Einführung in das Werk von Albert Camus

Camus (1913-1960) studierte in Algier Philosophie, wurde aber nicht zum Staatsexamen zugelassen, da er an Tuberkulose litt. Seine Abschlußarbeit schrieb er 1936 über „Christliche Metaphysik und Neoplatonismus“ (so der Titel). Er wurde Schauspieler, Journalist, Redaktionssekretär, Lektor, Redakteur und Schriftsteller, der Essays, Romane und Theaterstücke schrieb.

Albert CamusDavor und zeitweise nebenher schlug er sich als Schreiber, Verkäufer, Mitarbeiter eines meteorologischen Instituts und Privatlehrer durch. Eine Zeitlang war er Mitglied der Kommunistischen Partei. Während der Besatzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten schloß er sich dem Widerstand an.


"Der Gedankengang von Camus‘ Werk, das dem französischen Existentialismus […] zugezählt wird, enthält drei Schritte: vom Absurden über die Revolte zum Maß. Jedem Schritt ist ein Triptychon von Roman, philosophischem Essay und Theaterstück gewidmet, begleitet von literarischen Essays, politisch-philosophischen Stellungnahmen (gegen die Todesstrafe, über die Diktatur, zur Verteidigung von Vernunft und Freiheit, zur Stellung des Künstlers in seiner Zeit etc.) und Tagebuchaufzeichnungen" (Kuno Lorenz, in: EPhW 1/370; vgl. a. MEL 5/292 und Todd 188).


Olivier Todd gibt (meist) auf der Basis von Zitaten Camus‘ (über die ganze Biographie verteilt) folgende Einteilung:



  • Absurdes: Der Fremde, Der Mythos von Sisyphos, Caligula, Das Mißverständnis;

  • Revolte: Die Pest, Der Mensch in der Revolte, Das Mißverständnis, Der Belagerungszustand, Die Gerechten;

  • Maß (auch "Zyklus von Vernunft und Glück", Todd 758): Der erste Mensch

Die Schematisierung ist, wie man sieht, einerseits nicht eindeutig ("Das Mißverständnis" kommt doppelt vor), andererseits nicht vollständig:


  • Es fehlen z.B. Camus‘ Beschäftigung mit der Metaphysik (Gott, Schöpfung, Schicksal, Religion) und mit dem Sozialen (Liebe, Politik).

  • Zur Revolte kann man noch "Die Besessenen" rechnen, zum Maß das Kapitel "Maß und Maßlosigkeit" in "Der Mensch in der Revolte".

  • Beim Maß ist nur ein unvollendeter Roman angegeben.

  • Camus plante noch zwei weitere Themen: 4. "Zerrissene Liebe" mit den Titeln "Der Scheiterhaufen – Von der Liebe – Der Verführerische" und 5. (ohne Überschrift) "Korrigierte Schöpfung oder Das System – großer Roman + große Meditation + unspielbares Stück" (Tagebucheintrag vom Juni 1947, S. 360).


Auch die Zuschreibung zum Existentialismus (vgl. a. Störig 441; Émile Henriot und Anders Osterling, in Todd 752) ist nicht unproblematisch, gelinde ausgedrückt. Im September 1944 finden wir folgenden Tagebucheintrag von Camus:

"Da sich hinter dem Wort Existenz etwas verbirgt, das unsere Sehnsucht ist, aber da es gleichzeitig auch die Bejahung einer höheren Wirklichkeit impliziert, wollen wir es nur in verwandelter Form beibehalten – wir werden von einer inexistentiellen Philosophie sprechen, was keine Verneinung ausdrückt, sondern nur den Zustand des ‚Menschen ohne’… umschreiben will. Die inexistentielle Philosophie wird die Philosophie des Exils sein" (S. 280).

1945 schrieb Camus in dem Artikel "Pessismismus und Mut": "Ich fühle mich von der allzu berühmten Existenzphilosophie nicht besonders angesprochen und bin offengestanden sogar der Ansicht, daß ihre Schlußfolgerungen falsch sind. Aber sie stellt immerhin ein großes Abenteuer des menschlichen Denkens dar" (Fragen der Zeit 56).

Todd gibt Camus‘ Einstellung zum Existentialismus folgendermaßen wieder: "Er definiert ihn selten und immer nur, um sich davon abzusetzen" (S. 455). Camus hat immer wieder gesagt, er sei "’kein Existentialist’" (Todd S. 627, 699 und 756; s.a. S. 435, 442, 815).

"Christliche Metaphysik und Neoplatonismus"

Camus faßt am Schluß seiner Arbeit deren "Ergebnis" so zusammen: "Das Christentum entlehnte dem griechischen Denken sein Material und dem Neoplatonismus eine Methode. Es erhielt sich seine innere Wahrheit unberührt, indem es alle Schwierigkeiten auf der Ebene der Inkarnation behandelte. Und wenn es nicht eben diese verwirrende Art der Problemstellung gebracht hätte, hätte Griechenland es ohne Zweifel aufgesogen. Es hatte schon anderes mitgemacht. Dies zumindest ist klar" (S. 122).

Der Rest des Schlußkapitels ist den verbleibenden "Schwierigkeiten" gewidmet:


  • Welche Bedeutung hatte Philon von Alexandria?

  • Was haben Origenes und Klemens von Alexandria zur christlichen Dogmatik beigetragen?

  • Wie steht es mit weiteren Einflüssen auf das Christentum wie "Kabbala, Zend-Avesta, indische Philosophien oder ägyptische Theurgie" (S. 122)?

  • Inwieweit unterscheiden sich griechische und christliche Moral?

  • Was ist eigentlich neu am Christentum?

  • Gibt es spezifisch christliche Begriffe?

Nur in folgenden Punkten gibt Camus konkrete Antworten:


  • "Doch die christliche Moral ist nicht Gegenstand einer Lehre, sie ist eine innerliche Askese, die einen Glauben sanktionieren will" (S. 122).

  • Den Unterschied zwischen dem "’griechischen’" und "’christlichen Menschen‘ […] vermögen wir aber nachzuweisen, wenn wir Hieronymus in der Wüste im Ringen mit der Versuchung und die jungen Leute, die dem Sokrates lauschen, miteinander vergleichen" (S. 123).

  • Für "das pessimistische, düstere und tragische Griechenland" war das Christentum "eine Renaissance" – im Gegensatz zum "Sokratismus und seiner Heiterkeit" (S. 124).

  • "Die ganze Anstrengung des Christentum gilt dem Kampf gegen diese Trägheit des Herzens", nämlich das Leid zu überwinden (S. 124).

