Einführung in die Philosophie des Aristoteles

Kaum ein anderer Philosoph hat die Philosophie über so lange Zeit bestimmt und beeinflusst wie Aristoteles. Als Schüler Platons hat er zahlreiche Disziplinen wie Physik, Logik, Ethik, Biologie etc. begründet oder neue Maßstäbe gesetzt. Hier finden Sie eine Einführung in das philosophische Werk des antiken Denkers.

Einleitung

Was heute noch von der Philosophie des Aristoteles (384-322 v. Chr.) bleibt, ist scheinbar wenig: die Methode wissenschaftlichen Arbeitens. Konkret bedeutet das die Beschäftigung mit einzelnen Gegenständen auf Erfahrungsbasis, die Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Vorgänger und die Reflexion über die Möglichkeiten, aus Bekanntem auf Unbekanntes zu schließen.

Artistoteles Einführung Philosophie

Ingemar Düring (Hg.) gibt in seinem Buch über die Aristoteles-Konferenz in Göteborg (1966) einen Eindruck davon, womit sich heutige Aristoteles-Forscher befassen:

Sie streiten sich über die Bedeutung griechischer Wörter im Werk des Aristoteles, fragen nach dem Verhältnis von Physik und Metaphysik, diskutieren über verschiedene Lesarten im griechischen Text, treffen Unterscheidungen, die Aristoteles selbst gar nicht getroffen hat, sich aber aus dem Text ableiten lassen, fragen, welche Werke von Aristoteles dessen Interpreten wohl kannten, überlegen, auf welche Vorlagen Aristoteles selbst zurückgreifen konnte, wenn er sich mit seinen Vorgängern auseinandersetzte, decken Widersprüche auf, suchen nach Spuren anderer Autoren im Werk des Aristoteles, fragen, ob wir denn heute in grundsätzlicher Hinsicht mehr wissen als Aristoteles, überlegen, ob ein aristotelischer Text nun in sich geschlossen ist oder nicht usw. usw.

Aristoteles hat sich fast sein ganzes Leben lang mit der Philosophie von Platon befaßt, dessen Schüler er 367 v. Chr. wurde. Platon soll über ihn gesagt haben, er habe gegen ihn ausgeschlagen wie ein junges Füllen gegen seine Mutter (vgl. Diogenes Laertios V 1,2). Als Mensch charakterisiert ihn Diogenes so: „Er stieß beim Sprechen mit der Zunge etwas an, wie der Athener Timotheos in seinen Lebensbeschreibungen erzählt, auch war er schwach auf den Beinen, wie man sagt, und kleinäugig, kleidete sich aber stattlich und ließ es an Fingerringen und Haarpflege nicht fehlen“ (V 1,1).

Da er beim Unterrichten im Lykeion in Athen mit seinen Schülern herumspazierte, wurden sie „Peripatetiker (Herumwandler)“ genannt. „Andere führen den Namen darauf zurück, daß er mit dem von einer Krankheit wiedergenesenen Alexander Spaziergänge unter lehrreichen Gesprächen gemacht habe“ (Diogenes V 1,2). Gemeint ist Alexander der Große (356-323 v. Chr.), als dessen Erzieher Aristoteles 342 v. Chr. an den makedonischen Königshof in Pella berufen wurde, war doch schon sein Vater Nikomachos Leibarzt von Alexanders Großvater Amyntas III.

Das Werk des Aristoteles ist sehr umfangreich. Diogenes listet 146 Titel mit insgesamt 445270 Zeilen auf (V 1,22-28). Doch vieles ist verloren. Die Lektüre ist schwierig, da es sich meist um knappe Vorlesungsnotizen handelt. Bereits die Kommentatoren der Spätantike fanden seine Sprache unklar und ungeschliffen.

Zitiert wird nach der Ausgabe von Immanuel Bekker (Aristotelis Opera I – V, Berlin 1831-70), deren zwei Spalten bei neueren Ausgaben und Übersetzungen am Rand angegeben sind (deshalb jeweils a oder b nach der Seitenzahl). Bei der folgenden Auswahl fehlen die Schriften des Aristoteles über Biologie und Meteorologie ganz.

1. Protreptikos

„Die nur fragmentarisch überlieferte Schrift ist eine Aufforderung zum philosophischen Leben, die sich an Themison, den Herrscher Zyperns richtet“ (Leo J. Elders, in: LphW 598). Ingemar Düring betrachtet das Werk als Antwort auf die Kritik des Isokrates an der platonischen Akademie (DA 51) – „Platon und Isokrates bezeichneten beide das eigene Anliegen als Philosophie, das des anderen als Sophistik“ (DA 109).

Die große Bedeutung der Philosophie faßt Aristoteles in folgendem Satz zusammen: „Wir müssen Philosophen werden, wenn wir den Staatsangelegenheiten richtig nachgehen und unser Privatleben auf eine nützliche Weise gestalten wollen“ (B 8; zur Zitierweise: Zeugnisse = A, Fragmente = B). Die Aufgabe des Philosophen besteht in der „Erforschung der Wahrheit“ (B 65). Doch dies ist nicht nicht nur die Aufgabe des Philosophen: „Erkennen und philosophisches Denken sind […] die eigentlichen Aufgaben der Seele. Dieses ist für uns Menschen das Wählenswerteste von allem“ (B 70). Begründung: Wer „sich am meisten um die Wahrheit bemüht“, lebt „in höchstem Grade von allen“ (B 85).

2. Organon

Andronikos von Rhodos, der Herausgeber der aristotelischen Schriften, faßte den Inhalt der einzelnen Schriften des sog. Organon („Werkzeug“) kurz zusammen. Er fand, „daß Aristoteles in den Kategorien das einzelne Wort als Träger der Begriffe behandelte, in den Hermeneutika den einfachen Satz, in der Ersten Analytik das Schlußverfahren, in der zweiten Analytik die Lehre von dem wissenschaftlichen Beweis und in der Topik die Dialektik“ (DA 53).

Die Topik handelt von Syllogismen, deren Prämissen unbewiesen, aber einleuchtend sind. Gleich am Anfang betont Aristoteles die Wichtigkeit der Widerspruchsfreiheit. Im I. Buch, Kapitel 9 bespricht Aristoteles die Kategorien: „Was-es-ist, So-und-so-viel, So-und-so-beschaffen, Im-Verhältnis-zu …, An-irgendeiner-Stelle, Zu-der-und-der-Zeit, Lage, Haben, Tun, Erleiden“ (103b).

Heute werden sie mit den Begriffen „Substanz, Qualität, Quantität, Relation, Ort, Zeit, Lage, Haben, Tätigkeit und Leiden“ bezeichnet. Sie sind „Klassen, denen Entitäten aufgrund allgemeinster Einteilungsprinzipien zugehören“ (Christian Kanzian, in: MPhL 278). Wörtlich bedeutet „Kategorie“ (= Aussage, Prädikat) „Anklage“. Im Mittelalter wurden die Kategorien „Prädikamente“ genannt. Aristoteles betrachtete sie „später ohne explizite Erörterung und Begründung als vollständiges Raster möglicher Prädikation […], in dem sich […] die Struktur der Wirklichkeit ausdrücke“ (Gereon Wolters, in: EPhW 2/368). Eine einfachere Definition: Kategorien sind die „allgemeinsten Gesichtspunkte […], unter denen sich die von einem Subjekt aussagbaren Merkmale zusammenfassen und anordnen lassen“ (Christian Thiel, in: EPhW 3/310).

In Kapitel 4 des IV. Buchs bringt Aristoteles seine Erkenntnistheorie auf den Punkt: „Nicht alles, was gewußt werden kann, ist auch wahrnehmbar; auch von dem, was nur gedacht wird, ist einiges dem Wissen zugänglich“ (125a).

Das Schlußkapitel der Topik (VIII 14) kann man als Überleitung zur Auseinandersetzung mit den Sophisten im IX. Buch betrachten: „Man soll sich nicht mit jedem in ein solches Gespräch einlassen und auch nicht an jedem beliebigen sich üben: einigen Leuten gegenüber müssen die Reden schlecht werden. Gegenüber einem, der auf Biegen und Brechen versucht, den Eindruck zu wahren, er komme durch, ist man zwar berechtigt zu versuchen, den Schluß mit allen Mitteln herbeizuzwingen, man gibt aber kein gutes Bild ab. Daher darf man sich nicht unbedenklich mit beliebigen Leuten zusammensetzen, denn da muß mieses Gerede herauskommen; auch Leute, die sich üben wollen, können dann nicht anders, als die Unterredung in streitsüchtiger Weise zu führen“ (164b).

