Das thelemische Fest und die Gegenwart der Götter

Eine Betrachtung über das Wesen des Festes aus thelemischer Sicht (als
Vortrag auf dem Sommerfest der Thelema Society am 24. 08. 2005 gehalten).

Thelema und Fest

Redet man vor Thelemiten vom Fest, so rennt der Vortragende damit hoffentlich
offene Türen ein. Denn schließlich heißt es in der zentralen
religiösen Dichtung der Thelemiten, dem Liber Legis, welches der Magier
Aleister Crowley 1904 von drei ägyptischen Göttern channelte:

„Ein Fest jeden Tag in euren Herzen in der Freude meines Entzückens!
Ein Fest jede Nacht für Nu und das Vergnügen höchsten Entzückens!
Ja! feiert! frohlockt! es gibt keine Furcht danach! Es gibt die Auflösung
und
ewige Ekstase in den Küssen von Nu.“

Das
Liber Legis bestimmt hier also das Fest als eine zentrale Haltung des Thelemiten
zum seinem Leben. Bevor ich das Wesen des Festes zu ergründen suche, will
ich ein paar Worte zur Funktion des Liber Legis in unserer Geschichte sagen
und welchen Stellenwert es für mich besitzt.

Dichtungen stehen immer am Beginn einer neuen Lebensform. Das zeigt sich deutlich
an der Ideenlehre Platons oder der Logik und Metaphysik des Aristoteles, die
seherische, prophetische Dichtungen darstellen, die noch heute die Grundstruktur
unseres Denkens bestimmen.

Auch die im Alltag wie Wissenschaft so gerühmte
sachliche Objektivität wäre ohne die die poetische Einbildungskraft
des Philosophen Immanuel Kant nicht möglich gewesen. Sowohl Platon wie
Aristoteles als auch Kant dichteten Einblicke in das, was die Welt im Innersten
zusammenhält, die in erster Linie auf selbstgesetzten Prämissen gründeten
– d.h. diese philosophischen Dichtungen gründeten schlicht in sich selbst.

In dieser Tradition steht nun auch die Dichtung des Aleister Crowley. Und damit
auch in der Tradition der Bibel, des Koran, des Enuma Elisch, der Edda, des
Kalevala, des Gesetzbuches von Mani, der Bhagavadgita, Goethes „Faust“
usw. Das Liber Legis tritt gleichberechtigt an die Seite dieser hervorragenden
poetischen Leistungen der Menschheit.

In einer Zeit, in der die etablierten
Werte – die realistisch-protestantisch-arbeitssexuellmoralischdemokratischen
Werte – ihren Glanz einzubüßen beginnen und nur noch die Faszination geöffneter
Leichen in einem medizinischen Labor verbreiten, benötigt es eine neue
Offenbarung in gebundener – und d.h. geformter, stilechter, origineller – Sprache,
die genug Lebendigkeit ausstrahlt, um eine metaphysiche Geborgenheit zu erzeugen,
die in etwa der Wirkung des Katholizismus im Hochmittelalter vergleichbar wäre.

Eine Offenbarung müsste es sein, die so überzeugend und plausibel
ist, das Menschen daran ihren Charakter, ihren persönlichen Stil, ja ihr
Schicksal und ihren Lebensvollzug formen können. Dies kann nur über
das Wort geschehen, denn in Alltag und Fest, in Arbeit und Besinnung, in Leid
und Freude bewegen wir uns immer im Königreich der Sprache, ohne die es
weder menschliche Persönlichkeit noch Kultur noch irgendein gemeinsames
Handeln geben könnte.

Das Bedürfnis nach einer solchen neuen sinnstiftenden Dichtung ist bereits
seit der Goethe-Schiller-Zeit wach gewesen. Neben diesen beiden literarischen
Heroen künden vor allem die Gottesschau des Dichters Hölderlins, die
sich aus der Stimmung der deutschen Landschaft und griechischer Mythologie speiste,
– die neue Empfindsamkeit des Gemüts, die erstmals bei dem Franzosen Rosseau
ihre Sprache findet.

Die Bemühungen der Romantik um die Darstellung des
Unsichtbaren im Sichtbaren der Kunst, – das Gesamtkunstwerk Richard Wagners,
– die Symphonien etwa eines Anton Bruckner oder Gustav Mahler, – das der Einsamkeit
abgerungene Werk des Philosophen Friedrich Nietzsche, – der Versuch eines „Lebens
ohne Alltag“ im Dichterkreis um Stefan George mit seinem zeitprägenden
Pathos.