  • Mit Augustinus wurde das Christentum katholisch in dem Sinn, daß es die einzige Hoffnung und der einzige Schutz "gegen den Unstern der westlichen Welt" war (S. 124).

Einwände von mir:


  • Ist nicht der einzige prinzipielle Unterschied zwischen Stoikern oder Kynikern auf der einen und Christen auf der anderen Seite die Ausrichtung der Christen auf Jesus hin?

  • Hat sich etwa von der Lebensbejahung Jesu (vgl. Mt 11,19; 25,21.23; Lk 15,32; Joh 3,29; 15,11; 17,13) nichts auf seine zeitlich ferneren Nachfolger übertragen?

  • Wäre der Neuplatonismus nicht breitenwirksam geworden, wenn die Christen ihn nicht unterdrückt hätten?

"Der glückliche Tod"

Dieser erste Roman von Camus entstand zwischen 1936 und 1938 und wurde von ihm nicht veröffentlicht. Er ist in zwei Teile mit den Überschriften "Der natürliche Tod" und "Der bewußte Tod" gegliedert.

Der erste Teil handelt vom Tod des Roland Zagreus in Algier, der auf allerhand krummen Wegen reich geworden ist, aber seinen Reichtum wegen eines Unfalls nicht genießen konnte, der ihn zu einem Krüppel ohne Beine gemacht hat. So hat er zwanzig Jahre damit verbracht, bescheiden im Rollstuhl zu leben und wenig zu trinken, damit er nur einmal täglich Wasser lassen muß.

Zagreus hat sein Geld in einer Kassette aufbewahrt, die er zusammen mit einem Abschiedsbrief und einem Revolver in einer Truhe verstaut hat. Wenn er seines pflegebedürftigen Lebens überdrüssig ist, legt er den Brief vor sich hin und spielt mit dem Revolver. Das führt ihm vor Augen, wie leicht es ist, sich umzubringen. Andererseits graut ihn dann vor der Verneinung des Lebens, was seinen Lebenswillen bestärkt.

Patrice Mersault lernt Zagreus über seine Geliebte Marthe kennen. Bevor sie Patrice kennenlernte, hat sie mit ca. zehn Männern geschlafen. Der erste von ihnen war Zagreus. Er ist der einzige, den Patrice nicht kennt, und der einzige, den Marthe noch ab und zu besucht. Als sie ihm von Patrice erzählt, will Zagreus ihn kennenlernen. Im Gespräch stellen die beiden fest, daß sie beide am Leben gehindert werden: Zagreus durch seine amputierten Beine, Patrice durch die tägliche achtstündige Büroarbeit.

Als Patrice fast alles Geld von Zagreus in seinen Koffer räumt, ihn erschießt und den Mord als Selbstmord tarnt, wehrt Zagreus sich nicht. Seine einzige Reaktion ist, daß er weint, als der Revolver auf ihn gerichtet ist. Der Selbstmord erscheint der Polizei plausibel, in der Zeitung erscheint ein Bericht, Patrice verreist nach Lyon. Von dort schreibt er Marthe einen Abschiedsbrief und reist trotz eines Fieberanfalls weiter nach Prag, so daß ihn Marthes Antwortbrief nicht mehr erreicht.

Zweiter Teil: In einem Prager Hotel nimmt Mersault das billigste Zimmer und geht auch billig essen. Er fühlt sich verlassen und einsam. Warum er weint, kann er sich nicht erklären. Sein ungepflegtes Äußeres macht ihn unsicher. Die Menschen meiden seinen Blick. Nach ein paar Tagen fährt er mit dem Zug in Europa herum, bevor er nach Algier zurückkehrt.

Jetzt richtet er sich sein Leben so ein, wie er’s haben will. Er probiert die Gesellschaft mit befreundeten Frauen aus, kauft sich auf dem Land ein Haus, renoviert es, heiratet und beauftragt einen Angestellten mit dem Verkauf von Arzneimitteln, die er in Deutschland erworben hat. Dieses Geschäft ist nicht auf Gewinn ausgerichtet, sondern dient nur der bürgerlichen Fassade. Als Mersault Marthe wiedertrifft, erfährt er, daß sie ihm nicht mehr böse ist und sich inzwischen mit anderen Männern getröstet hat.

Eine Herzattacke beim Bergsteigen wird gefolgt von einer Rippenfellentzündung. Ausgiebiges Schwimmen im Meer leitet die tödliche Krankheit ein. In seinem Inneren taucht Zagreus auf, und Mersault begreift, daß er sich durch dessen Ermordung für immer mit ihm verbunden hat. Dann stirbt er bewußt, ohne jemand die Wahrheit über Zagreus Tod und die Herkunft seines Reichtums zu sagen.

Was bei dem Roman nachdenklich macht, sind die Überschriften: Warum soll der Tod von Zagreus, der doch leben will, glücklich sein? Was ist an einem Mord natürlich? Mersault stirbt zwar bewußt, in Erinnerung an Zagreus, den er zeitweise tatsächlich vergessen hat, doch welches Glück sollen seine Krankheitszustände bergen?

Als Antwort auf diese Fragen bleibt meines Erachtens nur die Interpretation, daß mit "Tod" hier jeweils etwas anderes gemeint ist: Zagreus stirbt zum ersten Mal, als er anfängt, durch Betrug reich zu werden. Zum zweiten Mal stirbt er, als er seine Beine verliert, zum dritten Mal, als er sein Leben freiwillig einschränkt, anstatt sein Geld auszugeben. All das ist "natürlich": Wer betrügt, tötet die Seele; den Unfall von Zagreus kann man als ausgleichende Gerechtigkeit des Schicksals interpretieren, sein bescheidenes Leben danach als freiwillige Sühne.

Ebenso kann man die Krankheitszustände von Mersault als Folgen seines Mordes ansehen. Da er selbst diese gedankliche Verbindung nicht herstellt, muß man allerdings denken, daß es mit seinem Bewußtsein nicht weit her sein kann. Doch der Tod seiner Seele, seine Unfähigkeit zu lieben, sind ihm sehr wohl bewußt.

Berta Wiedemann meint, Mersaults Tod sei glücklich, weil er bewußt sterbe (KNLL 3/569). Jean Sarocchi formuliert im Nachwort zu Camus‘ Roman (S. 139-152) "das zentrale Thema des Romans" als Frage: "Wie kann man glücklich sterben? Oder, anders ausgedrückt: Wie kann man so glücklich leben, daß selbst der Tod als Glück empfunden wird? Die Kehrseite dieses glücklichen Lebens und Sterbens wird im Ersten Teil geschildert: Geldmangel, Zeitmangel, die Unfähigkeit, die eigenen Gefühle zu beherrschen. Demgegenüber stellt der Zweite Teil die ‚richtige‘, die Lichtseite dar: finanzielle Unabhängigkeit, Zeiteinteilung, Friede des Herzens" (S. 141).