In der Topik, neuntes Buch oder Über die sophistischen Widerlegungsschlüsse geht es um Trugschlüsse. Aristoteles unterscheidet im 2. Kapitel vier Arten von Redeformen: didaktisch (belehrend), dialektisch (gesprächsartig), peirastisch (auf die Probe stellend) und eristisch (streitsüchtig) mit fünf Zielen: „Widerlegung, Falschheit der Aussage, Widersinniges, sprachliche Fehlleistung und fünftens, es hinzubekommen, daß ihr Gesprächsteilnehmer dummes Zeug redet, d. h. ihn oftmals zwingen, sich zu wiederholen; oder daß all das gar nicht wirklich stattfindet, sondern nur zu geschehen scheint“ (165b).

Im 11. Kapitel definiert Aristoteles die Streitsucht als „Kampf mit unrechten Mitteln beim Widersprechen“. Wer sich damit „einen Namen […] machen“ will, „unter dem dann Geld zu verdienen ist“, ist ein Sophist; „denn die Sophistik ist […] eine Kunst, Geld zu verdienen unter Vortäuschung von Weisheit“. Sie „ist ja doch eine Scheinweisheit, keine wirkliche“ (171b).

In Kapitel 4 der Kategorien sind die Bezeichnungen etwas anders als in der Topik: „Seiendes Wesen, so-und-so-viel„, „derartig„, „im-Verhältnis-zu„, „da-und-dort„, „dann-und-dann„, „Lage„, „Haben„, „Tätigsein“ und „Erleiden“ (1b-2a).

Dazu kommen folgende fünf Postprädikamente:

1. „Entgegengesetztes“ („im Verhältnis zu …„, „Gegenüberliegendes„, „Verlust und Besitz„, „Behauptung und Verneinung„), 2. „‚Früher‚“ („nach der Zeit„, „was nicht umkehrbar ist nach der Folge des Seins“, „nach einer bestimmten Anordnung„, nach der moralischen Qualität, nach der Ursache), 3. „‚Zugleich‚“ („in der gleichen Zeit“, „‚Zugleich der Naturbeschaffenheit nach'“), 4. „‚Veränderung‚“ („Entstehen, Untergang, Wachsen, Schwinden, Eigenschaftswechsel, Ortsveränderung„), 5. „‚Haben‚“ („Besitz„, „Verfassung„, „Eigenschaftlichkeit„, „‚so und so viel‚“, „Um-den-Leib-herum„, „Teil„) (11b-15b).

„Aufgrund der textlichen und argumentativen Unzulänglichkeit des Schlußkapitels […] hält man die Postprädikamente nicht für einen Text des Aristoteles selbst, sondern für eine spätere Zutat der peripatetischen Schule […], so daß auch die Lehre von den Postprädikamenten nicht auf Aristoteles zurückginge“ (Christian Thiel, in: EPhW 3/307).

Der Sinn dieser Etikette ist klar: Aristoteles geht es darum, Typen von Aussageformen zu benennen. Er will Ordnung im Chaos der Sätze schaffen. Uns erscheint hier manches willkürlich: man könnte es auch anders machen. Doch Aristoteles war ein Pionier: er hat sich als erster in dieser Ausführlichkeit und Gründlichkeit mit den Aussageformen befaßt und dadurch die abendländische Logik als Wissenschaft begründet. Wie sehr er sich der Vorläufigkeit seines Unternehmens bewußt war, zeigt der letzte Satz des Werks: „Vielleicht erscheinen ja auch noch irgendwelche anderen Weisen von ‚Haben‘, aber die gewöhnlicherweise ausgesagten sind damit so ziemlich alle aufgezählt“ (15b).

Hermeneutik oder vom sprachlichen Ausdruck ist eine Art Satzlehre. Die Schrift beginnt so: Es gehe zuerst darum zu bestimmen, „was ist Name und was Tätigkeitswort; danach, was ist Verneinung, Behauptung, Kundgebung und Rede“ (16a). Darauf folgen Ausführungen über das Allgemeine und das Einzelne, was in die Entwicklung der Prädikatenlogik mündet (Kap. 10). Darin geht es um vier Arten von Urteilen (illustrierende Beispiele nach Aristoteles): Alle Menschen sind gerecht (universell-positives Urteil). Kein Mensch ist gerecht (universell-negatives Urteil). Einige Menschen sind gerecht (positiv-partikuläres Urteil). Einige Menschen sind nicht gerecht (negativ-partikuläres Urteil).

Aus unserer heutigen Sicht ist Aristoteles ein furchtbarer Umstandskrämer, etwa wenn er mit doppelten Verneinungen operiert und alles mögliche ausprobiert. Dementsprechend schreibt Hans Günter Zekl in der Einleitung: „Mit der Hermeneutik wird kein Rezipient so schnell fertig. […] Ausgewiesene Kenner der Schrift gelangen zu Urteilen wie ‚a crude theory‘ [Ross: Aristotle’s De anima, 1961, S. 8], […] die Hermeneutik bereitet Kopfzerbrechen. Keiner der Versuche, bestimmtes Sprachmaterial, mit dem Aristoteles herumexperimentiert, in der eindeutigen Sprache moderner Logistik zu formalisieren, ließ sich widerspruchsfrei durchhalten“ (S. XXIX). „Kapitel 10 scheint eine Sammlung von lauter kleinen, unverbundenen Fetzen zu sein“ (S. XXX).

Dazu kommen noch Datierungs- und Echtheitsfragen. Nicht einmal über Aufbau und Inhalt können sich die Fachleute einigen: „Wie weit geht der Einleitungspassus? […] Wie hängt überhaupt der Einstieg mit dem Hauptteil zusammen? Wie folgt in diesem selbst ein Stück dem anderen?“ (S. XXX) „Wovon handelt die Hermeneutik eigentlich? Von Grammatik, Psychologie, Logik, speziell Antithetik? – Es ist von allem etwas, von einigem auch etwas mehr darin zu finden“ (S. XXXII).

Die Frage nach dem Inhalt beantwortet Zekl dann doch: Die Hermeneutik „handelt […] von der ersten, einfachsten Form von Satz, die etwas aussagt“ (S. XXXIIf). Leider ändert Aristoteles die Terminologie in der Syllogistik. „Und dann erst die Beispiele, mit denen er arbeitet: sie stellen nicht nur für Adepten eine Herausforderung, sondern auch für Ideologen ein gefundenes Fressen dar. Hätte er’s doch formalisieren können zu A ist b, A ist-nicht b, A ist nicht-b usw., aber genau der Weg war vom Ansatz her verschlossen: Aristoteles betrachtet nicht Sätze, sondern Sätze über Sachverhalte. Also müssen diese Sätze einen Inhalt haben. […] Sie scheinen entweder gar nichts zu sagen oder möglicherweise sehr Böses …“ (S. XXXIII).

Wir erinnern uns: „Alle Menschen sind gerecht“ und „Kein Mensch ist gerecht“ sind beide falsch. „Einige Menschen sind gerecht“ und „Einige Menschen sind nicht gerecht“ sind beide nichtssagend. Also was soll’s? Dabei sind diese Beispielsätze noch von mir vereinfacht! Bei Aristoteles heißt es etwa: „‚Mensch ist nicht nicht-gerecht'“. „‚Nicht jeder Mensch ist nicht gerecht'“. „‚Nicht Mensch ist nicht nicht-gerecht'“ (19b).

In der Ersten Analytik behandelt Aristoteles den Syllogismus hinsichtlich seiner Form (ist der Schluß technisch richtig?), in der Zweiten Analytik fragt er nach dem Inhalt (ist der Schluß sachlich richtig?).

Beispiele:

  • Alle Menschen sind sterblich (Prämisse 1). Sokrates ist ein Mensch (Prämisse 2). Also ist Sokrates sterblich (technisch und sachlich richtiger, aber nichtssagender Schluß – daß Sokrates sterblich ist, wissen wir ohnehin. Dafür brauchen wir nicht Logik studieren).
  • Alle Menschen sind traurig (Prämisse 1). Sokrates ist ein Mensch (Prämisse 2). Also ist Sokrates traurig (technisch richtiger, aber sachlich falscher Schluß, da Prämisse 1 nicht stimmt – es gibt auch lustige Menschen).

