Die Dialektik der Vorsokratiker

In seiner Metaphysik schrieb Aristoteles über Platon, er habe die Ideen aufgrund „seiner Beschäftigung mit den Begriffen“ eingeführt; „denn die Früheren gaben sich noch nicht mit Dialektik ab“ (987b). Er zählt die Dialektiker nicht zu den Philosophen, da ihre Weisheit wie die der Sophisten nur bloßer Schein sei (1004b). Die Dialektiker würden sich zwar mit den „Akzidenzien des Seienden“ befassen, „aber nicht, insofern es ein Seiendes ist“; „das Seiende als solches“ sei nicht ihr Thema (1061b).

Diogenes Laertios definierte die Dialektik mehrfach: Dialektiker seien diejenigen, „welche sich mit wortklauberischer Begriffsbearbeitung abgeben“ (I 17). Der Chalkedonier Dionysios habe die Schüler des Eukleides aus Megara, die Megariker oder Eristiker, als Dialektiker bezeichnet, „weil sie ihre Untersuchungen in Form von Frage und Antwort führten“ (II 106). Nausiphanes habe die Dialektiker als “ V i e l v e r d e r b e r “ beschimpft (X 8).

Doch die Dialektik begann nicht mit Platon bzw. Sokrates wie aus heiterem Himmel, gleichgültig, wie man sie nun definiert. Sie wurde von den Vorsokratikern vorbereitet oder doch zumindest geahnt. Das ist das Thema des vorliegenden Aufsatzes. Dabei berücksichtige ich alle genannten Bedeutungen: Dialektik als Logik, als Sophisterei (Begriffsklauberei), die am Wesentlichen vorbeigeht, und als Durchsprechen eines Gegenstands in Dialogform (vgl. Menge-Güthling: dialektikē = Dialektik, Kunst wissenschaftlicher Disputation, Logik).

1. Heraklit

Hegel sagte über die Fragmente, die von Heraklit aus Ephesos (um 550 – 480 v. Chr.) überliefert sind: „Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen“ (18/320).

Um Hegels Arbeits- und Denkweise zu illustrieren, bringe ich ein Beispiel. In seiner Metaphysik schrieb Aristoteles über Heraklit, er habe „alles sein und auch nicht sein“ lassen, scheine also „alles für wahr zu erklären“ (1012a). Hegel übersetzte die Stelle so: „‚Das Sein ist nicht mehr als das Nichtsein'“ (18/323). Dann interpretierte er: „Wir sagen für Heraklits Ausdruck: Das Absolute ist die Einheit des Seins und Nichtseins“ (18/323f).

Hegel gesteht, der Satz von Heraklit scheine „nicht viel Sinn zu produzieren, nur allgemeine Vernichtung, Gedankenlosigkeit“ (18/324), doch indem er ihn mit anderen Fragmenten Heraklits zusammenhält, in denen es nicht um das Sein, sondern um das Werden geht (z. B. daß man nicht zweimal in denselben Fluß steigen könne oder daß alles fließe), macht er sich die Bedeutung klar: Im Werden sind die „schlechthin entgegengesetzten Bestimmungen […] in eins verbunden; wir haben das Sein darin und auch das Nichtsein. Es gehört nicht bloß dazu das Entstehen, sondern auch das Vergehen; beide sind nicht für sich, sondern identisch“ (18/324).

Jaap Mansfeld hat unter der Überschrift „Die Gegensätze und ihre Einheit“ 16 Stellen zu diesem Thema von Heraklit zusammengetragen und übersetzt (S. 258-263).