Was hier fehlt:


  • das Schicksal von Zagreus – auch er stirbt einen Tod!

  • die Beeinträchtigung des Lebens durch Krankheit;

  • die Frage nach Schuld und Sühne.


Camus‘ Einstellung zu Schicksal und Verhängnis zeigen folgende Stellen:


"In welchem Augenblick wird das Leben zum Schicksal? Im Tod? Aber das ist ein Schicksal für die anderen, für die Geschichte oder für die Angehörigen. Durch das Bewußtsein? Aber es ist der Geist, der die Vorstellung vom Leben als Schicksal hervorbringt, der dort einen Zusammenhang einführt, wo es keinen gibt. In beiden Fällen handelt es sich um eine Illusion. Schlußfolgerung?: es gibt kein Schicksal?" (Tagebuch 1942, S. 238)


"’Das alles bestärkt mich in meiner Überzeugung, daß es keine Vorsehung gibt, nur Freunde’" (Brief an Marianne und Pierre Fayol vom 3. Januar 1944, zit. n. Todd 367).


"Man findet sich leicht mit dem Verhängnis ab. […] Vielleicht gibt es dieses Verhängnis. Aber es ist nicht die Aufgabe des Menschen, es hinzunehmen und sich seinen Gesetzen zu unterwerfen. […] Die Aufgabe des gebildeten und gläubigen Menschen besteht auf jeden Fall […] darin, ihren Platz zu behaupten, dem Menschen Hilfe zu bringen gegen das, was ihn unterdrückt, und seine Freiheit zu verteidigen gegenüber den Verhängnissen, die ihn rings umgeben" (Fragen der Zeit 185).


In "Die Pest" vertritt Paneloux die Auffassung, Krankheit sei eine Strafe Gottes, während der Erzähler, der empiristisch und atheistisch eingestellte Arzt Rieux, diese Auffassung ablehnt. Hat Camus "Der glückliche Tod" deshalb nicht veröffentlicht, weil der Roman diese Auffassung nahelegt?


"Licht und Schatten"

Der Originaltitel L’Envers et l’Endroit (1935/36 und 1958, in: Kleine Prosa S. 35-83) bedeutet wörtlich "Die Unterseite und die Oberseite" oder auch freier "Das Verkehrte und das Rechte". Es handelt sich um insgesamt fünf Prosastücke, zu denen Camus mehr als zwei Jahrzehnte später ein Vorwort (1958) geschrieben hat. Darin begründet er, warum die Zeit davor einen Neudruck ablehnte. Erwähnenswert ist "die gierige Glut" (S. 44), von der angeblich die fünf folgenden Stücke "Ironie", "Zwischen Ja und Nein", "Tod im Herzen", "Liebe zum Leben" sowie "Licht und Schatten" zeugen.


Von allem, was ich von Camus in diesem Aufsatz bespreche, lohnen sie die Lektüre am wenigsten. Seine Zusammenfassung von Ironie zeigt immerhin, was er sich bei der Wahl des Titels gedacht hat: "Eine Frau, die man allein läßt, um ins Kino zu gehen; ein alter Mann, dem man nicht mehr zuhört; ein Tod, der nichts gutmacht, und auf der anderen Seite alles Licht der Welt" (S. 55).

Dramen

Caligula (Caligula) entstand 1938 nach der Lektüre von Suetons "Leben der Caesaren" (um 120 n. Chr.). Ursprünglich wollte Camus selbst den Caligula spielen, doch wegen des Zweiten Weltkriegs konnte das Drama erst 1945 aufgeführt werden. Die Kritiker nannten es ein "philosophisches Stück" (S. 9), Camus bezeichnete es als "Tragödie der Erkenntnis" (S. 10).


Im Vorwort faßt er selbst zusammen, um was es geht: Aus Verzweiflung über die Schlechtigkeit der Welt negiert Caligula "Freundschaft und Liebe, Gut und Böse, die einfache Gemeinschaft der Menschen. […] Aber während seine Wahrheit darin besteht, die Götter zu leugnen, besteht sein Irrtum darin, die Menschen zu leugnen. Es ist nicht möglich, alles zu vernichten, ohne sich selbst mit zu zerstören" (S. 9).


Gert Woerner und Berta Wiedemann kommentieren: "Fast alle Figuren sind Träger von Ideen, Verkünder aller denkbaren – also auch der positiven – Möglichkeiten, das Leben in der Absurdität zu bestehen" (KNLL 3/558).


Das Mißverständnis (Le Malentendu), entstanden 1941, handelt von einem "Sohn, der erkannt werden will, ohne seinen Namen nennen zu müssen, und der infolge eines Mißverständnisses von Mutter und Schwester umgebracht wird" (S. 10). Camus will hier für die Aufrichtigkeit plädieren: Hätte der Sohn seinen Namen gesagt, wäre er von Mutter und Schwester erkannt worden. Die Schwester hätte ihn allerdings trotzdem getötet. Das Stück ist also eine Art Negativversion des Gleichnisses vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32).


Ohne vorherige Lektüre des Stücks sind Camus‘ Erläuterungen unverständlich. Das räumt er selbst ein: "Ich habe übrigens nicht den Eindruck, daß diese Erklärungen besonders nützlich sind" (S. 11). Dabei ist das Stück leicht verständlich:


Eine Herbergswirtin und ihre Tochter Martha töten routinemäßig ihre reichen Gäste mit Gift und entsorgen die Leichen am nahegelegenen Wehr, wo sie in Gesellschaft mit Selbstmördern sind und deshalb nicht weiter auffallen. Das geraubte Geld soll dem Erwerb eines Hauses am Meer dienen. Marthas Bruder Jan kehrt nach zwanzigjähriger Abwesenheit zurück. Seine Mutter schaut ihn aus Gewohnheit nicht richtig an, da man einen Unbekannten leichter töten kann als einen Bekannten. Martha schaut nicht in seinen Paß. Jans Frau Marie macht ihrem Mann noch Vorwürfe, daß er sich nicht gleich zu erkennen gibt, doch Jan ist von der fixen Idee besessen, als "Fremder" bzw. "Außenstehender" herauszufinden, wie er seine Mutter und seine Schwester glücklich machen kann (S. 81). Gleichzeitig überschreitet er mit seinem vertraulichen Verhalten jedoch die Grenzen, die ein gewöhnlicher Gast einhält. So erzeugt er von vornherein Unmut, vor allem bei Martha. Dabei könnte man seine Haltung noch als instinktgeleitete Vorsicht gegenüber zwei Verbrecherinnen interpretieren. Andererseits ahnt die Mutter, daß bei diesem Gast etwas anders ist und gibt deshalb auch persönliche Informationen preis. So mißverstehen alle einander: Jan begreift die eigentlich unverblümten Warnungen der beiden Angehörigen nicht, diese begreifen seine Vertraulichkeit nicht.