Die verschiedenen Arten von Syllogismen studiert man besser anhand eines modernen Lehrbuchs (Beispiele für den Einstieg: Menne, Zoglauer) als anhand der Analytiken des Aristoteles. Ingemar Düring bringt die Problematik auf den Punkt: „Die Haupteinwände gegenüber dieser Theorie des axiomatischen Syllogismus sind die, daß niemand so denkt und daß der Schluß keinen Erkenntnisfortschritt bedeutet. Die deutschen Übersetzer und Ausleger bemerken im allgemeinen, daß in Wirklichkeit nichts ‚Neues‘ aus den Prämissen folge“ (DA 88f). „Die analytische Syllogistik spielt ja fast gar keine Rolle, weder im Alltagsleben noch in der Wissenschaft“ (DA 91).

3. Physik

Dieses Werk enthält die Naturphilosophie des Aristoteles. Themen: Prinzipien, Ursachen („Stoff, Form, Bewegungs- und Zweckursache“), physis, Bewegung und erster Beweger, Raum, Vakuum und Zeit (Dietrich Mannsperger, in: KNLL 1/705).

Kapitel 3 im II. Buch II enthält die Ursachenlehre, die Aristoteles folgendermaßen begründet: Es gehe ihm um das Erkennen. Erkannt haben wir etwas erst, wenn „wir das ‚Weshalb‘ eines jeden erfaßt haben – das heißt aber: seine erste Ursache erfaßt haben“ (194b).

Aristoteles nennt vier Arten von Ursachen:

  • „das, woraus als schon Vorhandenem etwas entsteht„;
  • „die Form und das Modell, d. i. die vernünftige Erklärung des ‚was es wirklich ist‘, und die Gattungen davon […] und die Bestimmungsstücke, die in der Erklärung vorkommen, auch“;
  • „Woher der anfängliche Anstoß zu Wandel oder Beharrung kommt“;
  • „das Ziel, d. i. das Weswegen“ (194b).

Etwas weiter unten (195a) wiederholt er denselben Sachverhalt mit etwas anderen Worten. „Es werden aber auch die (undurchschaubare) Schicksalsfügung und der Zufall zu den Ursachen gezählt“ (195b). Diese beiden seien aber „der Vernunft und der Natur“ nachgeordnet (198a).

Ingemar Düring weist darauf hin, daß „offenbar für jeden, der über die vier sogenannten ‚Ursachen‘ des Aristoteles reflektiert hat, aitia einen anderen Sinn“ hat (DA 99).

Vor der Überbewertung des Denkens warnt Aristoteles ausdrücklich: „Dem bloßen Denken zu vertrauen, ist unsinnig.“ Denkend kann man sich alles mögliche einbilden. Doch deshalb ist die Wirklichkeit noch lange nicht so. Die Wahrnehmung steht also im Vordergrund – das Denken „tritt bloß noch hinzu“ (208a).

Im VII. Buch bringt Aristoteles seine berühmte Herleitung des ersten Bewegers: „Alles, was in verändernder Bewegung ist, muß von etwas in Bewegung gebracht werden“ (241b). Dieses Etwas „wird von einem anderen in Bewegung gesetzt, das selbst in Bewegung ist, und das wieder von einem anderen, und immer so weiter“. Daraus folgt „notwendig: Es gibt irgendein Erstes Bewegendes, und man darf da nicht ins Unendliche weitergehen“ (242a).

Zum Nachdenken für Evolutionsgläubige: „Daß nun unendliche Zeit lang Ruhe geherrscht haben soll – und dann irgendwann mal Bewegung eingetreten ist und es dazu keinerlei Unterscheidung gibt, warum gerade zu dem Zeitpunkt eher als zu einem früheren, und daß das auch keinerlei Ordnung hält: das ist nicht mehr ‚Werk der Natur'“ (252a).

Wessen Werk ist es dann? Eine Antwort des Aristoteles steht etwas weiter unten: „Von den Uranfängen freilich, die ewig bestehen, gibt es keinen von ihnen verschiedenen Grund mehr“ (252b).

Dieser Satz scheint eine unmittelbar davor aufgestellte Regel zu verletzen: Man darf „nicht einfach nur behaupten, sondern man muß auch den Grund dafür angeben, und nicht bloß etwas hinstellen oder einen unvernünftigen Grund-Satz fordern, sondern entweder muß man Erfahrungsbelege oder Vernunftbeweise anführen“ (252a).

Deshalb holt Aristoteles das Fehlende nach, indem er die „gegenteiligen Behauptungen“ zu widerlegen sucht:

1. Jede Veränderung hat eine Grenze, nichts verändert sich immer. Das sei zwar „ganz recht gesprochen. […] Dennoch, wie sich das auch verhalten mag, es hindert nichts (die Annahme), daß irgendeine (Bewegung), dadurch daß sie zusammenhängend ist, dieselbe und immerwährend ist. Klar wird das noch mehr aus späteren Ausführungen werden“ (252b-253a).

In der „Physik“ suchen wir diese Ausführungen allerdings vergebens. Hans Günter Zekl verweist auf zwei Stellen in der „Metaphysik“: eine Andeutung am Schluß von Z 10 (Buch VII, Kap. 10) und Th 8f (Buch IX, Kap. 8 und 9).

Zuerst die Andeutung: „Sind aber Seele und lebendes Wesen nicht dasselbe, sondern verschieden, so muß man auch dann, wie gesagt, einige Teile als früher, andere als später bezeichnen“ (1036a).

Und die Ausführung: Aristoteles behauptet, „daß die Wirklichkeit früher ist als das Vermögen (die Möglichkeit)“. Seine Begründungen: 1. (vom Begriff her): „Denn das in vollem Sinne Vermögende heißt vermögend darum, weil es in wirkliche Tätigkeit treten kann“. 2. (zeitlich): Alles Werdende geht auf Wirkliches zurück. 3. („dem Wesen nach“): Zuerst ist der Mann, dann das Kind; zuerst ist der Mensch, dann der Same. 4. (vom Ziel her): Alles Entstehende geht „auf ein Prinzip und ein Ziel“ hin. „Ziel aber ist die Wirklichkeit, und um ihretwillen erhält man das Vermögen (die Möglichkeit)“. 5. („in entscheidenderem Sinne“): „das Ewige ist dem Wesen nach früher als das Vergängliche, nichts Ewiges aber ist nur dem Vermögen nach (der Möglichkeit nach). Der Grund ist dieser: Jedes Vermögen (jede Möglichkeit) geht zugleich auf den Gegensatz.“ Denn was „zu sein vermag, das kann sowohl sein als auch nicht sein […]. Was aber möglicherweise nicht sein kann, das ist vergänglich. […] Nichts also von dem schlechthin Unvergänglichen ist etwas schlechthin dem Vermögen nach (der Möglichkeit nach) Seiendes“ (1049b-1050b).

In Kap. 9 geht es darum, daß „im Vergleich mit einem tüchtigen Vermögen die wirkliche Tätigkeit besser und wertvoller ist“ (1051a). Gehört das auch noch zur Begründung? Über all dem Nachschlagen und Argumentieren habe ich inzwischen vergessen, um was es überhaupt geht. Deshalb schaue ich zurück: Aristoteles wollte begründen, warum die Uranfänge keine Ursache haben. Bei den Uranfängen spielt also nicht nur das Zeitliche eine Rolle, sondern auch das Qualitative. Da der zitierte erste Satz aus Kap. 9 unmittelbar einsichtig ist, verzichte ich auf die Wiedergabe der Begründungen und ziehe das Fazit: Aristoteles hat seinen Begründungsanspruch auf der Basis von Erfahrungsbelegen und Vernunftbeweisen tatsächlich eingelöst.

Wieder zurück in die „Physik“. Aristoteles untersucht noch eine zweite gegenteilige Behauptung: Leblose Gegenstände bewegen sich nicht von alleine. Doch Lebewesen fangen von sich aus an, sich zu bewegen. Nun bringt Aristoteles einen Analogieschluß: „Wenn das aber an einem Lebewesen geschehen kann, was hindert dann (die Annahme), daß das gleiche sich ereignen kann auch bezüglich des Alls?“ (252b)

4. Vom Himmel

Die Lehrschrift besteht „aus drei Einzelvorträgen über die eigentliche Kosmologie (Bücher 1 und 2), über Bewegung und Eigenschaften der irdischen Körper (Buch 3) sowie über die Begriffe ‚Leicht und schwer‘ (Buch 4). […] Alles in allem brachte es Aristoteles fertig, ‚mit einer Theorie, in der fast alle Ergebnisse falsch sind, die Tatsachen der alltäglichen Erfahrungen so intelligent zu erklären, daß seine Konzeption eine gewaltige, überzeugende Kraft erhielt‘ (Ingemar Düring)“ (Dietrich Mannsperger, in: KNLL 1/704).

