Reflektionen: Ist Gott Realität oder Fiktion?

Gott spielt im öffentlichen Leben der aufgeklärten Welt eigentlich keine Rolle mehr. Wirklich tot zu kriegen, ist er allerdings nicht. Millionenfach wird der Begriff „Gott“ im Netz angeklickt. Doch letztlich werden viele User in ihrer Hoffnung enttäuscht. Was erwartet man? Wo ist der Unterschied, ob es Gott gibt oder nicht?

Tatsache ist: Man lebt – mit oder ohne Gott. Tatsache ist auch, dass das Leben fragil ist, die Welt voller Gefahren und die Zukunft ungewiss – mit oder ohne Gott. Sind es die Unsicherheiten des Lebens und die himmelschreienden Ungerechtigkeiten, die dennoch auf einen guten, starken und gerechten Gott hoffen lassen?

Wie dem auch sei, man möchte wenigstens wissen, wozu man lebt und leiden muss. Warum am Lebensende die glücklichen Momente nur noch Erinnerungen und eigentlich eine wertlose Währung sind. Nimmt man den Tod in den Blick, dann ist es auch für erfolgreiche Menschen deprimierend, dass sie am Ende nichts mehr von ihren Leistungen haben. Wäre es anders, wenn es Gott gäbe?

Die Psychologie versteht „Gott“ als eine Metapher für Sicherheit, Gerechtigkeit und Sinn. Wissenschaftlich gesehen ist es kein haltbarer Begriff. Das einzige Absolute, dem die Wissenschaft – bzw. die Naturwissenschaft – zustimmen kann, ist die Realität des absoluten Seins. Damit allerdings hat sie ein Problem. Sie "weiß" – wie jeder moderne Mensch – die Welt ist Materie.

Materie ist dualistische Energie. Daraus besteht alles in der Welt, auch lebende Wesen, wie der Mensch mit seinem Geist. Für Leben und Geist gibt es in der Wissenschaft keine plausible Erklärung. Solange diese Fragen offen bleiben, bleibt auch die Frage nach Gott offen. Bislang löst sich vor dem rationalen Blick der Wissenschaft alles Metaphysische auf, wie eine Fatahmorgana.

Wäre Ganzheit eine Basis?

Grundlage der frühen Menschheitskultur war die Vorstellung von einer Realität, in der Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit vereint waren. Heute in der modernen Kultur erweist sich die Welt als ein rein physikalisches Aggregat, dessen Kausalität das Leben und den Geist zwar trägt, jedoch in unverstandener Weise. Man müsse nur lange genug forschen – so meint man – dann wird man eines Tages auch das Leben und den Geist erklären können. Dumm ist nur, der Menschheit sind heute schon die lebensfeindlichen Folgen des Fortschritts über den Kopf gewachsen.

Nicht zu leugnen ist: Das Verschwinden Gottes – und mit ihm die Metaphysik – hinterließ in der Kultur und im menschlichen Gemüt ein Vakuum. Die Wissenschaft – mit ihrer Rationalität – kam bislang ebensowenig zu einer allgemeinen "Welterklärung", wie die Politik oder die Unterhaltungsindustrie. Eine tragfähige Basis für weltweit verbindende Werte muss wohl auf anderen Wegen gesucht werden.

Vielleicht sollte sich jetzt die Menschheit auf das besinnen, was sie an Weisheiten besitzt. Diese Schätze sollten aus allen Völkern der Erde zusammengetragen und mit wissenschaftlich gesichertem Wissen angereichert werden. So – in eine moderne, allgemeinverständliche Sprache gefasst – könnte dies ein Anfang für die Gestaltung einer realitätsnahen Weltbeschreibung werden. Vielleicht sogar einer Welt ohne "toxisches Vakuum".

Die Macht der Evolution

Wir leben, denken und hoffen, wir sehen uns als Teile der Natur im unendlichen Universum. Mit der Begabung bewusster Wahrnehmung haben unsere Vorfahren ihre sinnlich wahrnehmbare Umgebung erschlossen und in ihr Bewusstsein integriert. So ist die Welt im Geist der Menschheit erwacht und gewachsen. Von unseren Vorfahren haben wir diese Weltsicht geerbt. Wir arbeiten an diesem Erbe und werden es weiter vererben. Wir sollten dabei bedenken, dass wir mehr als biophysikalische Intelligenzmaschinen sind. Jeder ist auf seine persönliche Weise eine eigene Welt.