Der Belagerungszustand (L’Etat de Siège) wurde von den Kritikern verrissen. Es handelt vom totalitären Regime einer Pestepidemie und dem Widerstand dagegen, der durch ein Menschenopfer erfolgreich wird. Es wurde "von den Rechtsdiktaturen ebenso übel aufgenommen […] wie von den Linksdiktaturen" (S. 12).


Die Gerechten (Les Justes) beruht auf historischen Ereignissen: dem Attentat von russischen Anarchisten bzw. Sozialisten auf den Großfürsten Sergej (1905). Camus "wollte bloß darlegen, daß auch der Tat selbst Grenzen gesetzt sind. Nur die Tat ist gut und gerecht, die diese Grenzen anerkennt und, falls sie sie überschreiten muß, zumindest in den Tod willigt" (S. 13). Mit den Grenzen meint Camus: Kinder sollen bei dem Attentat nicht sterben.


Die Besessenen (Les Possédés) ist eine Dramatisierung von Dostojewskis "Dämonen" (1871/72). Camus stützte sich auch auf diejenigen Tagebücher von Dostojewski, die er zur Zeit der Abfassung des Romans schrieb.


Das Stück handelt wie "Die Gerechten" von russischen Sozialisten bzw. Anarchisten und ihren Problemen: Mißbrauch eines Mädchens mit deren nachfolgendem Selbstmord, Schuldgefühle und Kompensationsversuche (Verheiratung mit einer irren Frau, Suche nach dem Tod im Duell, Erwägung einer öffentlichen Beichte, schließlich Selbstmord), Verschwörung und Angst vor Denunzianten, präventiver Mord, Heiratsintrigen, Ehebruch usw.


"Der Fremde"

Meursault, der Icherzähler des Romans, verliert seine Mutter, die er ins Altersheim gesteckt hat. Sein Nachbar Raymond fühlt sich von seiner arabischen Freundin betrogen und verprügelt sie. Bei einem Streit, den er mit ihrem Bruder vom Zaun bricht, wird er mit dem Messer verletzt. Als Meursault den Araber zufällig am Strand trifft, erschießt er ihn. Dafür wird er zum Tod verurteilt.


Philosophisches Thema des Romans ist die Frage nach der Bedeutung des Todes angesichts eines sinnlosen Lebens, in dem weder Gott noch die Liebe einen Stellenwert haben. Die Konsequenz: Auch der Tod ist bedeutungslos. Man muß ohnehin sterben.


"Der Mythos des Sisyphos"

Bei diesem Essay handelt es sich um das philosophische Pendant zu "Der Fremde". Camus hält hier das Absurde für die "einzige Tatsache", die charakteristisch für den menschlichen Geist und die Welt sei (S. 45). Den Selbstmord lehnt Camus ab, da mit ihm das Absurde aufgehoben, aber nicht überwunden werde. Diese Überwindung sei nur durch entschlossenes Handeln und intensives Leben möglich. Beides verändere zwar die Welt nicht, ermögliche aber einen Fortschritt bei der Selbstverwirklichung.


Dasselbe gelte für die Situation des Sisyphos in der griechischen Sage: Dafür, daß Sisyphos zu Lebzeiten die Götter mehrfach überlistete, mußte er nach seinem Tod in der Unterwelt "unablässig einen großen Stein einen Hügel hinaufrollen; wenn er ihn fast bis zur Spitze gebracht hatte, rollte er immer wieder hinunter" (Grant/Hazel 377).


Camus kommentiert: "Es ist nicht schwer zu verstehen: Sisyphos ist der absurde Held. Ebensosehr auf Grund seiner Leidenschaften wie seiner Qual" (S. 156). Er sei sich seiner sinnlosen Situation voll bewußt und überwinde sie, indem er sie verachte. "Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen" (S. 160).


Kurz: Gerade weil die Tätigkeit des Sisyphos sinnlos ist, wird sie, bewußt ausgeführt, zur selbstverwirklichenden Revolte. Der Gedankengang ist etwas unausgegoren und auch unvollständig, denn Camus stellt die Frage nicht, ob unser Leben hier auf der Erde eine Strafe für vergangene Untaten (in früheren Leben?) ist.

"Die Pest"

Alfred Noyer-Weidner zufolge geht es in diesem Roman nicht nur um eine Pestepidemie im medizinischen Sinn, sondern um die Kritik an Krieg, Totalitarismus und Gewalt, die die Nationalsozialisten 1940-44 nach Frankreich gebracht haben. "Im letzten geht es dabei […] um die metaphysische Bedrohung des menschlichen Bereichs im ganzen, um seine summarische und unausweichliche Bedrohung durch die Gewalt des Todes, die ja in der Pest ihren sinnfälligsten Ausdruck findet" (in: Wilpert 1024f).


Diese Interpretation wird gestützt durch folgende Tagebuchstelle: "Die Pest besitzt einen sozialen und einen metaphysischen Sinn. Es ist ein und derselbe. Dieser Doppelsinn findet sich auch in Der Fremde" (23.10.1942, S. 234).


Nach P. de Boisdeffre steht hier die Pest für "’die deutsche Okkupation und die Welt der Konzentrationslager, die Atombombe und die Aussicht auf den dritten Weltkrieg’", außerdem für "’das Zeitalter der Unmenschlichkeit, des Gottesstaates, der Maschinenherrschaft, der verantwortungslosen Bürokratie’" (zit. n. KNLL 3/571; dort kursiv zitiert). Laut Knut Nievers hat Camus "zweifellos Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und seiner Tätigkeit in der Résistance verarbeitet" (a.a.O. 3/572).


Die Grundhaltung dieses als Chronik verfaßten Romans ist sehr viel positiver als in "Der Fremde". Das hängt damit zusammen, daß ein Arzt als Verfasser ausgegeben wird, der sich auf die Seite der Opfer stellt und sich mit ihnen "in den einzigen, allen gemeinsamen, sicheren Wahrheiten vereinigen" will, "als da sind die Liebe, das Leid und die Verbannung" (S. 178).