Aristoteles schreibt dem Wort „Himmel“ „drei Bedeutungen“ zu:

  • „das Wesen der äußersten Peripherie des Alls oder den natürlichen Körper, der sich in der äußersten Peripherie des Alls befindet“;
  • der Körper, der „mit der äußersten Peripherie des Alls“ zusammenhängt und „in welchem sich Sonne und Mond und einige der Sterne befinden“;
  • der „Körper, der von der äußersten Peripherie umschlossen ist. Denn das Ganze und das All pflegen wir Himmel zu nennen“ (278b).

Gegen die Sphärenharmonie des Pythagoras hat Aristoteles folgendes einzuwenden: „die Behauptung, es entstünde bei der Bewegung der Gestirne eine Musik, indem die Töne zusammenstimmten“, sei zwar „fein und originell […], aber keineswegs wahr“ (290b).

Aristoteles ist scheinbar fair: Er erklärt zunächst, wie man überhaupt auf diese Idee kommen kann: Wenn man auf der Erde einen Körper bewegt, macht das ein Geräusch. Je größer der Körper, desto lauter seine Bewegung. Die Himmelskörper sind sehr groß, also muß ihre Bewegung „ein ungeheures Geräusch“ machen. „Wird nun dies vorausgesetzt und ebenso, daß die Geschwindigkeiten infolge der Abstände das Verhältnis der musikalischen Harmonie hätten, so folgt, daß der Ton der Kreisbewegung der Gestirne ein harmonischer sei. Da es ferner unglaubhaft scheint, daß wir nicht diesen Ton hören, so geben sie als Ursache davon an, der Ton sei gleich von unserer Geburt an vorhanden, so daß wir ihn gar nicht von einer ihm entgegensetzten Stille abheben könnten“ (290b).

Das sei „auf diese Art durchaus unmöglich. Nicht nur ist es unsinnig, daß wir nichts hören (sie versuchen freilich eine Ursache davon anzugeben), sondern auch, daß wir abgesehen von dieser Sinneswahrnehmung nichts merken sollten. Denn übermäßige Geräusche zerbrechen selbst die Massen unbelebter Körper: das Krachen des Donners sprengt Steine und sonstige ganz harte Körper.“ Deshalb hält Aristoteles es für „wahrscheinlich, daß wir nichts hören und die Körper keine gewaltsame Einwirkung erleiden, weil kein Ton vorhanden ist“ (290b-291a).

Wie sehr die Ausführungen des Aristoteles am Thema vorbeigehen, zeigt der biographische Bericht des Iamblichos: Pythagoras „richtete […] kraft eines unsagbaren und schwer vorzustellenden göttlichen Vermögens sein Gehör und seinen Geist fest auf das erhabene Zusammenklingen der Welt“ (Kap. 65). Es geht also gar nicht um das gewöhnliche Hören, sondern um eine Form der übersinnlichen Wahrnehmung. Iamblichos formuliert das so: Pythagoras besaß „ganz ungewöhnliche, viel schärfere Seh-, Hör- und Denkorgane […] als die übrigen Menschen“ (Kap. 67).

„Dabei hörte und verstand er – wie er erklärte – ganz allein die gesamte Harmonie und den Wettgesang der Sphären und der Gestirne, die sich darin bewegten. Diese Harmonie ergab eine vollkommenere und erfülltere Musik als die irdische, denn aus ungleichen und sich mannigfach unterscheidenden Geschwindigkeiten, Tonstärken und Schwingungsdauern von Klängen, die aber doch in einer klaren, überaus musikalischen Proportion aufeinander abgestimmt sind, werden Bewegung und Umlauf zugleich überaus wohlklingend und in ihrer Farbigkeit unaussprechlich schön gestaltet“ (Kap. 65). Also keine Rede von irgendwelchen Reibungsgeräuschen.

„Von dieser Musik ließ er sich gleichsam durchtränken, ordnete seinen Geist in diesen reinen Verhältnissen und übte ihn darin – wie ein Athlet seinen Körper trainiert. Davon gedachte er seinen Jüngern, so gut es ging, Abbilder zu geben, indem er die Sphärenmusik auf Instrumenten und durch die bloße Stimme nachahmte. Glaubte er doch, ihm allein unter allen Irdischen seien die Weltraumklänge verständlich und hörbar, und er hielt sich für würdig, unmittelbar an der natürlichen Quelle und Wurzel etwas zu lernen, es sich ganz zu eigen zu machen und selbst im Nacheifern und Nachbilden den Himmelswelten ähnlich zu werden, da er allein von dem Göttlichen, das ihn erzeugt hatte, so glücklich mit zulänglichen Organen ausgestattet sei“ (Kap. 66).

Hans Kayser hat die „uralte traditionelle Lehre von der Harmonie der Welt“ in der Vergangenheit „fast aller Hochkulturen“ gefunden. Er wundert sich darüber, daß „in den letzten 2500 Jahren kein Mensch „die Harmonik als wissenschaftlich fundierte Lehre mit der Forschung der betreffenden Epochen in Einklang brachte“ (S. 38). Er erklärt das damit, daß der antike Grieche in einer exakten Begrifflichkeit und Logik „ein Gegengewicht gegen die seine Seele überwuchernden Mythologeme (Götter- und Heroen-Vorstellungen) und Symbole“ brauchte. Infolgedessen sei nur die „materielle, quantitativ-meßbare Seite“ des Pythagoreismus „weitergepflegt“ worden (S. 52). Heute dagegen sei die Lage anders: Wir seien „seelisch verarmt“ und bräuchten „umgekehrt wieder eine Einkehr, ein inneres Versenken in die meditativen Kräfte unserer Seele“ (S. 53).

Dabei ist Aristoteles nicht einmal auf das naturwissenschaftliche Beobachten fixiert: „Denn ob es Wesen gibt, die unentstanden sind und vollkommen unbewegt, dies zu untersuchen gehört eher einer andern und ursprünglicheren Disziplin an als der Naturwissenschaft“ (298b).

B. L. van der Waerden kommentiert: „Für die älteren Pythagoreer ist die Himmelsmusik kein natürliches, sondern ein mystisches, göttliches Ereignis.“ Er rechnet den Bericht des Iamblichos über die Sphärenharmonie, den er „von Nikomachos von Gerasa übernommen“ hat (S. 100), zu den übrigen Wunderberichten, von denen er nachgewiesen hat, daß sie „auf alten Überlieferungen beruhen“ (S. 103).

5. Über Werden und Vergehen

Es handelt sich um eine Fortsetzung des vorigen Werks „Vom Himmel“, „gewissermaßen eine Chemie und Biochemie a priori“ (Dietrich Mannsperger, in: KNLL 1/699). Die Interpreten beurteilen diese kaum gelesene Schrift sehr verschieden. Der Herausgeber Thomas Buchheim hält sie für ein „kleines Meisterstück naturphilosophischer Durchdringung“, räumt aber ein, daß Anfänger und Studenten folgenden Eindruck haben: „Alles ein Graus für jeden, der auch nur ein bißchen Schulwissen über die natürlichen Prozesse im Universum und auf unserer Erde mitbringt. Beinahe alles Falsche, das Aristoteles je gesagt hat, versammelt diese Schrift“ (Einleitung, S. XII).

Ingemar Düring kritisiert, daß Aristoteles sich „zäh […] an die einfachen Erfahrungstatsachen klammert“, und meint: „Über die Primitivität dieser Lehre braucht man kein Wort zu verlieren“ (DA 377). Dagegen findet Gustav A. Seeck in seiner Arbeit mit dem Titel „Über die Elemente in der Kosmologie des Aristoteles. Untersuchungen zu ‚De generatione et corruptione‘ und ‚De caelo'“ (München 1964) „nur gegen den Geist der Empirie gerichtete Spielereien mit erdachten Symmetrien aus naiv angenommenen Qualitäten, entlarvt allenthalben eine Menge von Zirkelbegründungen und Absurditäten, die bei genauerem Hinsehen schon von Aristoteles selbst hätten vermieden werden können“ (so zusammengefaßt von Buchheim, S. XIII).

