Spiritualität Reflexion: Geburt, Schicksal und Karma der Seele

Seit die Pionierin Elisabeth Kübler-Ross ihre Sterbeforschungen öffentlich machte, ist der Tod kein Tabuthema mehr. Auch im Buddhismus, der sich in den letzten Jahrzehnten zunehmender Beliebtheit erfreut, wird der Tod und seine Durchlaufphasen – den Bardos – zu einem zentralen Studiengegenstand, der das gesamte buddhistische Leben beeinflusst.

Was ist Tod? Das Lexikon beschreibt ihn als Zustand nach dem Sterben. Ein Zustand setzt immer ein Vorhandensein von Etwas voraus. Wir wissen, dass der Mensch aus Körper, Seele und Geist besteht und wir wissen, dass mit dem Abschluss des Sterbevorgangs der Körper seine Lebensfunktion verliert. Der Kreislauf kommt zum Stillstand und das Gehirn setzt keine Impulse mehr frei. Was mit dem Geist und der Seele geschieht, kann wissenschaftlich nicht beantwortet werden und bleibt vor diesem Hintergrund spekulativ.

Das Seelenleben umfasst alle Vorgänge der Imaginationen, Triebe, Motive und Gefühle, die durch den Körper in Tat umgesetzt werden. Es umfasst unser Wachbewusstsein, unser Unterbewusstsein und Traumleben. Der Geist beinhaltet unsere Gesinnung, Intellekt und Gedankenleben.

Das Vermögen zu assoziieren, analysieren, abstrahieren und logisch zu denken – all das wird durch den Körper zum Ausdruck gebracht und zur Handlung angeregt.

Der Körper ist damit ein Instrument, durch das unsere Seele und unser Geist in der Welt der Materie agiert. Wenn unser Körper mit all seinen Funktionen stirbt, und somit die Verbindung zu Seele und Geist unterbrochen wird, gilt der Mensch als tot. Gilt das gleiche für die Seele und den Geist?

Seele und Geist sind Indikatoren, um in der Welt der Gegenständlichkeit, Veränderungen zu bewirken, Aktion und Reaktion zu erzielen, die selbst als Funktion nicht sichtbar wahrnehmend aber beweisbar sind, denn sie geben sich durch ihren Ausdruck kund. Sie entziehen sich der sichtbaren Wahrnehmung, bilden keine gegenständliche Form wie der Körper. Sie sind immateriell, während der Körper zur Welt der Materie gehört.

Gleichsam als „Idee“ bewohnen Seele und Geist durch den Körper die Welt. Die sichtbare, veränderbare Materie ist die äußerste Manifestation dieser Idee. Diese Immaterialität – die Idee – erhält den Körper am Leben. Ist die Verbindung unterbrochen, tritt der Tod ein. Ausgenommen hiervon ist ein geübter Yogi, der mit speziellen Techniken seinen Geist vom Körper zu lösen vermag. Seine körperliche Lebensfunktion wird so weit reduziert, dass dies unter normalen Bedingungen den Tod bedeuten würde.

Wir haben somit eine immaterielle Welt und eine materielle Welt, in der wir leben. Sie begründen die Polaritätsprinzipien von negativ und positiv, passiv und aktiv oder aktiv und reaktiv.

Alles im Leben hat sein Gegenteil, oder anders ausgedrückt, sein spiegelverkehrtes Doppel. Dieses Prinzip besteht durch seine Ergänzung mit seinem Gegenteil. Diese befinden sich im Austausch und reflektieren sich wiederum im anderen. Es erhält überhaupt erst Bestand durch sein spiegelverkehrtes Doppel, denn es ist ein duales Prinzip, deren Synthese sich durch den gegenseitigen Austausch ergibt.

Wie in der Lüge ein Kern Wahrheit steckt und im Bösen die Wandlung zum Guten, die Anima im Manne und der Animus in der Frau, die Nacht nicht ohne den Tag bestehen kann, der Schatten erst durch das Licht erlebt wird, so ist alles in allem enthalten und kann sich wiederum im anderen reflektieren.

Ein Zitat von Goethe: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die das Böse will und stets das Gute schafft“, versinnbildlicht deutlich den innewohnenden Kern dieses Prinzips, nämlich, dass es sich relativieren kann. Aus einem bösen Menschen kann ein guter Mensch werden und umgekehrt, weil der Kern von beiden im anderen potentiell enthalten ist. Auch Leid und Freud hängen sehr eng miteinander zusammen.