Tagebücher

Hier gibt Camus Auskunft, was ihn bewegt, wie er denkt, warum er als Philosoph Romane schreibt: "Man denkt nur in Bildern. Wenn Du Philosoph sein willst, schreib Romane" (Januar 1936, S. 19). "Die Gefühle, die Bilder verzehnfachen die Philosophie" (1941/42, S. 191). Es kommt Camus auf die Wahrheit an. Wer sie lebe, werde von ganz alleine menschlich und einfach. Er altere nicht einmal. Camus definiert sogar die Freiheit als "das Recht, nicht zu lügen" (1944, S. 300). Den Monolog lehnt er ab – nur der Dialog ermögliche Fortschritt.


Bei politischen Reden stören ihn vor allem die Lügen. Die Moral besteht für ihn aus der "’Pflicht zu lieben’" (September 1937, S. 57). Die Liebe rette einen vor der Absurdität der Welt und mache uns unseren Egoismus bewußt. Sie wecke in uns das Ideal einer Welt ohne Egoismus. Dazu paßt Camus‘ Haltung, bei anderen Menschen zuerst nach dem Wertvollen in ihnen zu schauen.


Seine Religion charakterisiert Camus als "dieses liebende Einverständnis zwischen der Erde und allen vom Menschlichen befreiten Menschen" (15.9.1937, S. 59). "An uns ist es, Gott zu schaffen […], indem wir Gott werden" (1944/45, S. 297). Die Sexualität lehnt Camus nicht aus moralischen, sondern aus energetischen Gründen ab: Nur wenn man keusch sei, könne man produktiv sein und sich persönlich entwickeln. Mehr noch: Die Keuschheit mache die Welt sinnvoll. Die Todesstrafe lehnt Camus ab, weil sie der persönlichen Entwicklung ein Ende setze. Wer seiner Berufung folge, gerate zwar in einen Abgrund, doch wer es versäume, stehe vor dem Nichts.


Den Sinn seines Werks sieht Camus darin, sich der Verdammten anzunehmen. Das habe das Christentum versäumt. "Unsere Aufgabe: Die Universalität oder zumindest universelle Werte schaffen. Dem Menschen seine Katholizität erobern" (1945/46, S. 322). Der Konformismus sei das ernsteste Zeitproblem. Während man sich früher für schlechte Taten rechtfertigen mußte, müsse man es im 20. Jahrhundert für die guten.


Reisetagebücher

Der schmale Band umfaßt die Reisen in die USA (1946) und in Südamerika (1949). Bemerkenswert ist Camus‘ Ansicht über den Messianismus: Er sei "Grundlage aller Fanatismen" und "gegen den Menschen" gerichtet. Dafür will Camus das Denken der Griechen "als eine Revolte gegen das Heilige wiederherstellen und wiedererschaffen" (1946; S. 39).


"Der Mensch in der Revolte"

Camus denkt hier nach über 200 Jahre "metaphysischer oder historischer Revolte" und versucht, "einen durchgehenden Faden darin zu finden." Diesen Anspruch relativiert er allerdings gleich wieder im nächsten Satz: "Die folgenden Seiten stellen bloß einige historische Anhaltspunkte auf und eine Deutung der Quellen" (S. 17).


Der titelgebende Essay "Der Mensch in der Revolte" schließt in Anlehnung an das Cogito, ergo sum ("Ich denke, also bin ich") des Descartes mit dem Satz: "Ich empöre mich, also sind wir" (S. 31).



Camus anerkennt die Verdienste von Marx: "Er erhob sich gegen die Erniedrigung der Arbeit zur Ware und des Arbeiters zu einem Objekt. Er rief den Privilegierten in Erinnerung, daß ihre Privilegien sich nicht von Gott, ihr Besitz sich nicht von einem ewigen Recht ableiten. Er weckte ein schlechtes Gewissen in denen, die kein Recht hatten, auf ihrem guten Gewissen auszuruhen, und klagte mit einer Gedankentiefe ohnegleichen eine Klasse an, deren Verbrechen nicht so sehr ist, die Macht besessen, als sie für die Zwecke einer mittelmäßigen Gesellschaft ohne wahren Adel gebraucht zu haben" (S. 236f).


Aber er prangert auch an, was falsch war und was schiefgegangen ist: Der Sozialismus sei unwissenschaftlich, der Marxismus "bestenfalls wissenschaftsgläubig" (S. 250). Er leugne die Entdeckungen der Biologie nach Darwin, um die Unfehlbarkeit seiner eigenen Grundlage zu erhalten. Marx habe zwar das Scheitern aller Revolutionen vor ihm anerkannt, doch der Kommunismus in Rußland habe seine eigenen Prinzipien Lügen gestraft:


"Entweder hat dieses Regime [von Stalin] die klassenlose sozialistische Gesellschaft verwirklicht, dann rechtfertigt sich die Beibehaltung eines ungeheuren Unterdrückungsapparates nach marxistischen Begriffen nicht, oder es hat sie nicht verwirklicht, und dann ist der Beweis erbracht, daß die marxistische Doktrin irrig und insbesondere die Sozialisierung der Produktionsmittel nicht gleichbedeutend ist mit dem Verschwinden der Klassen" (S. 260f).


Die Kommunisten hätten das Parteibüro zum Altar gemacht und gelogen, was das Zeug hält: "Obskurantismus und Tyrannei"
seien zu "Brüderlichkeit, Wahrheit und Freiheit"
erklärt worden (S. 265), jede Art von Wahrheit sei verleugnet worden, und zwar mehrfach, nicht nur einmal. In diesem Punkt seien die russischen Kommunisten noch schlimmer als die Kirche gewesen: "Die Kirche ist nie so weit gegangen zu erklären, Gott habe sich in zwei, darauf in vier oder in drei und dann wieder in zwei Personen verkörpert" (S. 267).


Camus meint mit "Revolte" etwas anderes, als bei den historischen Revolutionen passiert ist. Die Revolte sei die Erhebung gegen die Revolution, habe in der Vergangenheit allerdings wie diese in "Polizei oder Wahnsinn" gemündet (S. 280). Dabei sei sie eigentlich "eine Lebens-, keine Todeskraft. Ihre innere Logik ist nicht die der Zerstörung, sondern der Erschaffung" (S. 321). "Der Revoltierende […] kennt das Gute und tut das Böse gegen seinen Willen" (S. 322). Während der Revolutionär aus Ressentiment kämpfe, kämpfe der Revoltierende aus Liebe. Lasse er sich allerdings vom Ressentiment anstecken, werde er zerstörerisch und produziere "Rachsucht und Tyrannei" (S. 343).