Themen sind u.a. Werden und Vergehen, Wachstum und Schwinden, Veränderung, Ernährung, Materie und Elemente, Wirken und Leiden, Berührung, Zeugung, Mischung, Einwirkung, Elemente und Prinzipien der Körper, Materie, Bewegung, Zeit.

Etwas zusammenfassen zu wollen, ist sinnlos, es sei denn, man macht es wie Buchheim ganz kurz: „Es geht im ganzen Werk um die Prozesse des Werdens und Vergehens, ihre Abgrenzung von anderen Prozeßarten und ihre sämtlichen Ursachen“ (S. XX). „Die neue Lösung lautet, daß jegliches radikale Werden aus schlechthin Nichtseiendem in sich und zugleich ein Vergehen von anderem ist“ (S. XXIIIf). „Es muß eine absolute Richtung der Prozesse geben“ (S. XXIV).

6. Von der Seele

„Das entscheidende Neue der Aristotelischen Seelenlehre besteht in der methodischen Analyse der Äußerungen des Seelischen, von denen aus auf die unsichtbare Ursache zurückgeschlossen wird“ (Dietrich Mannsperger, in: KNLL 1/703).

Nachdem Aristoteles im ersten Buch die Ansichten seiner Vorgänger über die Seele durchgearbeitet hat, beginnt er das zweite Buch mit seinen Bestimmungen der Seele: Sie ist „eine Wesenheit […] als die Form eines natürlichen Körpers, der potentiell Leben besitzt. Die Wesenheit ist aber die aktuale Wirklichkeit […] eines so beschaffenen Körpers.“ Kurz: Sie ist „die primäre aktuale Wirklichkeit eines natürlichen organischen Körpers“ (412a). „Das bedeutet: sie ist das Wesens-Was für einen so beschaffenen Körper“ (412b).

Beseeltes und Unbeseeltes unterscheiden sich „durch das Leben“ (413a). Die Seele ist „das, mit dem wir primär leben, wahrnehmen und überlegen“ (414a). Sie ist „Ursache und Ursprung des lebenden Körpers“ (415a).

Die Seele ist „das Prinzip“ der Körperfunktionen „Wahrnehmung, Überlegung, Bewegung“ und wird „durch sie bestimmt“ (413b). Wahrnehmung und Überlegung wirken beim Urteilen zusammen, so daß Aristoteles im dritten Buch die Fähigkeiten der Seele auf zwei reduzieren kann: Urteilen und Ortsbewegung (432a).

7. Kleine Schriften zur Seelenkunde

Die in diesem Sammelband vereinigten Schriften werden seit Aegidius Romanus auch als „Parva naturalia“ („Kleine Schriften zur Naturphilosophie“) bezeichnet (LphW 497). Die Titel und einige Bemerkungen über Auffälliges:

  • „Über die Sinneswahrnehmung und ihre Gegenstände“;
  • „Über Gedächtnis und Erinnerung“;
  • „Über Schlaf und Wachsein“: hier ist die Feststellung bemerkenswert, „daß die Natur Zwecke verfolgt, und zwar immer etwas Gutes“ (455b);
  • „Über Träume“;
  • „Über Weissagung durch Träume“: darüber dürfe man „weder verächtlich noch leichtgläubig reden“ (462b); obwohl prophetische Träume nicht von Gott kommen, seien sie doch „göttlich“ (463b);
  • „Über Lang- und Kurzlebigkeit“: „Arbeit dörrt aus“ (466b);
  • „Über Jugend und Alter, Leben und Tod“;
  • „Über das Atmen“: Die Natur tue „nichts Überflüssiges“ (476a); beim Tod löse sich die Seele vom Körper (479a);
  • „Über Lebensluft“: „In Wirbelsäule und Gehirn sehen manche den Lebensquell“ (484b).

8. Nikomachische Ethik

Das Werk ist nach Nikomachos benannt, dem Sohn von Aristoteles und Herphyllis von Stagira, mit der er nach dem Tod seiner Frau Pythias zusammenlebte. Mit der Eudemischen Ethik hat es drei Bücher gemeinsam: den Büchern 5-7 der Nikomachischen entsprechen die Bücher 4-6 der Eudemischen Ethik. Thema ist das Glück durch ein tugendhaftes Leben fern von Extremen.

9. Magna moralia

So lautet der lateinische Titel der Ethika megala (Großen Ethik) des Aristoteles, deren Inhalt mit dem der beiden anderen Ethiken im wesentlichen identisch ist. Sie umfaßt nur zwei Bücher.

Erstes Buch. Die Ethik gehört zur Staatswissenschaft. Ziel der Staatskunst ist das höchste Gut. Es besteht in einem tugendhaften Leben. Da die Gerechtigkeit die höchste aller Tugenden ist, besteht das höchste Gut in einem gerechten Leben. Allgemein sind die Tugenden als Mitte zwischen zwei Extremen bestimmbar, als rechtes Maß. Ihr Ziel ist das sittlich Schöne. Aristoteles bespricht Tapferkeit, Besonnenheit, vornehme Ruhe, Großzügigkeit, Hochsinnigkeit, Großartigkeit, ehrliche Empörung, echte Würde, Feinfühligkeit, gesellschaftliche Gewandtheit, freundschaftliche Aufrichtigkeit, Offenheit und Gerechtigkeit. Die Tugend ist die Einheit des Impulses zum sittlich Schönen mit der rechten Planung. Von daher gehören auch philosophische Weisheit, wissenschaftliche Erkenntnis, Verständigkeit und Gewandtheit zu den Tugenden.

Thema des zweites Buchs sind Güte, Verständnis, Wohlberatenheit, Beherrschtheit und Unbeherrschtheit, Lust, Schicksal, Kalokagathie (wörtlich: Schön-gut-Sein), Freundschaft (auf der Basis von Nutzen, Lust und Tugend), das Zusammenleben (es ist am wichtigsten, daß man einander angenehm ist), Wohlwollen, Eintracht und Selbstliebe.

Interessant ist, daß Aristoteles die Gottesliebe ausschließt: „Bei der Freundschaft mit Gott aber ist kein Raum für Gegenliebe, noch überhaupt für Liebe. Denn es wäre absurd, wenn jemand behauptete, er liebe den Zeus“ (1208b). Eine Begründung dafür gibt Aristoteles nicht. Daraus, daß Unbeseeltes Beseeltes nicht lieben kann (davon handelt der nächste Satz), kann man ja keine Rückschlüsse auf das Verhältnis der Menschen zu Gott ziehen.

10. Politik

Themen sind Familie und Haushalt, frühere Verfassungsentwürfe, allgemeine Staatstheorie, tatsächliche Verfassungen und vollkommene Verfassung. „Der beste Staat ist auf der vollkommenen Art zu leben (eu zēn) aufgebaut“ – deshalb ist die Erziehung wichtig. Daß der Mensch ein zōōn politikon sei (1253a) bedeutet nicht, daß sich alle politisch engagieren müssen, sondern daß der Mensch der Gemeinschaft bedarf (Dietrich Mannsperger, in: KNLL 1/707).

Aristoteles definiert den Staat als „eine Gemeinschaft von Ebenbürtigen zum Zwecke eines mgölcihst guten Lebens“ (1328a). Bemerkenswert ist seine Demokratiekritik. Aristoteles zufolge scheint die Demokratie „durch zwei Dinge charakterisiert zu sein: durch die Herrschaft der Mehrheit und durch die Freiheit. Die Gerechtigkeit scheint in der Gleichheit zu bestehen, und die Gleichheit wäre die, daß gilt, was der Mehrheit gefällt. Die Freiheit aber wäre, daß jeder tun kann, was er will. Und so lebt denn in solchen Demokratien jeder, wie er will, und danach sehnt er sich, wie Euripides sagt. Dies ist aber falsch. Denn im Gehorsam gegen die Verfassung zu leben, darf man nicht als Knechtschaft auffassen, sondern als Rettung der Verfassung“ (1310a).

Im sechsten Buch wird Aristoteles ausführlicher: „Grundlage der demokratischen Staatsform ist die Freiheit […]. Zur Freiheit gehört aber erstens, daß man abwechselnd regiert und regiert wird. […] Ein anderes ist, daß man leben kann, wie man will. […] Von daher kommt denn, daß man sich nicht regieren läßt“ (1317b).