2. Parmenides

Von Parmenides (um 515 – um 445 v. Chr.) gibt es ähnliche Fragmente. Es lohnt sich, die Übersetzungen von Diels und Mansfeld zu vergleichen:

„Wohlan, so will ich denn sagen (nimm du dich aber des Wortes [mythos] an, das du hörtest), welche Wege der Forschung allein zu denken sind: der eine Weg, daß IST ist und daß Nichtsein nicht ist [te kai hōs ouk esti mē einai], das ist die Bahn der Überzeugung (denn diese folgt der Wahrheit), der andere aber, daß NICHT IST ist und daß Nichtsein erforderlich ist [te kai hōs chreōn esti mĕ einai], dieser Pfad ist, so künde ich dir, gänzlich unerkundbar; denn weder erkennen könntest du das Nichtseiende (das ist ja unausführbar) noch aussprechen; denn dasselbe ist Denken und Sein“ (DK 28 B 2 und 3).

Von Mansfeld zitiere ich nur die Stellen, die sich prinzipiell unterscheiden:

  • statt „daß IST ist und daß Nichtsein nicht ist“ (Diels) hat Mansfeld „daß es ist und daß nicht ist, daß es nicht ist“;
  • statt „daß NICHT IST ist und daß Nichtsein erforderlich ist“ (Diels) hat Mansfeld „daß es nicht ist und daß es sich gehört, daß es nicht ist“ (S. 317).

Wenn man die Übersetzung von Mansfeld liest, bezieht man das „es“ auf das „Wort“ (mythos), während Diels stattdessen sinngemäß Sein („IST“) bzw. Nichtsein („NICHT IST“) einsetzte.

3. Zenon von Elea

Diogenes Laertios berichtet, daß Aristoteles im Sophistes (vgl. Fragment 65 in Aristoteles, Qui ferebantur librorum fragmenta aus dem Jahr 1886, hg. v. Valentin Rose) Zenon den Älteren (ca. 495 – 445 v. Chr.) als „Erfinder der Dialektik“ bezeichnete (VIII 57).

Aristoteles kritisiert in seiner Metaphysik und Physik die Paradoxien des Zenon über die Einheit, die Bewegung, den Ort und das Hören (DK 29 A 21-29; Nr. 23 bringt eine Variante des Simplikios). Carl-Friedrich Geyer gibt zunächst eine kurze Zusammenfassung (S. 115f) und bespricht sie dann ausführlicher (S. 116-119).

„In allen angeführten Beispielen geht es Zenon darum zu zeigen, daß unter der Prämisse möglicher Vielheit dem Seienden die widersprüchlichsten Bestimmungen zukommen, und zwar solche, die sich gegenseitig aufheben“ (Geyer 116).

Am bekanntesten ist die Behauptung des Zenon, daß Achill eine Schildkröte nicht einholen könne. Denn wenn er dort ankommt, wo die Schildkröte soeben war, ist sie schon ein Stück weiter.

Die Unredlichkeit des Zenon besteht darin, daß er es übergeht, daß der Abstand zwischen Schildkröte und Achill immer kleiner wird, bis er auf Null zusammengeschrumpft ist. In diesem Augenblick ist Achill auf einer Höhe mit der Schildkröte – und im nächsten Augenblick überholt er sie.

4. Gorgias

Der sophistische Wanderredner und Philosoph Gorgias von Leontinoi (ca. 480 – 380 v. Chr.) behauptete, „daß eine Rede, wenn sie die Affekte der Hörer richtig ansprach, jede vom Redner gewünschte Wirkung müßte hervorrufen können“ (Heinrich Dörrie, in: KP 2/849).

Aristophanes hat die Diskussion über diese These auf die Bühne gebracht: In der dritten Szene der „Wolken“ läßt er zwei Anwälte miteinander diskutieren (S. 164-173). Der „Anwalt der schlechten Sache“ bezeichnet das Recht als „ein Unding, ein Nichts“ (S. 164). Der „Anwalt der guten Sache“ beruft sich auf die Götter, der „Anwalt der schlechten Sache“ verweist auf Zeus, der seinem Vater Unrecht getan habe. Das findet der „Anwalt der guten Sache“ zum Kotzen. Es folgen gegenseitige Beleidigungen.