Dieser Essay-Band führte 1952 zum Bruch mit Sartre, da Camus hier "einer total konzipierten Revolution eine begrenzte Revolte" entgegenstellte und ihm vorgeworfen wurde, er habe die Arbeiterklassen verraten (MEL 5/292).


Eine ausführliche Darstellung gibt Bernard-Henri Lévy in seinem Buch über Sartre in den Kapiteln "Die Affäre Camus" und "Weshalb es trotzdem besser ist, mit Sartre zu irren, als mit Camus recht zu haben" (S. 391-406).


Mittelmeer-Essays

Die beiden Sammlungen erschienen in den Jahren 1938 und 1954. Themen sind u.a.



  • Sonne, Meer und Sterne;

  • Krankheit und Tod;

  • die Schönheit des Körpers und die Reinheit der Seele;

  • das Glück als "jener einfache Einklang eines Geschöpfes mit seiner Existenz" (S. 42);

  • Oran als Stadt der Langeweile, der Boxkämpfe, der Nachahmung amerikanischer Filmidole, der Sehenswürdigkeiten, der Vorträge und Diskussionen (Cogito-Club im Gedenken an Descartes);

  • die Rivalität zwischen Algier und Oran sowie zwischen Algerien und Frankreich;

  • Prometheus als Vater der Revolte und das Wirken für den Geist;

  • der "Sinn der Geschichte" als "Kampf zwischen der Schöpfung und der Inquisition"
    (S. 86);

  • das Absurde und die Überwindung des Nihilismus aus der Lebensbejahung heraus – der Lebenswille als höchste Tugend;

  • Ungeliebtsein als "mißlicher Zufall"
    und Lieblosigkeit als "Unglück"
    (S. 100).

Fragen der Zeit

Camus hat die Beiträge dieses Bandes (Briefe, Essays, Ansprachen, ein Vorwort, Vorträge, Interviews) selbst zusammengestellt. Sie handeln


  • vom Widerstand gegen Nationalsozialisten und Faschisten;

  • von der Erneuerung des politischen Denkens durch die Bewahrung des Geistes;

  • von der Freundschaft als der "Kunst der freien Menschen" (S. 61) und von ihren Widersachern "Lüge und Haß"
    (S. 58);

  • von der Wahrhaftigkeit und der Authentizität als Voraussetzungen des Dialogs, den Camus als Gegensatz der Tyrannei betrachtet;

  • von den Ansprüchen, die der Mensch an den Menschen stellen darf: ein Nichtchrist dürfe von Christen nichts Christliches, sehr wohl aber allgemein Menschliches fordern;

  • vom Umgang mit der Freiheit in Westeuropa: sie werde behandelt wie eine verwitwete Verwandte, die man in der Küche unterbringe (zum Vergleich: die Osteuropäer verschließen sie im Wandschrank), was auf Dauer zu einer KZ-Diktatur in Europa führe (Camus schrieb das bereits 1953!);

  • von der Volkswohlfahrt als Tyrannenalibi;

  • von der Beeinträchtigung der Pressefreiheit als Verstümmelung der Gerechtigkeit;

  • von der Einsamkeit als Folge von Unterdrückung und Lüge;

  • von der Todesstrafe als übelerregendes Krebsgeschwür, das "genauso empörend ist wie das Verbrechen", das geahndet werden soll;

  • von Algerien vor dem Hintergrund des Kampfs der Nationalen Befreiungsfront (FLN) um die Unabhängigkeit von Frankreich: Camus plädiert für ein friedliches Zusammenleben, bei dem die Verschiedenheiten von Arabern und Franzosen konstruktiv genützt werden; in einem Krieg könne es keinen Sieger geben, da auch danach alle zusammenleben müßten; weder die Emigration aller Franzosen noch die Behandlung der Araber als Parias sei sinnvoll;

  • von Ungarn: nach dem ungarischen Volksaufstand 1956 und dessen Unterdrückung wandte sich Camus gegen das Lügengebäude der terroristischen Regierung, die in seinen Augen genausowenig sozialistisch war, "wie ehemals die Folterknechte der Inquisition […] christlich" waren (S. 199);

  • von der Kunst, darunter Camus‘ Rede zur Verleihung des Nobelpreises vom 10.12.1957, in der er die "Weigerung, wider besseres Wissen zu lügen" und den "Widerstand gegen die Unterdrückung" als schwierig zu erfüllende Pflichten des Künstlers nannte (S. 226).

Erzählungen

Der Fall (La chute, Paris 1956) ist die Beichte des Buß-Richters Johannes Clamans (Jean-Baptiste Clamence). Der Name ist wohl auch als Anspielung auf Kierkegaards Pseudonym Johannes Climacus gedacht. Während der Beiname Climacus auf das Werk "Himmelsleiter" (Klĩmax toũ paradeĩsou) des hl. Johannes Sinaites zurückgeht (vgl. meinen Aufsatz über Kierkegaard), ist der Beiname Clamans vom lateinischen Verbum clamare abzuleiten. Camus Ich-Erzähler ist also der schreiende oder verkündende Johannes – eine Anspielung auf Johannes den Täufer, den "Rufer in der Wüste" (vgl. Mk 1,3 in der Vulgata: Vox clamantis in deserto = die Stimme des Rufenden in der Wüste; s. a. Jes 40,3; Mt 3,3; Lk 3,4; Todd 699f).


Er plaudert vor sich hin: über seinen früheren Beruf als Strafverteidiger, seine Taten der Nächstenliebe aus Eitelkeit, seine Frauengeschichten – und erzählt dann kurz, um was es ihm eigentlich geht: Eine Frau stürzt sich von einer Brücke in die Seine, Johannes hört den Aufprall auf das Wasser, als er schon 50 m weiter ist. Er geht weiter, verständigt niemand und liest an den Tagen danach keine Zeitung.


Anschließend fährt er wieder im Plauderton fort, sich weiter auszubreiten. Als Bußrichter im Mexiko-City (einer Hafenkneipe in Amsterdam) klagt er sich selber u.a. der Hehlerei an, um andere zur Selbstanklage zu provozieren, was ihm der Entlastung dient. Indem er beichtet, erlaubt er sich quasi, weiterhin seinen Lastern (Eitelkeit, Herrschsucht, Entscheidungsschwäche, Teilnahmslosigkeit, Gleichgültigkeit) zu frönen und andere zu richten. Damit stellt er Mt 7,1 ("Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!"; vgl. a. Lk 6,37) auf den Kopf.


