandelt, die die jeweilige Gesellschaft braucht, um richtig zu funktionieren“ (III 255).

Erich Fromm Gesellschaft

1. Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung (1980)

1930-38 war Fromm Leiter der sozialpsychologischen Abteilung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt. Schon 1929 hatte er im Rheinland mit einer Meinungsumfrage über die Lebensgewohnheiten, Einstellungen und das politische Verhalten von Arbeitern und Angestellten angefangen.

„Sie war die erste sozialpsychologische Feldforschung überhaupt, die mit der psychoanalytischen Einsicht Ernst machte, daß die in Parteibekenntnissen und Parteizugehörigkeit geäußerte politische Überzeugung von den unbewußten Motiven verschieden sein könne“ (Funk 67).

Fromms Mitarbeiter waren Anna Hartoch, Herta Herzog, Ernst Schachtel, Hilde Weiß und Paul F. Lazarsfeld. Sie verteilten 3300 Fragebögen, von denen 584 mehr oder weniger ausgefüllt zurückgegeben wurden.

Das Ergebnis der Auswertung der Antworten war, „daß gerade die in Parteien und Gewerkschaften erzogenen Arbeiter trotz ihrer revolutionären Bekenntnisse nicht jenen Widerstand gegen ein autoritäres und diktatorisches Regime verkörperten, den man ihnen gerne zuschrieb und von dem die Arbeiter selbst überzeugt waren“ (Funk 68).

1934 zog das Institut nach New York um. Als Max Horkheimer Fromms Kritik an Freud nicht mehr tolerierte und sich gegen die Veröffentlichung der Untersuchung stellte, kündigte Fromm seine lebenslängliche Anstellung. Er vermutete, daß Horkheimer seine Meinung über Freud zum Teil deshalb änderte, weil Theodor W. Adorno ihn beeinflußte. 1938 wurde Adorno offiziell Institutsmitglied. Eine sachliche Auseinandersetzung gab es nicht.

Erst 1980 veröffentlichte Wolfgang Bonß die Untersuchung im Einvernehmen mit Fromm. Die Übersetzung besorgte Bonß unter Mitarbeit von Cornelia Rülke und Rosemarie Thrul.

Fromms Ausgangspunkt war „die theoretische Annahme, daß Meinungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt vertreten werden, relativ unverläßlich sind, falls sich die Umstände drastisch verändern. […] Wir nahmen an, daß nur solche Meinungen starke Motivationen zum Handeln darstellen, die in der Charakterstruktur eines Menschen verwurzelt sind“. Solche Meinungen bezeichnete Fromm als „‚innerste Überzeugungen'“ (III 3).

Er betrachtete also die Kenntnis der Charakterstruktur als Voraussetzung für die Prognose des Verhaltens von Arbeitern und Angestellten, falls sich die Nationalsozialisten politisch durchsetzen würden. Im Focus des Interesses standen der autoritäre bzw. demokratisch-revolutionäre Charakter und die Parteizugehörigkeit.

Die Antworten mußten nicht nur klassifiziert, sondern „auf ihre unbewußte oder unbeabsichtigte Bedeutung hin“ interpretiert werden (III 4). „Äußerungen einer Person über ihre Gedanken und Gefühle“ nahm Fromm also „nicht für bare Münze“. Es war ihm „nicht nur wichtig, was jemand sagt, sondern auch warum er es sagt“ (III 10).

Er ging davon aus, daß die Befragten ihn nicht absichtlich täuschten. „Doch selbst wenn ein Proband bemüht ist, das zu sagen, was er denkt, kann er sich leicht etwas vormachen und seine wirklichen Gedanken und Gefühle gar nicht zum Ausdruck bringen“ (III 166).

Ob Fromms Interpretation richtig war, konnte wie bei einer medizinischen Prognose erst die Zukunft zeigen. Tatsächlich war sie richtig: Die Nationalsozialisten wurden von den Alliierten besiegt, nicht von den deutschen Sozialdemokraten und Kommunisten (Fromms Synonyme im Gegensatz zum heutigen Sprachgebrauch: Linke, Anhänger der Arbeiterparteien, Arbeiterparteien).

Fromm schätzte sie so ein:

  • Nur von 15% „konnte in kritischen Zeiten erwartet werden, daß sie den Mut, die Opferbereitschaft und die Spontaneität aufbringen“ würden, „die zur Führung der weniger aktiven Elemente und zur Besiegung des Gegners notwendig sind.“
  • „Auf der anderen Seite zeigten jedoch weitere 25% der Sozialdemokraten und Kommunisten eine weitgehende, wenngleich geringere Übereinstimmung mit ihren politischen Parteien und ließen keine Persönlichkeitszüge erkennen, die ihren linken Ansätzen widersprochen hätten. Sie konnten deshalb als verläßliche, nicht aber als glühende Anhänger gelten“ (III 188).

Das Problem: „20% der Anhänger der Arbeiterparteien“ drückten „in ihren Meinungen und Gefühlen eine eindeutig autoritäre Tendenz“ aus (III 188, 190), die eigentlich für die Nationalsozialisten typisch war: Ein „wesentliches Charakteristikum“ des Nationalsozialismus war „unkritischer Gehorsam“ (III 67f).