Vor diesem Hintergrund ist die Welt scheinbar, in der wir leben, denn alles wandelt sich. Wir fixieren sie nur mit unseren momentanen Einstellungen, die uns ein Bild von Statik und Geradlinigkeit vermitteln. Selbst das Licht ist nicht sichtbar, es wird nur wahrnehmbar, weil es sich an der dunklen Materie bricht. Das Polaritätsprinzip wird in der Karmalehre von Ursache und Wirkung deutlich. Ziel des Karmas ist es, dass es sich irgendwann in sich selbst erschöpft. Das kann es, wenn sich die gegensätzlichen Kräfte ausgleichen, also in der Mitte aufgelöst werden.

So wie ein Funke ein großes Feuer entfachen kann, müssen die karmischen Kräfte in sich selbst vollkommen ausgeschöpft sein. Und doch ist es für uns kaum vermeidbar Wirkungen zu erzeugen. Selbst Gedanken zeitigen Wirkungen in der materiellen Welt. Es ist unsere Eigenart und unser Wesen, Dinge wahrzunehmen. Diese sind wiederum von unterschiedlichen Faktoren, wie den Umständen, Einflüssen und charakterlichen Prägungen abhängig. Unsere Konditionierungen vermitteln uns ein Gefühl der Beständigkeit und doch sind wir im Leben fortwährend Wandlungen ausgesetzt.

SinneWenn Sie sich selbst betrachten, erhalten Sie Ihre Kontinuität von Ihrem Ich, um das sich Ihre ganze Welt dreht und von ihr geprägt wird. Doch schauen Sie sich Ihr Ich an, es verändert sich im Laufe des Lebens, je nach den Eindrücken, die Sie erhalten haben. Was Sie kennzeichnet, ist Ihre Eigenart, Ihr Wesen, das nicht mit Ihrem Ich identisch sein muss.

Aber wie sind Sie in Ihrer Eigenart, mit all den Vorlieben und Abneigungen, entstanden? Was prägte Sie? Was gab Ihnen Ihre individuelle Note? Es sind Ihre Erfahrungen und wie Sie von anderen Menschen, Einflüssen und Umständen, geprägt worden sind. Im gewissen Sinne wurden Sie „gemacht“, denn andere Menschen waren und sind an Ihrer Entwicklung beteiligt.

Sie selbst erleben sich als Ich statisch, aber alles was Sie erleben ist von Ihrer inneren Ansicht geprägt und somit relativ. Denn man kann auf eine Situation auf die unterschiedlichste Weise reagieren.

Davon hängen Ihre momentane Gefühlsstimmung, Konditionierungen, Eigenart, Beurteilung und aktuellen Umstände ab. Diese wiederum beeinflussen Ihre Reaktionen, die wiederum bei anderen Konstellationen womöglich völlig anders ausgefallen wären und Sie in eine ganz andere Richtung lotsen würde. Ihre Entscheidungen sind der eigentliche Rohstoff für Karma.

Wenn Sie Karma auflösen wollen, müssen Sie sich selbst in Ihrer Eigenart, so zu denken und zu handeln, relativ neutral verhalten, denn eine Situation kann man aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Die Situation ist – an für sich – wertfrei, nur durch unsere Eigenart erhalten die Dinge des Lebens Gewicht. Wir beurteilen zu stark und werden dadurch in unserer Wahrnehmung getrübt.

Wir sehen nicht die Botschaft, können nicht objektiv und neutral dem gegenüber stehen, weil wir auf unsere eigene Art darauf reagieren. Aber diese Art ändert sich immer wieder und damit auch die Dinge des Lebens. Doch wie ist Ihr Ich entstanden, was prägt es? Was ist es in sich selbst?

Schicht um Schicht müssen wir vordringen, um an sein innerstes Geheimnis zu kommen. Das innerste Geheimnis gleicht einem Altar, der für eine endgültige Vereinigung steht, wenn wir wie ein Tiefseetaucher in unsere unbewussten Gänge und Verließe unserer Seele hinabtauchen, um einen Schatz zu heben, der nicht von dieser Welt ist. Davon später.

Wenn wir alles, was uns ausmacht, ausblenden würden, blieben zwei ganz grundlegende Empfindungen übrig, die sich durch all unsere Gefühle und Gedanken ziehen: Zuneigung und Abneigung. Um diese beiden grundlegenden Gefühle herum gestaltet sich unser Wesen, in seiner besonderen Art und Weise. Sie können alles auf diese beiden Gefühlsausrichtungen reduzieren. Denn diese Empfindungen hatten Sie schon vor Ihrer Geburt, wo Ihr „Ich“ noch nicht geboren wurde, denn Sie waren in sich selbst verschlungen, in einer geborgenen Einheit undifferenzierten Seins.

SchwangerEs gab nur ein Fühlen, fundamentales Fühlen, gleichsam aufgesogen in unbegrenzter Wonne und Harmonie – das beruhigende Klopfen des Herzens der Mutter, das dumpfe Gluckern und Gurgeln der Organe, der weiche Tonfall der Mutter – ein seliges Grundempfinden. Wir hatten nur Empfindungen von Geborgenheit, Wärme und Sanftheit.