Seine Beichte endet mit der Vorstellung, was wäre, wenn sich die Frau ein zweites Mal in die Seine stürzen würde: Müßte er sie dann nicht retten und dabei sein Leben riskieren? Glücklicherweise wird dieser Fall nicht eintreten, so daß er das kalte Wasser nicht zu fürchten braucht … (Die dreifache Bedeutung von "Fall" = Sturz/Situation/Rechtsfall existiert im Französischen nicht, da es dafür drei verschiedene Wörter gibt: chute, cas und affaire.)


Alfred Noyer-Weidner kommentiert: "Mit der scheinbaren Unterwürfigkeit, die sich in Selbstgerechtigkeit und in das Recht auf Anklage verkehrt, wird auch eine bestimmte, vordergründige Art von Christentum kritisiert […]. Darüber hinaus ist Der Fall eine Abrechnung mit allgemeinen Zügen unserer Zeit, wie etwa dem nihilistischen Zerreden der Dinge […]. Mit vielen brillanten Aphorismen […] überspielt Clamence ja nur […] die Unfähigkeit zur spontanen Tat, zur menschlichen Hilfe im rechten Augenblick. […] In der ursprünglichen Zuordnung zu dem nachfolgenden Novellenband gesehen, ist Der Fall eine Erzählung des Versagens, des Exils" (in: Wilpert 351).


Das Wort "Exil" ist hier dreifach zu verstehen: als Verbannungsort, Zufluchtsstätte und als Titel der Novellensammlung "Das Exil und das Reich" (L’exil et le royaume), die ursprünglich aus den im folgenden besprochenen sechs Werken bestand. Camus wollte auch den "Fall" in diese Sammlung aufnehmen, kam aber wegen seines plötzlichen Todes bei einem Autounfall nicht mehr dazu.


Die Ehebrecherin (La femme adultère) Janine flieht für eine Nacht aus der Ehe (= Reich) auf eine Terrasse (= Exil). Dort, allein in der Stille unter den Sternen, hat sie "das Gefühl, zu ihren Wurzeln zurückzufinden" (S. 125).


Sie war davor schon einmal mit ihrem Mann auf dieser Terrasse und dachte dabei an die Menschen des südlichen Algerien als "elende und freie Herren eines fremdartigen Reiches" (S. 119). Sie wurde traurig, schloß die Augen und "wußte nur, daß ihr dieses Reich seit Anbeginn der Zeiten verheißen war und daß sie es dennoch nie besitzen würde, nie mehr, außer vielleicht in diesem flüchtigen Augenblick, da sie die Augen wieder aufschlug, den mit einemmal unbeweglichen Himmel gewahrte und die Fluten erstarrten Lichts, während die aus der arabischen Stadt aufsteigenden Stimmen jäh verstummten" (S. 120). Ihr Mann ist als Geschäftsmann zu Hause in diesem Reich.


Der Abtrünnige oder Ein verwirrter Geist (Le renégat) stiehlt die Kasse des Priesterseminars in Algier (= Reich) und versucht sein Missionarsglück in einer Stadt, in der er sich den abstoßenden und blutigen Riten eines Fetischglaubens unterziehen muß (= Exil). Er wird nicht nur geschlagen, sondern auch die Zunge wird ihm abgeschnitten. Er sagt von sich: "Da bin ich ein anderer geworden. Sie merkten es, ich küßte ihnen die Hand, wenn ich ihnen begegnete, ich gehörte zu ihnen, bewunderte sie stets aufs neue, vertraute ihnen, ich hoffte, sie würden die Meinen verstümmeln, wie sie mich verstümmelt hatten" (S. 141f). Seine Verwirrung zieht sich durch die ganze Geschichte. Das Exil wird zum neuen Reich, wenn es auch ein "Reich der Bosheit" ist (S. 141).


Die Stummen (Les muets) sind Fabrikarbeiter, die nach einem ergebnislosen Streik (= Exil) schweigend ihre Arbeit wieder aufnehmen. Der Ohnmachtsanfall der Fabrikantentochter veranlaßt die Arbeiter zu kleinen mitmenschlichen Gesten untereinander (= Reich).


Der Gast (L’hôte) ist ein gefangener Araber, der seinen Vetter ermordet hat (= Exil) und sich nun in seine Gefangenschaft (= Reich) ergibt, obwohl ihm vom Dorflehrer Daru die Möglichkeit zu fliehen gegeben wird (= zweites Exil). Daru begibt sich durch sein freundliches Verhalten gegenüber dem Gefangenen im Verhältnis zur Obrigkeit ins Exil. Da die Dorfbewohner nicht wissen, daß er ihn freigelassen hat, drohen sie ihm mit Rache, so daß er nun also auch ihnen gegenüber im Exil ist.


Jonas oder Der Künstler bei der Arbeit (Jonas ou l’artiste au travail) stellt die künstlerische Arbeit, die Alleinsein erfordert (= Exil), der Störung durch Familie und Besucher gegenüber (= Reich). Mit dem Namen des Künstlers spielt Camus natürlich auf den biblischen Jonas an, der seiner Berufung anfänglich zu entfliehen versucht.

Der treibende Stein (La pierre qui pousse) ist in einer Grotte in einer Stadt im brasilianischen Urwald mit einer Jesus-Statue, die vom Meer kam, gewachsen. Er bringt denen Glück, die sich ein Stück davon abschlagen, und wächst jedesmal wieder nach.


Ein Koch hat Jesus versprochen, bei einer Prozession einen 50 kg schweren Stein auf seinem Kopf zu tragen, wenn er ihn bei einem Schiffbruch vor dem Ertrinken im Meer rettet. Da beruhigten sich die Wellen und er konnte an die Küste schwimmen (= Exil). Dem Koch ist klar, daß er vor der Prozession nicht die ganze Nacht durchtanzen darf, wie es üblich ist, da ihm sonst die Kräfte fehlen, sein Gelübde einzulösen. Doch er kann dem Tanzen (= Reich) nicht widerstehen und bricht deshalb zusammen, bevor er sein Versprechen einlösen kann.


Der französische Ingenieur D’Arrast steht den Einwohnern der Stadt als Fremder gegenüber (= Exil), bis er den Stein des Kochs zurück in dessen Hütte trägt und von dessen Familie aufgenommen wird (= Reich). Da die Prozessionsteilnehmer von ihm erwarten, daß er den Stein vollends in die Kirche trägt, begibt er sich ihnen gegenüber ins Exil.