Die Demokratie zeichne sich durch „Unadligkeit, Armut, Unbildung“ aus (1317b). Daß die Mehrheit über eine Minderheit bestimme, führe zu „Ungleichheit und Ungerechtigkeit“, nämlich zur Konfiskation des Eigentums der zahlenmäßig unterlegenen Reichen (1318a).

11. Der Staat der Athener

Es handelt sich um ein Buch eines zumindest geplanten, aber verlorenen Sammelwerks über die 158 griechischen Stadtstaaten. Im ersten Teil (Kap. 1-41) bespricht Aristoteles die Geschichte der Verfassungen Athens, im zweiten Teil analysiert er die aktuelle Verfassung (Kap. 42-63), bei der die Bekämpfung der Korruption bemerkenswert ist: Amtsträger „schwören, ihr Amt gerecht und gemäß den Gesetzen auszuüben, keine Geschenke aufgrund ihres Amtes anzunehmen und, falls sie doch etwas annähmen, ein goldenes Standbild zu weihen“ (Kap. 55).

12. Rhetorik

Aristoteles definiert die Rhetorik „als Fähigkeit […], das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen“ (1355b). Er behandelt „drei Redegattungen“: „Beratungs-, Gerichts- und Festrede“ (1358b).

Das Thema: Wie kann man so reden, daß die Zuhörer einem Glauben schenken? Die Antwort des Aristoteles: Es kommt vor allem auf die Inhalte an (Buch 1 und 2), erst in zweiter Linie auf Stil und Gliederung (Buch 3). „Glaubhaft und überzeugend kann nur der Redner wirken, der ebenso das ēthos wie das pathos beherrscht, d. h. der sich einerseits genau auf Individualität und Stimmung des Hörers einzustellen weiß, dem aber andererseits zu gegebener Zeit (vor allem am Ende einer Rede) auch Mittel zur Erregung des Affekts und der mitreißenden Leidenschaft zu Gebot stehen“ (Egidius Schmalzriedt, in: KNLL 1/709).

Auffällig ist der breite Raum, den Aristoteles dem Enthymem widmet, auf das er im Text mehrfach zurückkommt. Es handelt sich dabei um eine Argumentationsform, die sich in drei Punkten vom Syllogismus unterscheidet: 1. Einer oder zwei Argumentationsschritte fallen weg und müssen vom Leser bzw. Hörer ergänzt werden. 2. Das Enthymem beschränkt sich auf Plausibilität oder Wahrscheinlichkeit, verzichtet also auf logische Wahrheit. 3. Es ist auf eine bestimmte Situation und bestimmte Menschen ausgerichtet. Von daher fehlt die Allgemeingültigkeit eines Syllogismus.

Außerdem erklärt Aristoteles noch, was eine Gnome ist: „eine Aussage […] über allgemeine Dinge“, insbesondere „all das, was menschliches Handeln betrifft und was man dabei wählen und meiden soll. Da nun Enthymeme so etwas wie Syllogismen darüber sind, so sind die Schlußfolgerungen der Enthymeme und die Prämissen, läßt man den Syllogismus weg, Gnomen, z. B.: „Nie streb‘ ein Mann, der verständig ist, danach, zu hoher Weisheit aufzuziehn der Kinder Geist!“ (1394a)

Zur Verdeutlichung der Unterschiede verwandle ich die Gnome zurück in einen Syllogismus: Mit hoher Weisheit ist der Geist von Kindern überfordert. Den Geist von Kindern zu überfordern zeugt von Unverstand. Also überfordert ein verständiger Mann den Geist von Kindern nicht.

Und hier das Ganze als Enthymem: Mit hoher Weisheit ist der Geist von Kindern überfordert. Also überfordert ein verständiger Mann den Geist von Kindern nicht. Die drei Merkmale des Enthymems:

1. Die zweite Prämisse fehlt und muß vom Leser ergänzt werden.
2. Die erste Prämisse ist lediglich für ein Durchschnittskind wahrscheinlich oder plausibel. Es gibt Ausnahmen.
3. Das Enthymem bezieht sich auf die Erziehung von Kindern.

Die wichtigste Stelle in der ganzen „Rhetorik“ lautet: Die Rhetoriktheorie ist „wegen der Schlechtigkeit der Zuhörer von großer Bedeutung. […] Es ist nämlich, will man etwas klarlegen, durchaus von Belang, ob man so oder so formuliert, freilich nicht allzuviel: All das jedoch ist äußerer Schein und an die Adresse des Zuhörers gerichtet“ (1404a). Der klare Ausdruck ist der beste. Man soll natürlich reden. Künsteleien machen einen unnatürlichen Eindruck, „denn die Leute fühlen sich betrogen, wenn man heimlich etwas gegen sie im Schilde führt, ähnlich wie wenn Wein gepanscht wird“ (1404b).

13. Poetik

Hier geht es um die Dichtkunst, vor allem um Tragödie und Epos. Zentraler Begriff ist die Katharsis, die Reinigung von „Jammer und Schaudern“ durch das Hervorrufen dieser Erregungszustände (1449b). Der Theaterbesuch wird dadurch zu einer Art seelischer Reiztherapie: Man heilt sich selbst dadurch, daß man sich gegen den Reiz wendet.

Die Odyssee des Homer faßt Aristoteles folgendermaßen zusammen (zit. n. d. Ausgabe v. Manfred Fuhrmann): „Jemand weilt viele Jahre in der Fremde, wird ständig von Poseidon überwacht und ist ganz allein; bei ihm zu Hause steht es so, daß Freier seinen Besitz verzehren und seinem Sohne nachstellen. Er kehrt nach schweren Bedrängnissen zurück und gibt sich einigen Personen zu erkennen; er fällt über seine Feinde her, bleibt selbst unversehrt und vernichtet die Feinde“ (1455b).

Darüber 12200 Hexameterverse (KNLL 8/25) zu schreiben ist keine Kleinigkeit. Aristoteles nennt das „Ausgestaltung im einzelnen“ (1455b).

Bei seinem folgenden Kommentar zeigt sich der Logiker: „Homer hat den übrigen Dichtern auch besonders gut gezeigt, wie man Täuschungen anbringen kann. Es handelt sich hierbei um den Fehlschluß. Wenn nämlich, sobald eine Tatsache A vorliegt oder eintritt, infolgedessen auch eine Tatsache B vorliegt oder eintritt, dann meinen die Leute, daß, wenn B vorliegt, auch A vorliege oder eintrete; dies ist ein Irrtum. Daher muß man, wenn A unwahr ist und B, falls A vorläge, ebenfalls mit Notwendigkeit vorläge oder einträte, B hinzufügen; denn da unser Verstand weiß, daß B wahr ist, begeht er den Fehlschluß, auch A für wirklich zu halten“ (1460a).

Anhand des konkreten Beispiels aus dem 19. Buch der Odyssee (Verse 164-248) wird das verständlicher: „Der heimgekehrte Odysseus gibt sich vor Penelope als ein Kreter namens Aithon aus und behauptet, er habe Odysseus kennengelernt, als dieser gen Troja fuhr. Penelope ist mißtrauisch und bittet ‚Aithon‘, ihr die Kleidung des Odysseus zu beschreiben. Odysseus weiß ihr natürlich richtige Auskünfte zu geben; sie wiederum folgert hieraus fälschlich, daß ‚Aithons‘ Begegnung mit Odysseus stattgefunden habe und auch der Rest von dessen Geschichte wahr sei“ (Anm. 12, S. 135).

Angesichts der Uneinigkeit über die vielzitierte Tragödiendefinition des Aristoteles (1449b) meint Ingemar Düring: „Wie K. Reinhardt mit Recht feststellte, gibt es gegenüber einer Fülle von Erklärungen nur einen Ausweg: an nichts zu glauben, was nicht dasteht“ (DA 171).

Über den Katharsisstreit „sagt Schadewaldt richtig: so viele Köpfe, so viele Meinungen“ (DA 173). Der Interpretationswirrwarr ist in diesem Punkt so groß, daß Düring über F. Elses Ansicht schreibt: „Ob richtig oder falsch, diese Deutung hat den Vorteil, vollkommen klar zu sein. Allerdings hören wir hier die Stimme eines Rufers in der Wüste. Soweit mir bekannt, haben alle, die sich in der Frage geäußert haben, seine Erklärung abgelehnt. Aber das ist in Wirklichkeit mit allen Erklärungen der katharsis der Fall, wie Schadewaldt bemerkt“ (DA 174). Eines steht immerhin fest: „Daß katharsis ‚Wegschaffen, Fortschaffen‘ bedeutet, ist vollkommen klar“ (DA 175).