Kein Ich und kein Du existiert, kein Oben, kein Unten – keine Begrenzung und keine Form empfindend, sich selbst nicht ergreifend, so unendlich hinschwelgend in einem Meer voll zärtlicher Hingabe und seligen Vertrauens – Urvertrauen zum Leben.

Mit der Geburt kommen wir jäh zu einer gegenständlichen Form des Bewusstseins, durch die traumatische Erfahrung der Wonnigkeit entrissen zu werden und sich diesem Prozess völlig hilflos ausgeliefert zu fühlen. Denn Geborenwerden ist wie Sterben, genauso wie Sterben einer Geburt gleicht. In beiden Fällen tritt eine dramatische Veränderung ein, die den ursprünglichen Zustand unwiderruflich beendet.

Wir reagieren mit Angst, mit Todesangst, denn das Neugeborene weiß ebenso wenig wie ein Sterbender, was ihn erwarten wird. Nur das Vertraute vermittelt Geborgenheit und damit Sicherheit – während das Unbekannte einem Drachen aus unergründlichen Tiefen gleicht, der einen zu verschlingen droht, wenn man ihn nicht überwindet. Der Drache hat ein Gesicht: Es ist Ihre eigene Angst, der Sie sich stellen müssen. Etwas, das Sie kennen, löst für gewöhnlich keine Angst mehr aus.

Die Geburtserfahrung gibt Aufschluss, wie Sie später mit Krisen und Ihrem eigenen Tod umgehen werden. Mit dem Einsetzen der Wehen fühlen wir eine Bedrohung heranschwellen – es droht der Verlust unserer Harmonie. Wir spüren eine Aufregung, die wir nicht lokalisieren können, fühlen uns eingeengt und gepresst und wir bekommen Angst. Wir werden unserer vertrauten Seligkeit jäh entrissen – es ist grell und kalt und beängstigende Formen bewegen sich um uns herum. Die erste Erfahrung in dieser Welt, in die wir nicht hinein wollten, ist Schmerz. Man schlägt uns und wir schreien, aus Hilflosigkeit, aus Abneigung, aus Todesangst. Diese Angst prägt sich fundamental in uns ein und ist der Indikator für unseren Lebenswillen.

Diese Angst liegt tief in Ihrem Unterbewusstsein und wirkt sich auf Ihre Einstellungen aus. Die Angst gewinnt wieder an Aktualität, wenn Sie mit Krisen konfrontiert werden, besonders dann, wenn Sie sterben.

Der Geburtsvorgang gibt einen impliziten Hinweis darauf, was uns im Leben erwarten kann, weil wir diese fundamentale Erfahrung als unbewusste Prägung auf unser Leben übertragen.

In seliger Harmonie eingebettet, werden wir nicht bewusst, aber die gegenteilige Erfahrung bringt uns zu Bewusstsein. Daher ist Geburt wie Sterben. Wir verlieren unsere Einheit – unsere Undifferenziertheit wonnigen Seins – um ein Leben als Mensch zu beginnen. Die Polarität nimmt damit seinen Anfang. Das Zusammenspiel zwischen Zuneigung und Abneigung entwickelt sich schon vor der Geburt und mit Einsetzen des Atems.

Das Neugeborene erfährt zuerst Angst, Hilflosigkeit und Abneigung, die sich durchaus in frustrierenden Gefühlen äußern. Diese Gefühle bilden die ersten Bausteine Ihres Unterbewusstseins, obgleich auch vorgeburtliche Gefühle gespeichert sind. Sie wirken auch heute als unbewusste Muster auf Ihr Leben ein, z.B. spiegeln sich in Ihren Beziehungen wieder.

EmbrioAls Embryo war das Bewusstsein noch völlig unterscheidungsfrei, denn es bildete eine Einheit mit seiner Umgebung. Erst durch die nachgeburtliche Erfahrung, regt sich das Empfinden mit der Umgebung nicht mehr einheitlich zu sein und erzeugt durch diese Abgrenzung der äußeren Welt der Form und der inneren Welt des Erlebens ein zartes Selbstgefühl.

Das Bedürfnis nach Geborgenheit und Wärme, die erste Erinnerung an den Zustand im Mutterleib, wird auf die Mutter projiziert, die das Bedürfnis befriedigt. Dadurch erlebt das Baby eine Fortsetzung seiner vorgeburtlichen Empfindungen, die ihm Vertrauen und Sicherheit geben.

Es kann noch nicht entscheiden zwischen Du und Ich, zwischen Objekt und Subjekt. Es empfindet sich selbst als Teil seiner Umgebung und als Erweiterung der Mutter, denn instinktiv weiß es, dass sein Überleben von ihr abhängt. Es reagiert mit Todesangst, wenn sie zu lange abwesend ist oder in anderen Formen ihre Zuneigung und Fürsorge entzieht.