Hans-Horst Henschen und Berta Wiedemann interpretieren die Begriffe "Exil" und "Reich" als "Pole entgegengesetzter Daseinsmöglichkeiten, zwischen denen der Mensch – in zumeist freier Entscheidung – zu wählen hat. Sprachsymbolisch kommt diese Antithese in der verwirrenden Ähnlichkeit der beiden Wörter solidaire (gemeinsam) und solitaire (einsam) zum Ausdruck", von denen Jonas am Schluß der nach ihm benannten Erzählung eines unleserlich auf die Leinwand schreibt (KNLL 3/564).


Welches Wort nun zu welchem gehört, bleibt hier offen: Die Verbundenheit mit dem Geistigen in der Einsamkeit ist ebenso eine Gemeinsamkeit wie man in einer Gesellschaft einsam sein kann, weil man von seinem inneren Kern abgeschnitten ist.


Dementsprechend kritisiert Alfred Noyer-Weidner: "Zwar spielt in all diesen Erzählungen die Einsamkeit eine Rolle; aber da sie auch in durchaus positivem Licht erscheint, gibt im ganzen kaum die sprachspielerische Antithese von ’solidaire‘ und ’solitaire‘ […] den Ausschlag. Insgesamt hat vielmehr der Titel einen weiteren und elastischeren Sinn: allgemein handelt es sich um moralische Paradigmata zwischen innerer Schwäche und innerer Kraft, zwischen Versagen und Bewährung, sei es in der persönlichen Eigenart oder in den mitmenschlichen Beziehungen" (Wilpert 345).


Olivier Todd definiert die beiden Begriffe so: "Das Exil ist historisch, geographisch, moralisch, Das Reich stellt das Paradies dar, die Überwindung von Leid und Verzicht – und des Falls" (S. 707). Er faßt sie also etwa für "Die Ehebrecherin" gerade andersherum auf als ich: Die Ehe ist das Exil, die Nacht auf der Terrasse das Reich. Bei den "Stummen" stimmen unsere Interpretationen dagegen überein. Daß das Reich nur positiv aufzufassen ist, kann man angesichts des "Reichs der Bosheit" im "Abtrünnigen" nicht behaupten.


"Der erste Mensch"

Camus konnte dieses Manuskript nicht mehr vollenden und auch nicht überarbeiten. Es handelt sich um eine Art Entwicklungsroman. Olivier Todd verwendet ihn als Quelle für Camus‘ Kindheit und Jugend (vgl. die Belege mit EM und v.a. Anm. 19 S. 834).


Interessant ist folgende Stelle über die Liebe: "Die wahre Liebe ist weder eine Wahl noch eine Freiheit. Das Herz, vor allem das Herz ist nicht frei. Es ist das Unvermeidliche und die Erkenntnis des Unvermeidlichen" (S. 271).


© Gunthard Rudolf Heller, 2014


Literaturverzeichnis

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DIE BIBEL – Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes, Freiburg/Basel/Wien 201976


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CAMUS, Albert: Chistliche Metaphysik und Neoplatonismus (Métaphysique Chrétienne et Néoplatonisme, Paris 1965), übersetzt und eingeleitet von Michael Lauble, Reinbek bei Hamburg 1978



  • Der glückliche Tod – Roman (La Mort heureuse, 1936-38, Paris 1971), Deutsch von Eva Rechel-Mertens, Reinbek bei Hamburg 1972

  • Kleine Prosa – Nobelpreisrede. Der Künstler und seine Zeit. Licht und Schatten. Briefe an einen deutschen Freund. Der Abtrünnige oder ein verwirrter Geist. Die Stummen. Der Gast, Deutsch von Guido G. Meister, Reinbek bei Hamburg 1997

  • Dramen, ins Deutsche übertragen von Guido G. Meister, Hamburg 1962

  • Der Fremde (L’Étranger, Paris 1942), übertragen ins Deutsche von Georg Goyert und Hans Georg Brenner, Reinbek bei Hamburg 1981

  • Der Mythus des Sisyphos (Le mythe de Sisyphe, Paris 1942), Deutsch von Vincent von Wroblewsky, Reinbek bei Hamburg 72005

  • Die Pest – Roman (La Peste, Paris 1947), einzig berechtigte, vom Verfasser autorisierte Übertragung ins Deutsche von Guido G. Meister, Reinbek bei Hamburg 1973

  • Tagebücher 1935-1951 (Carnets, mai 1935 – février 1942, Paris 1962; Carnets, janvier 1942 – mars 1951, Paris 1964), aus dem Französischen übertragen von Guido G. Meister, Reinbek bei Hamburg 1997

  • Tagebuch März 1951 – Dezember 1959 (Carnets III, mars 1951 – décembre 1959, Paris 1989), aus dem Französischen übertragen von Guido G. Meister, Reinbek bei Hamburg 1997

  • Reisetagebücher (Journaux de voyage, Paris 1978), Deutsch von Guido G. Meister, Reinbek bei Hamburg 1997

  • Der Mensch in der Revolte – Essays (L’Homme révolté, Paris 1951), aus dem Französischen von Justus Streller, bearbeitet von Georges Schlocker unter Mitarbeit von François Bondy, Reinbek bei Hamburg 252003

  • Hochzeit des Lichts – Heimkehr nach Tipasa. Mittelmeer-Essays (Noces, 1950 – L’été, 1954), aus dem Französischen von Peter Gan und Monique Lang, Darmstadt 1988

  • Fragen der Zeit (1948-1957), Deutsch von Guido G. Meister

  • Jonas oder Der Künstler bei der Arbeit – Gesammelte Erzählungen, Deutsch von Guido G. Meister, Reinbek bei Hamburg 1998

  • Der erste Mensch (Le premier homme, Paris 1994), Deutsch von Uli Aumüller, Reinbek bei Hamburg 92004


DOSTOJEWSKI, Fjodor Michailowitsch: Die Dämonen – Roman, Übertragung aus dem Russischen von E. K. Rahsin, München/Zürich 1977

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GRANT, Michael/HAZEL, John: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten (Who’s Who in Classical Mythology, London 1973), München 141999

KINDLERS NEUES LITERATURLEXIKON, hg. v. Walter Jens, 21 Bände, München 1996 (KNLL)

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LEXIKON DER PHILOSOPHISCHEN WERKE, hg. v. Franco Volpi und Julian Nida-Rümelin, Stuttgart 1988

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Gunthard Heller