Man fragt sich, wie war es möglich, dass Leben mit intellektuellen Fähigkeiten im materiellen Universum entstehen konnte. War es Zufall oder Notwendigkeit? Um dieser Frage nachzugehen, sollte mit forschendem Geist tief ins Universum hineingeschaut werden. Zwei Ureigenschaften fallen da auf: Evolution und Entropie.

Die eine baut auf, die andere reißt Erbautes wieder ein. Trotz permanenter Auflösung (Entropie) entwickelte sich aus dem Urchaos ein komplexes Universum. Wir wissen: Grundsätzlich funktioniert eine komplexe Masse, indem ihre Teile im Dienst einer übergeordneten Sache stehen. Man nennt es „evoluierendes System“.

Nach diesem Prinzip hat sich der Kosmos strukturiert. Auf diesem Weg sind Lebewesen und Menschen entstanden, die das erkennen können. Daraus kann geschlossen werden, dass es vor der Realisierung des Universums irgendein Ziel als motivierende Kraft gegeben haben muss – vielleicht die Idee einer Ganzheit?

Wie dem auch sei, wir können aus den gegebenen Verhältnissen erkennen, dass die aufbauende Urkraft – die Evolution – die stärkere Kraft ist. Denn ohne sie wäre nie etwas entstanden. Man kann nun einwenden: Alles Entstandene – somit auch das Universum – wird vergehen. Also ist Entropie die stärkere Kraft.

Das ist richtig, aber nur wenn es auf die Gesamtmasse des Universums bezogen wird, falsch hingegen, wenn es sich auf die ganze Ganzheit des Seins bezieht. Denn wäre Entropie eine absolute Urkraft, dann wäre nicht einmal ein vergängliches Universum entstanden. "Werden und Vergehen" kann prinzipiell nur aus einer Dominanzverschiebung zwischen gegensätzlich motivierenden Energieanteilen erklärt werden. Dann muss am Anfang – also am Urknall und kurz davor – als Auslöser des Schöpfungsprozesses eine Ungleichheit innerhalb einer ausgewogenen universalen Ganzheit aufgetreten sein. Einer Ganzheit, die nicht ganz aus den Teilen erklärbar ist.

Da es im ausgewogenen Vorschöpfungszustand (die Astrophysik nennt ihn Supersymmetrie) keine konkretisierten Gegensätze gab, war dieser Zustand nach außen wirkungslos. Wirkkräfte konnten erst frei werden, nachdem eine der beiden gegensätzlichen Seiten aus irgendeinem Grund aus dem Gleichgewicht geriet und somit in raumzeitliche Begrenzungen kam.

Dieser Moment kann als Geburtsstunde des ungleichen Zwillingspaars Entropie und Evolution bezeichnet werden. Zugleich war es auch der Anfang des Ringens um Realisierung gegensätzlicher Ziele: Streben zur Ganzheit und Streben nach Auflösung.

Bei dieser Ausgangsposition ist bereits erkennbar, wo die Stärke der Evolution ist. Nämlich in ihrem konsequenten Festhalten an der ewigen Ganzheit. Die Entropie hingegen hat ihr Ziel in der Auflösung jeder geordneten Struktur – in letzter Konsequenz wäre es das Nichts. Dieses Ziel kann sie aber nie erreichen, weil absolutes Nichts jedes Sein vernichtet. Da Entropie also ihr Ziel nie ganz erreichen kann, bleibt ihr als Kompromiss nur die Möglichkeit, bestehende Strukturen bis zum Quasi-Nichts aufzulösen – zum Chaos.

Fazit: Dass wir altern und sterben, daran ist die Entropie schuld. Dass wir mit diesem Wissen dennoch leben wollen, darin zeigt sich die Macht der Evolution. 

Mentales Abenteuer

Es hat sich längst gezeigt, dass man bei der Frage, ob es Gott gibt oder nicht, auf üblichen Denkpfaden nicht weiter kommt. Die empirisch erforschbare Welt erweist sich in dieser Sache als Sackgasse. Es bleibt nur die Möglichkeit: von sicherem Boden ausgehen und mithilfe vorurteilsfreiem Denken, unter Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse, einen Aufstieg über theoretische Verknüpfungen zu wagen und dabei hoffen, bei einer tragenden These anzukommen.