Die Bindung an die Mutter ist so stark, dass es sich mit ihr identifiziert. Wie vernichtend werden da Erfahrungen von Abweisung oder Zorn seitens der Mutter erlebt. Das hängt mit dem Überlebensinstinkt schicksalhaft zusammen.

Um ein Gefühl der Sicherheit zu bekommen, und daher auch eine Festigung unseres Identitätsgefühls, müssen wir uns stets auf etwas beziehen können und das erhält das Baby durch seine Beziehung zur Mutter und seine vertraute Umgebung. Das Ich der Mutter wird zum Ich des Kindes. Das Baby hat noch kein Raum- und Zeitgefühl, kein Begriffsvermögen von Gegenständlichkeit, denn alles wird innerlich erlebt.

Begrenzung und Formen werden nicht begriffen, als etwas von dem Neugeborenen unabhängig Existierendes. Sie werden hingegen als Erweiterung des Selbst empfunden. Das ist die Erklärung, warum Babys Gegenstände in den Mund nehmen. Wir sind, was wir besitzen.

Mit dem keimhaften Bewusstsein des ersten „Besitzes“ fangen wir an, unseren Körper wahrzunehmen, als eine eigenständige Form, die unabhängig von der Mutter existiert. Unser beginnendes Ich-Gefühl zeichnet sich ab, weil wir uns zu unserer näheren Umgebung und vertrauten Menschen, zum Vater, zu den Geschwistern etc. immer weiter in Relation setzen.

Da wir uns von unserer Umgebung immer weiter abgrenzen, empfinden wir auch den anfänglichen Unterschied zwischen Subjekt und Objekt. Wir begreifen, dass unsere Handlungen nicht mit uns identisch sind. Auch müssen wir bestimmte Verhaltensweisen an den Tag legen, um unsere Bedürfnisse befriedigen zu können. Wenn wir Laufen lernen, ändert sich unser ganzer Blickwinkel. Wir werden autonomer und erfahren unsere Umwelt als aufregende Entdeckungsreise. Wir lernen uns von den Dingen zu distanzieren, sie als Formen und Raum zu begreifen, die getrennt von uns selbst existieren.

Durch diese Abgrenzung bekommen wir ein dichteres Gefühl von uns selbst. Wir können unabhängig von unserer Umgebung und unseren Beziehungen bestehen und spüren durch diesen Unterschied, dass wir ein „Ich“ und einen eigenen Körper haben. Wir sind jetzt etwas Eigenes und nicht mehr die Erweiterung unserer Umgebung.

Mit dem Erlernen der Sprache kommt ein entscheidender Wendepunkt im Leben, weil hier unser Individualitätsgefühl geboren wird. Es festigt unser keimhaftes Ich–Bewusstsein und ist die zweite Transformation, die wir zu einem eigenständigen Selbst vollziehen. Denn in gewisser Weise stirbt das Baby in seiner harmonischen Welt der Undifferenziertheit, um in der Welt der Begrenzung und Form geboren zu werden.

Die Fähigkeit zu kommunizieren, in Interaktion mit seiner Umwelt zu treten und in Zeitabfolgen zu handeln, begründet die Persönlichkeit. Das Kind lernt durch sein spielerisches Verhalten seine Grenzen auszutesten, Aktion und Reaktion zu begreifen, seinen Willen zu behaupten und eigene Gedanken und Ideen zu bilden. All das formt unser Ich, durch das sich unser Wille entfaltet.

Der Wille ist der Form gebende Ausdruck unserer Seele und unseres Geistes, die gleichsam als „Idee“ die Welt der Materie bewohnen, um Veränderungen zu bewirken, Aktion und Reaktion zu erzielen und zu begreifen. Mit der „Geburt“ des Bewusstseins – ein eigenständiges Selbst zu sein, ein Ich zu sein – schließt sich der erste Kreis der Entwicklung. Damit bin ich mit meiner Reflexion am Ende angelangt.

Vielleicht konnte ich Sie anregen, selbst über diese Themen nachzudenken und sich ein eigenes Bild zu diesen Vorgängen zu machen. Denn schließlich bestehen wir Menschen nicht nur aus "Materie", sondern auch aus einer geistigen Komponente, von der wir noch allzuwenig wissen. Doch vielleicht ist gerade sie der Schlüssel zum Sinn unseres Lebens, unserem Glück und unserem Wohlergehen.

Weitere Anregungen zum Thema finden Sie in meinem Buch "Vom Schicksal der Seele", unterhalb des Artikels!

Viel Spaß beim Nachdenken!

Jamina Diley