Wer meint, daß sich schon die Nachfolger des Aristoteles derart den Kopf über die Poetik zerbrochen hätten, irrt allerdings: „Die Poetik […] blieb, wie die Rhetorik, ohne Einfluß auf die folgende Entwicklung. Für Theophrast und seine Generation war die Fragestellung offensichtlich überhaupt nicht aktuell“ (DA 182).

14. Metaphysik

Der Titel geht auf Andronikos aus Rhodos zurück, der das Vorlesungsmanuskript in seiner Aristotelesausgabe hinter die „Physik“ stellte (ta meta ta physika = die hinter der Physik). Inhalt ist die „erste Philosophie“, d.h. der wesentlichste Teil des aristotelischen Werks. Aristoteles bestimmt deren Gegenstand folgendermaßen: „Das Wesen ist der Gegenstand unserer Betrachtung; denn die Prinzipien und Ursachen der Wesen werden gesucht“ (1069a). Ganz wörtlich: Über das Wesen [peri tēs ousias] [ist] die Theorie [theoria]; denn die Prinzipien [archai] und Ursachen [aitia] der Wesen [tōn ousiōn] werden gesucht.

Andere Übersetzungen der griechischen Termini (nach Menge-Güthling):

  • ousia = Dasein, wahrhaftes Sein, Wesen(heit), wirkliche Beschaffenheit, Wirklichkeit, Realität, Wahrheit, Stoff, Substanz;
  • theoria = das Anschauen, Beschauen, In-Augenschein-Nehmen, Betrachtung, Besichtigung, Forschung, Untersuchung, wissenschaftliche Behandlung oder Erkenntnis, Theorie, Spekulation, Kenntnis, Wissenschaft;
  • archē = Anfang, Beginn, Ursprung, Geburt, Ausgangspunkt, Ursache, erste Veranlassung, Grund, Quelle, Anfangsgründe (einer Wissenschaft), Prinzip, Element, Grundstoff;
  • aition = Ursache, Grund, Veranlassung, Urgrund, Urkraft, Schöpferkraft.

Der Gegenstand der ersten Philosophie ist also die Erforschung der Wahrheit (= Erkenntnistheorie) und der Realität (= alles, was ist bzw. uns erscheint). Der Gegenstand wird dadurch eingeschränkt, daß bei der Realität nur folgendes interessiert: Wie ist sie zusammengesetzt? Was sind ihre Elemente? Woher kommt sie? Wie ist sie entstanden? Wodurch? Warum?

Ingemar Düring listet verschiedene aristotelische Bestimmungen der ersten Philosophie auf, um sich dann der Definition von Hermann Bonitz anzuschließen: „Erste Philosophie ist die Wissenschaft von den ersten, göttlichen, unbewegten, abstrakten Prinzipien. Nicht nur logische Priorität ist gemeint, sondern auch Wertpriorität“ (DA 114).

Aristoteles fährt fort: „Der Wesen sind drei: erstens das sinnlich wahrnehmbare […]. Zweitens das unbewegliche (Wesen).“ Drittens „die Materie“ (1069ab).

Es bräuchte einen eigenen Aufsatz, um den Inhalt der Metaphysik des Aristoteles auch nur stichwortartig zu umreißen. Deshalb gehe ich hier nur auf „das sicherste unter allen Prinzipien“ ein, nämlich den Satz vom Widerspruch: „Daß nämlich dasselbe demselben in derselben Beziehung […] unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann“. Dieses „Prinzip ist seinem Wesen nach zugleich Prinzip der anderen Axiome“ (1005b).

Wer meint, das müsse Aristoteles erst beweisen, verrät seiner Ansicht nach nur seine mangelhafte Bildung; „denn Mangel an Bildung ist es, wenn man nicht weiß, wofür ein Beweis zu suchen ist und wofür nicht. Denn daß es überhaupt für alles einen Beweis gebe, ist unmöglich, sonst würde ja ein Fortschritt ins Unendliche eintreten und auch so kein Beweis stattfinden“ (1006a).

Wer den Satz vom Widerspruch nicht anerkennt, mit dem kann man nicht streiten, „denn er sagt nichts. Denn er sagt weder, daß sich etwas so, noch, daß es sich nicht so verhalte, sondern sowohl so als auch nicht so; und wiederum verneint er beides, daß es sich weder so, noch nicht so verhalte; denn sonst wäre ja schon etwas bestimmt“ (1008a).

Der Satz „‚kontradiktorische Aussagen können nicht zugleich wahr sein'“ ist für Aristoteles „der sicherste unter allen“ Sätzen. Dasselbe gilt für konträre Aussagen (1011b).

Kontradiktorische Aussagen können „nicht zugleich wahr oder zugleich falsch sein“. Vielmehr kann „aus der Wahrheit der einen die Falschheit der anderen geschlossen werden […] und umgekehrt aus der Falschheit der einen die Wahrheit der anderen.“ Konträre Aussagen können „nicht zugleich wahr, jedoch zugleich falsch sein“ (Peter Prechtl, in: MPhL 301).

Die Angelegenheit ist Aristoteles offensichtlich so wichtig, daß er sie weiter unten wiederholt: „Es gibt für das Seiende ein Prinzip, über welches man sich nie täuschen kann, sondern bei dem immer das Gegenteil, ich meine die Wahrheit, stattfinden muß, nämlich der Satz: Es ist nicht möglich, daß dasselbe zu einer und derselben Zeit sei und nicht sei, und was noch sonst in dieser Weise einander entgegengesetzt ist. Einen Beweis schlechthin gibt es für einen solchen Satz nicht, wohl aber kann man gegen einen bestimmten Gegner einen Beweis dafür führen. Es ist nämlich nicht möglich, im Schließen von einem Prinzip auszugehen, welches sicherer wäre als eben dieser Satz; und doch müßte das der Fall sein, wenn ein Beweis schlechthin sollte geführt werden können“ (1061b-1062a).

15. Unechtes

Über die Tugend galt von der Antike bis zur Renaissance „allgemein als aristotelisch“. In seiner Griechischen Philosophiegeschichte (1865) schrieb Eduard Zeller das kurze Werk „einem peripatetischen Eklektiker zu“ (Ernst A. Schmidt: Einleitung, S. 18). Seine „Beobachtungen und Vermutungen sind im ganzen bis heute für die Einordnung und Bewertung der Schrift bestimmend geblieben“ (S. 17). Paul Gohlke hält die Schrift dagegen in seiner Arbeit über „Die Entstehung der aristotelischen Ethik, Politik, Rhetorik“ (1944) für echt (S. 21).

Behandelt werden Verständigkeit, Gelassenheit, Tapferkeit, Besonnenheit, Beherrschtheit, Gerechtigkeit, Großzügigkeit und Seelengröße auf der einen, Unverstand, Heftigkeit, Feigheit, Zügellosigkeit, Unbeherrschtheit, Ungerechtigkeit, Knauserigkeit und kleiner Geist auf der anderen Seite. Mit letzterem ist derjenige „Fehler der Seele“ gemeint, „gemäß welchem man unfähig ist, Glück und Unglück und Ehre und Unehre zu ertragen“ (50a).

Die Physiognomik gehört zu einer ganzen „Reihe von unechten Schriften […], die ihre naturwissenschaftlichen Kompilationen mit dem Namen des Meisters [Aristoteles] legitimieren wollen“ (Lesky 645).

Der unbekannte Autor versucht, von körperlichen Merkmalen auf seelische Eigenschaften zu schließen. Das begründet er so: „Das Seelenleben ist abhängig vom Körper und besteht nicht für sich allein. […] Körper und Seele bilden eine solche Einheit, dass sie sich gegenseitig Erregungs- und Formbildungsursache sind. […] Ein bestimmter Körper entspricht einer bestimmten Seele“ (805a). Seine Erklärung dafür ist, „dass das körperliche Erscheinungsbild sich nach dem seelischen gestaltet aufgrund eines gemeinsamen Etwas“ (808b).