Ein guter Ausgangspunkt wäre, sich klarzumachen, dass ein Mensch für sein Werden und seine gegenwärtige Existenz die ganze Welt braucht. Damit ist nicht nur die Welt unter der Sonne gemeint, auch nicht die ganze Galaxie mit unserem Sonnensystem. Das ganze Universum mit Milliarden Galaxien ist gemeint. Alles was war und ist, ist für die Existenz des Menschen notwendig – darüber besteht heute kein Zweifel.

Ist es etwa im Kleinen wie im Großen? Braucht unser Universum für sein Bestehen die universale Ganzheit, in der sich zahllose Universen befinden? Etwa wie beim Menschen, der ohne Menschheit nicht wäre? Dieser Gedanke verweist auf folgende Analogie:

Weil es viele männliche und weibliche Menschen gibt, können immer wieder neue Menschen geboren werden. Ist es in der universalen Ganzheit auch so? Wer waren dann die Eltern unseres Universums? Sind Universen vielleicht lebende Wesen? Etwa den Göttern alter Mythen vergleichbar?

Viele Schöpfungsmythen berichten von solchen Verhältnismäßigkeiten. Vielleicht lagen sie damit gar nicht so falsch. Aber unter solchen Göttern ist nicht der „Gott“, den wir gemäß unserer geschichtlich gewachsenen Kultur meinen. Der „Gott“, den wir meinen ist vollkommen, allmächtig, allwissend und omnipotent. Die Götter alter Mythen waren alle nicht ganz vollkommen.

Sie waren mit Mängeln behaftet, ähnlich wie die der Menschen. Universen sind zwar unfassbare Gebilde, vollkommen sind sie aber nicht. Darum ist jedes denkbare Universum, wenn auch in astronomischen Zeiträumen, dem Werden und Vergehen ausgesetzt. Der „Gott“ also, den wir meinen, muss an einem Ort zu suchen sein, wo es kein Werden und Vergehen gibt.

Indizien für einen Gott?

Auch wenn das Bild, das wir uns vom Universum machen materialistisch geprägt ist, so erkennen wir dennoch in ihm göttliche Attribute, wie zum Beispiel unerschöpfliche Gestaltungskraft, intelligente Strukturen, Potenz zum Leben, Bewusstsein und Geist. Trotz aller göttlichen Attribute können wir nicht leugnen, dass dieses Universum vergänglich ist.

Wir können auch nicht leugnen, dass es das alles umfassende Sein gibt, und dass dieses, im Gegensatz zum Universum unvergänglich ist. Damit erkennen wir zweifelsfrei, dass der natürliche Gegensatz des absoluten Seins das „Nichts“ ist. Weil wir die universale Ganzheit denken können, sind wir potenziell im Besitz des Seins. Das ist im wahrsten Sinne göttlich.

Diesem Kapital verdanken wir unbestreitbar unsere geistige Freiheit. Mit dieser Grundlage können wir virtuelle Welten erschaffen. Es gibt uns auch die Lizenz zum Erforschen der realen Welt. Bei soviel göttlichen Gaben hindert uns nur noch eins am Gottsein – mit unserem Körper vergehen auch unsere Welten. Anstatt so etwas wie ein Gott sind wir plötzlich nichts. Dennoch, die Realität, von der wir ein Abbild sind, wird ganz bestimmt nicht von diesem Schicksal ereilt.

Die wahre Realität ist zweifellos ein ewiger Wert. Wir meinen, wenn wir abends auf den Tag zurückschauen, wären alle Ereignisse des Tages Vergangenheit. Das stimmt insofern nicht, als jede Sekunde mit ihren unendlichen Inhalten Teil des absoluten Seins ist und auch immer bleiben wird. Nichts also fällt je aus der Realität heraus. Insofern verliert die Vergangenheit niemals ihre Wirkkraft, sie wird nur nicht vom Bewusstsein als gegenwärtig erlebt.

Das liegt daran, dass unser materiegebundenes Menschenwesen bedingungslos seinem elementaren Zeitpfeil folgt, der trägt es in die Zukunft hinein und lässt keine körperliche Umkehr zu, nur eine geistige Rückschau ist ihm gestattet.

Wie sehr die Vergangenheit in der Gegenwart gegenwärtig ist, lehrt uns die Physik und die Biologie. Die Spuren der gegenwärtigen Welt, sowie die Spuren, die unser Menschsein ausmachen, reichen durch alle Sphären der Vergangenheit, bis in den Urknall und genaugenommen darüber hinaus ins ewige Sein.

Der Wahre Gott?!