Die Chorführerin meint, sie sollten mit dem Streiten aufhören und ihre Erziehungsmethoden anpreisen.

Der „Anwalt der guten Sache“ schwärmt davon, daß früher die Kinder keinen Mucks machen durften, sich gegen die Kälte abhärteten, Verse lernten und bei Fehlverhalten verhauen wurden. Heute dagegen sei die Jugend schamlos und ungesund.

Der „Anwalt der schlechten Sache“ plädiert für warme Bäder, da es keine kalten Heraklesbäder gebe. Die Sittsamen seien erfolglos. Die Einwände des „Anwalts der guten Sache“ widerlegt er durch Gegenbeispiele. Die sexuelle Freizügigkeit verteidigt er mit dem Verhalten des Zeus und dem der meisten Anwesenden. So gibt sich der „Anwalt der guten Sache“ besiegt.

Albin Lesky faßt die Wirkungsgeschichte der Sophistik so zusammen: „Keine andere geistige Bewegung kann sich an Dauerhaftigkeit ihrer Folgen mit der Sophistik vergleichen. […] Aber was sie auflöste, konnte innerhalb des griechischen Lebens nie wieder ein wirklich Ganzes werden, und die Fragen, die sie stellte, die Zweifel, die sie weckte, sind durch die europäische Geistesgeschichte nicht mehr zum Schweigen gekommen, bis auf den heutigen Tag“ (S. 388).

5. Protagoras

Der Sophist und Redner Protagoras (um 480 – um 421 v. Chr.) wurde für den sog. Homo-mensura-Satz bekannt:

„Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, daß (wie) sie sind, der nicht seienden, daß (wie) sie nicht sind.- Sein ist gleich jemandem Erscheinen“ (DK 80 A 1).

Platon erklärt den Satz im Dialog Theaitetos (152a-d), indem er den Sokrates folgendes sagen läßt: „Meint er es also nicht so, daß für mich alles so ist, wie es mir erscheint, und für dich hinwiederum so, wie es dir erscheint? Mensch aber bin ich ebenso wie du?“ (152a) Zur Illustration bringt Sokrates das Beispiel eines Windes, der den einen frieren macht, den andern nicht. Dem einen erscheint er also kalt, dem andern nicht. Ebenso kann etwas, das groß ist, einem andern klein vorkommen. Im folgenden entwickelt Sokrates daraus eine eigene Philosophie über den Gegensatz zwischen Sein und Werden.

Im Dialog Kratylos (385e-386d) widerlegt Sokrates den Satz des Protagoras. Denn wenn er wahr wäre, könnte es keine vernünftigen und unvernünftigen, keine guten und schlechten Menschen geben.

Aristoteles widerlegt den Satz des Protagoras in seiner Metaphysik: „Ist dies aber der Fall, so ergibt sich daraus, daß dasselbe ist und nicht ist und gut und schlecht ist, und daß ebenso die übrigen Gegensätze von demselben zugleich gelten, darum weil oft dies bestimmte Ding den einen schön erscheint, den anderen im Gegenteil häßlich, und dasjenige, was einem jeden erscheint, das Maß des Dinges ist“ (1062b).

Anhand der Geschmacksempfindung bemerkt Aristoteles, daß niemand, dem ein süßes Getränk nicht süß erscheine, als Maßstab in Frage komme.

Auch Aristoteles entwickelt daraus weitere Gedanken: Da alle irdischen Dinge veränderlich seien, würden sie sich nicht dafür eignen, die Wahrheit zu finden. „Denn vielmehr muß man ausgehend von dem, das sich immer auf dieselbe Weise verhält und niemals in irgendeine Veränderung eingeht, die Wahrheit suchen. Solcher Art aber sind die Himmelskörper“ (1063a).

© Gunthard Rudolf Heller, 2019

Literaturverzeichnis

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Gunthard Heller