5% der Anhänger der Arbeiterparteien beurteilte Fromm „als konsistent autoritär“, während „bei 15% […] diese Haltung eher gebrochen zutage“ trat. „19% der Sozialdemokraten und Kommunisten tendierten darüber hinaus zum rebellisch-autoritären Typus mit klaren Widersprüchen“ zwischen radikalen und autoritären Antworten. 5% der Linken waren kompromiß-orientiert, „16% wiesen ein insgesamt indifferentes Syndrom auf“ (III 188, 190).

Kurz: Der „Triumph des Nationalsozialismus enthüllte einen erschreckenden Mangel an Widerstandskraft in den deutschen Arbeiterparteien, der in scharfem Gegensatz zu deren numerischer Stärke stand, wie sie sich in den Wahlergebnissen und Massendemonstrationen vor 1933 gezeigt hatte“ (III 8).

2. Psychoanalytische Charakterologie in Theorie und Praxis. Der Gesellschafts-Charakter eines mexikanischen Dorfes

Bei der Erhebung der Daten (1957-63) wurden Rorschach-Test, Andersen-Märchen-Test, die Sammlung von Träumen, Interviews, ein Fragebogen und spontane Beobachtungen über das Leben der Dorfbewohner eingesetzt. Auf Personenbeschreibungen und die Mitteilung des Dorfnamens wurde verzichtet, um die Anonymität der Dorfbewohner zu wahren – da es sich um nur 162 Haushalte handelte, wäre ansonsten eine Identifizierung möglich geworden.

Fromm führte die Untersuchung zusammen mit seinen Schülern durch. Den Bericht verfaßte er zusammen mit Michael Maccoby, der seit 1960 mitarbeitete. „Fromm und Maccoby haben das Buch gemeinsam ausgearbeitet, dennoch tragen manche Kapitel in stärkerem Maße die Handschrift Fromms. Die gemeinsame Verfasserschaft bringt es mit sich, daß die Begrifflichkeit manchmal variiert“ (Anm. d. Hg., III 550). Die Übersetzung aus dem Amerikanischen stammt von Liselotte und Ernst Mickel.

Ziel der Untersuchung war „die Analyse der Wechselbeziehungen zwischen den im Charakter wurzelnden emotionalen Einstellungen und den sozio-ökonomischen Bedingungen, unter denen der mexikanische Bauer lebt“ (III 239).

Daß Bauern außer in Südostasien „äußerst individualistisch, konservativ, argwöhnisch und sparsam“ sind, paßt Fromm zufolge „am besten zu der traditionellen landwirtschaftlichen Produktionsweise“ und verträgt „sich nicht mit den Erfordernissen einer mechanisierten oder industrialisierten Landwirtschaft“ (III 242).

Ähnlich wie bei der vorigen Studie stand also eine Entwicklung im Focus der Aufmerksamkeit: Der Frage, ob sich die Arbeiter gegen die Nationalsozialisten wehren würden bzw. könnten, entspricht hier die Frage, ob es den mexikanischen Bauern von ihrer Charakterstruktur her möglich sein würde, auf das Industrialisierungskarussell zu springen.

Fromms Antwort war pessimistisch: „Der Bauer ist dabei doppelt im Nachteil: Er büßt seine eigene Kultur ein und gewinnt nicht die materiellen Vorteile der wohlhabenderen Stadtbevölkerung. Er ist nicht nur arm an materiellen Gütern, man gibt ihm auch das Gefühl, menschlich rückständig, ‚unterentwickelt‘ zu sein. Er träumt von einem guten Leben für seine Kinder, doch nur sehr wenige können es je erreichen. Und wenn sie es erreichen, ist es dann wirklich ein ‚gutes Leben‘?“ (III 484)

Im Hinblick auf die Frage nach einem „Ausweg aus diesem Dilemma“ verwies er auf weitere Untersuchungen, die er mit der vorliegenden Studie anzuregen erhoffte (III 484).

Fromm stellte fest, „daß es viel leichter zu sein scheint, negative Charakterveränderungen als positive zu bewirken. Es ist viel schwerer, die Entwicklung eines produktiven, menschlich reifen Charakters anzuregen, Methoden zu finden, die die Menschen lebendiger, vernünftiger und unabhängiger machen und die dazu beitragen, die Trägheit und emotionale Faulheit zu überwinden. Man kann solche Methoden nur erfinden und anwenden in einer Gesellschaft, deren Ziel die volle Entwicklung des Menschen ist, und nicht dort, wo der Mensch das Werkzeug zur Erzielung eines möglichst hohen Bruttosozialprodukts geworden ist“ (III 482).

© Gunthard Rudolf Heller, 2019

Literaturverzeichnis

FROMM, Erich: Empirische Untersuchungen zum Gesellschafts-Charakter, hg. v. Rainer Funk, GA Band III, Stuttgart 1981

FUNK, Rainer: Erich Fromm mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, Reinbeck bei Hamburg 1983

REIJEN, Willem von: Adorno zur Einführung, Hamburg 31987

Gunthard Heller