Die Realität lehrt uns, was unter dem Begriff „Gott“ zu verstehen ist: Realität, die niemals stirbt. Diese Realität umfasst alles, was es gibt. Am Beispiel unseres Universums wissen wir, dass im sogenannten Urknall die unvorstellbar große Masse des Universums zum raumzeitlosen Punkt komprimiert war. Wir können uns das zwar mit unserem sinnlich geprägten Verstand nicht vorstellen, müssen uns aber den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Forschung – die trotz unglaublicher Thesen erfolgreich ist – beugen.

Wir können viele unendliche Dinge in Worte zusammenfassen, wie zum Beispiel die „Welt“, Alles, Nichts, im kleinen Wort „Sein“. Diese unsere Fähigkeit gehört ebenso zur Realität, wie der komprimierte Schöpfungsanfang. Somit ist unsere Abstraktionsfähigkeit der universalen Realität immanent. Folglich kann man auch die These wagen: Das gegenständliche Sein ist der Körper Gottes und die Welt der Sprache sein Geist.

Weil alles in diesem Multi-Organismus mittels materieller Schaltstellen und immaterieller Kräfte verbunden ist, kann man „Gott“ als "Die Person" bezeichnen. Da jedes Elementarteilchen im „Kern“ raum- und zeitlos ist – und somit geistige Qualität hat – kann man sagen: „Gottes“ Geist ist in allen Dingen gegenwärtig. Diesem Faktum, davon kann man ausgehen, verdanken wir unsere fantastische Möglichkeit, der Wahrheit des Seins nachzuspüren.

Weil „Gott“ – die absolute Realität – alles umfasst was ist, war und jemals sein wird, ist dann der denkfähige Mensch wirklich – wie der christliche Glaube lehrt – ein Abbild Gottes? Wäre dann Gott vielleicht so etwas wie der vollendete Mensch? – Nein, so kann es nicht sein. Der Mensch hat zwar göttliche Eigenschaften, vor allem weil er das System des Lebens in bester Weise spiegelt, er hat auch die Qualifikation zur Selbstbestimmung, also die Voraussetzung, die eine Persönlichkeit auszeichnen.

Und dennoch bleibt zwischen den Begriffen „Gott“ und „Mensch“ ein unendlicher Abstand. Denn der Begriff „Gott“ enthält mehr als nur abstrakte Werte. Er ist die Metapher für das Größte und das Kleinste. Insofern ist er die absolute Ganzheit, während ein Mensch nur ein winziges Teilchen davon ist.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Gott nicht nur Glaubenssache ist, ist also nicht ganz von der Hand zu weisen. Da ist aber etwas, das zweifeln lässt: Wenn Gott zwar nicht der vollkommene Mensch ist, aber dennoch Wesensmerkmale zwischen Gott und Mensch bestehen, dann müsste man erwarten können, dass man mit Gott sprechen und seine Nähe spüren kann.

Mit dieser Meinung verkennen wir jedoch einen wesentlichen Aspekt der Realität. Uns wird kaum bewusst, dass wir gleichzeitig in drei Welten leben: In der Ich-Welt, der Sach-Welt und in der Überwelt des allgemeinen Seins. Alle drei Welten wirken ständig auf uns ein. Jede will uns in Besitz nehmen.

In diesem „Verständigungsproblem“ ist System. Denn würde Gott uns deutlich ansprechen, und hätte er Menschen seit Menschheitsbeginn vor allen Irrtümern und Gefahren bewahrt, dann hätte es nie den Entwicklungsschritt vom Tier zum Menschen gegeben. Zum Menschenschicksal gehört nun mal, dass wir bewusst die Welt erfahren und in dieser Weise alle Dimensionen in Besitz nehmen.

Aber nicht um sie zu missbrauchen, sondern um sie uns anzueignen. Die Welt sind im wahrsten Sinne wir – und nicht nur das, wir sind auch der Urgrund der Welt, ja des ganzen Seins. Wir tragen „Gott“ – das Zentrum aller Dinge, sowie die universale Realität – in uns, es ist in jedem unserer Elementarteilchen, in jeder Zelle und im Kern unseres Wesens.

„Gott“, der alles verkörpert, auch den Geist und das Leben, wartet nur darauf, von uns gefunden zu werden. Wer das Glück hat ihn zu finden, findet zugleich sich selbst. Und dies als Mensch, der in seiner Unvollkommenheit und seiner gelebten Realität in die allgemeine Realität mehr oder weniger organisch eingebettet ist. Das ist mehr als unsere Grauen Zellen fassen können.

Heinz Altmann