„Die Physiognomik […] bezieht sich auf die naturgegebene, veranlagte Seite des seelischen Seins und Geschehens und auf das Hinzuerworbene, das eine Veränderung der Physiognomie mit sich brachte“ (806a). Es werden drei Arten der bisherigen Physiognomik unterschieden:

  • die Herausarbeitung von körperlichen und seelischen Typen „bei den verschiedenen Arten lebender Wesen“;
  • der Vergleich von Körpermerkmalen des Menschen mit Tiertypen oder Menschentypen anderer Völker und der Rückschluß von körperlichen auf seelische Merkmale;
  • die Untersuchung flüchtiger Emotionen (805a).

Der Autor selbst schränkt die Aussagekraft von Vergleichen mit Tieren ein:

  • Die Ähnlichkeit sei beschränkt.
  • Manche Merkmale treten bei mehreren Arten auf.

Auf die Wiedergabe von Beispielen verzichte ich, da sie mich nicht überzeugen.

Über Hauswirtschaft wird von Paul Gohlke für echt gehalten, obwohl es „heute kaum noch einen Philologen“ gibt, „der beide Bücher oder Werke – vom sogenannten dritten ganz abgesehen – für aristotelisch hielte“ (Einleitung, S. 5). Das erste Buch handelt vom Umgang mit der Ehefrau, von den Knechten, vom Geld und von der Hauseinrichtung. Im zweiten Buch folgt auf Ausführungen über „die königliche, die provinzielle, die städtische und die private“ Hauswirtschaftsform (1345b) eine Sammlung von Betrugsgeschichten über Regenten. „Das sogenannte dritte Buch hat mit Hauswirtschaft kaum etwas zu tun und wird in der Tat die bei Hesych unter Nr. 166 aufgeführte Schrift ‚Gesetze des Mannes und der Ehe‘ sein“ (Einleitung, S. 15).

An König Alexander über die Welt stammt nicht von Aristoteles, sondern von einem anonymen Autor im 1./2. Jh. n. Chr., der sich den Namen Aristoteles zu Unrecht beigelegt hat. Gohlke hält das Werk gleichwohl für echt. Zwischen den naturwissenschaftlichen Ausführungen auf der Basis der fünf Elemente oder Urstoffe Feuer, Wasser, Luft, Erde und Äther stechen die Stellen über Gott heraus. Er ist der unsichtbare „Erhalter und Schöpfer aller Dinge“ und kann nur anhand der Schöpfung erkannt werden. Von ihm heißt es, „daß kein Wesen sich selber genug ist, wenn es von seiner Hilfe abgeschnitten ist“ (397b). Er „ist einer, aber er hat viele Namen, da er benannt wird je nach den Eigenschaften, in denen er sich immer neu darstellt“ (401a).

Ein Kuriosum ist die von Traugott Gründlich verfaßte, aber dem Aristoteles in die Schuhe geschobene, angeblich 1941 in einem griechischen Kloster gefundene Schrift Über das Handwerk der Tyrannen oder (etwas freier „übersetzt“) Die Technik der Diktatur, die ich wegen des tatsächlichen biographischen Hintergrunds erwähne:

Aristoteles‘ Studienfreund an der platonischen Akademie Hermias (gest. um 341 v. Chr.) war ursprünglich wohl ein Sklave, vielleicht Eunuche. Um 350 v. Chr. stürzte er den Tyrannen Eubulos und wurde dessen Nachfolger als Tyrann von Atarneus und Assos in Nordwest-Kleinasien. Nach Platons Tod 347 v. Chr. folgte Aristoteles der Einladung des Hermias an seinen Hof. Er heiratete dessen Adoptivtochter Pythias, mit der er eine Tochter hatte, die er nach ihrer Mutter nannte. Um 342 schloß Hermias ein Bündnis mit Makedonien und wurde von bald darauf von Philipp II., Alexanders Vater, beseitigt.

Seine Beziehung zu Hermias wurde Aristoteles nach Alexanders Tod 323 v. Chr. zum Verhängnis, als Athen zum „Zentrum der Opposition gegen Makedonien“ wurde (EPhW 1/168). Wegen eines Lobgesangs und eines Epigramms auf Hermias wurde Aristoteles vom Oberpriester Eurymedon oder von Demophilos „wegen angeblicher Gottlosigkeit“ angeklagt und floh nach Chalkis. „Hier starb er an einem Schierlingstrank, wie Eumelos in dem fünften Buch seiner Geschichten erzählt“. Laut den Chronika des Apollodor starb Aristoteles „an einer Krankheit“ (Diogenes Laertios V 1,6 und 10).

© Gunthard Rudolf Heller, 2015

Literaturverzeichnis

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  • Der Staat der Athener, übersetzt und herausgegeben von Martin Dreher, Stuttgart 1997
  • Organon, Griechisch – deutsch, 4 Bände (3 und 4 in einem Band), herausgegeben, übersetzt, mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Hans Günter Zekl, Hamburg 1997
  • Physik, Griechisch – deutsch, 2 Halbbände, übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Hans Günter Zekl, Hamburg 1987/88
  • Vom Himmel. Von der Seele. Von der Dichtkunst, übersetzt, herausgegeben und für die vorliegende Ausgabe mit einer neuen Vorbemerkung versehen von Olof Gigon, München 21987
  • Über Werden und Vergehen / De generatione et corruptione, Griechisch – Deutsch, übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Thomas Buchheim, Hamburg 2011
  • Kleine Schriften zur Seelenkunde, herausgegeben, übertragen und in ihrer Entstehung erläutert von Paul Gohlke, Paderborn 1947
  • Nikomachische Ethik, auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes herausgegeben von Günther Bien, Hamburg 41985
  • Magna moralia, übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier, Darmstadt 31973
  • Politik, übersetzt und herausgegeben von Olof Gigon, München 71996
  • Rhetorik, übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, Stuttgart 2005
  • Poetik, Griechisch / Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1996
  • Metaphysik, Griechisch – Deutsch, Übersetzung von Hermann Bonitz, neu bearbeitet, mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Horst Seidl, 2 Halbbände, Hamburg 21982/84

[PSEUDO-]ARISTOTELES: Über die Tugend, übersetzt von Ernst A. Schmidt, Darmstadt 1965

  • Physiognomik – Der Zusammenhang zwischen Körper und Seele und der Ausdruck der Seele durch den Körper, Übersetzung von Max Schneidewin (1929), bearbeitet von Fritz Aerni, Zürich 2006
  • Über Hauswirtschaft, herausgegeben, übertragen und in ihrer Entstehung erläutert von Paul Gohlke, Paderborn 1947 (nur deutsche Übersetzung)
  • An König Alexander über die Welt, herausgegeben, übertragen und in ihrer Entstehung erläutert von Paul Gohlke, Paderborn 1949 (zweisprachig)
  • Die Technik der Diktatur – Eine nachgelassene und wiederentdeckte Schrift des Aristoteles, übersetzt und erläutert von Traugott Gründlich, Rastatt 1960

DIHLE, Albrecht: Griechische Literaturgeschichte – Von Homer bis zum Hellenismus, München 21991

DIOGENES LAERTIOS: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Buch I – X, aus dem Griechischen übersetzt von Otto Apelt, Hamburg 21967

DÜRING, Ingemar: Aristoteles – Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg 1966 (DA) – (Hg.): Naturphilosophie bei Aristoteles und Theophrast – Verhandlungen des 4. Symposium Aristotelicum veranstaltet in Göteborg · August 1966, Heidelberg 1969

ENZYKLOPÄDIE PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFTSTHEORIE, hg. v. Jürgen Mittelstraß, 4 Bände, Stuttgart/Weimar 2004 (EPhW)

HOMER: Odyssee, übersetzt von Johann Heinrich Voß, Stuttgart 1970

IAMBLICHOS: Pythagoras – Legende · Lehre · Lebensgestaltung, griechisch und deutsch, herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Michael von Albrecht, Darmstadt 21985

KAYSER, Hans: Vom Klang der Welt. Wiederentdeckung der klassischen Lehre von der Harmonie der Welt, in: Pythagoras – Weisheitslehrer des Abendlandes, hg. v. Inge von Wedemeyer, Ahlerstedt, 1988, S. 37ff – Was ist Harmonik? und Von der Erfahrung der Quantität und Qualität, in: a.a.O. 1988, S. 48-53

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MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, 25 Bände, Mannheim/Wien/Zürich 91980/81

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ZOGLAUER, Thomas: Einführung in die formale Logik für Philosophen, Göttingen 1999

(Bei Zitaten aus Lexika habe ich die Abkürzungen in der Regel ausgeschrieben.)

Gunthard Heller