Die zwischen strengem Formwillen, archaischer Sehnsucht und Nihilismus
stehenden Gedichte von Gottfried Benn und die namenlose Sehnsucht der deutschen
Jugendbewegung (Speer und Meer sind in ihren Liedern Synonyme für dieses
Sehnen – der zielsichere Speer wird in das Meer der Möglichkeiten hinausgeworfen)
von der Suche nach neuen Werten, nach neuen Wahrheiten, die das Leben wieder
zum Geheimnis werden lassen und einen neuen feurigen innerlich gefühlten
und real gelebten Lebenssinn formen wollen. Das Eichendorffsche Zauberwort wurde
gesucht – jenes Zauberwort, welches das Lied, das in allen Dingen schläft,
wieder zum klingen bringt.


Dieses Klingen hören wir in der Dichtung des Liber Legis. Woher kommt aber
ihr Vorrang für den Thelemiten vor all diesen großartigen kulturellen
Leistungen? Das Liber Legis ist dichterische Stimme der Götter. Und das
Fest steht im Schatten der Götter und fordert ihre Erscheinung. In Bezug
auf das Fest knüpft Thelema an eine alte antike Tradition an. Überhaupt
kommen in Thelema viele Elemente der Antike zum tragen, die allerdings in moderner
Reflektion gebrochen werden müssen, um so letztlich etwas völlig Neues
darzustellen, das trotzdem ohne den antiken Ursprung nicht denkbar wäre.

Unser Wort für Fest leitet sich von dem antiken lateinischen Begriff „fanum“
her. Fanum aber verweist auf das Heilige, auf den Ort der Gottheit, auf einen
sakralen Bezirk, aus dem jede Profanität ausgeschlossen bleibt. Das Fest
ist somit ursprünglich ein klar abgegrenztes Raum-Zeit-Gefüge mit
eigenen heiligen Gesetzen, die den Alltag ausser Kraft setzen – sozusagen ein
Sakralchronotop. Andere Formen des Sakralchronotops wären der Ritus bzw.
das Ritual oder die Messe oder auch das heilige Spiel, welche aber wiederum
Elemente eines Festes sein können. Insofern stellt das Fest das Sakralchronotop
schlechthin dar. In diesem Gefüge aber wohnen wie im Allerheiligsten des
Tempels die Götter in leibhaftiger Gegenwart.

Das altägyptische Opet-Fest

Die Anwesenheit der Götter im Fest zeigt sich exemplarisch in dem Namen
des altägyptischen Königs Horemheb, der nach dem Tod von Tutanchamun
1319 v. Chr. den Thron als Begründer der 18. Dynastie bestieg. Horemheb
bedeutet „Horus ist im Fest“. Dieser ehemalige Heerführer diente
zuerst unter Echnaton, der bekanntlich mit drastischen Maßnahmen die Verehrung
der vielen Götter Ägyptens im Namen des einen Gottes Aton (der Personifikation
der Sonne) bekämpfte.

Aber Horemheb ist es nun, der die letzten Reste dieser
Reformen beseitigt. Sein Name, den er sich bei der Thronbesteigung gibt, soll
die Rückkehr der Götter ausdrücken, die Rückkehr insbesondere
des Schutzherrn der Könige, des falkengestaltigen Gottes Horus. Hier zeigt
sich schon ein wichtiger Aspekt des Festes. Es legitimiert und setzt eine neue
Situation in ihr vollständiges Recht.

Horemheb drückt in seinem Namen eine dreifache Legitimation aus: Im Fest
wird er zum Begründer eines neuen Königsgeschlechts und beansprucht
trotz seiner Herkunft aus der Generalität die Würden eines Pharao.
Im Fest kehren die Götter nach dem Monotheismus Eschnatons nach Ägypten
zurück. Im Fest übernimmt Horus wieder seine Funktion als Königsgott.

Das alte Ägypten soll mir hier als Ausgangspunkt für die Bestimmung
der Elemente und Prinzipien des Festes dienen. Seine Rechtfertigung erfährt
ein solches Vorgehen nicht nur aus der (für mich als Thelemit wichtigen)
Tatsache, das im Liber Legis drei ägyptische Götter von sich künden,
sondern auch aus dem starken geistigen Einfluss des alten Ägyptens auf
die Entstehung des Abendlandes, dessen anfängliche Prägung von der
Begegnung des jungen Volkes der Griechen mit uralter ägyptischer Theologie
und Weisheit mitbestimmt wurde. War doch schon für den griechischen Geschichtsschreiber
Herodot (ca. 485 – 425 v. Chr.) Ägypten das Ursprungsland der griechischen
Götter und der große Weisheitstempel der Menschheit.

Lassen wir uns also ins Ägypten des Neuen Reiches entführen in die
Zeit vor etwa 3500 Jahren. Ich will Euch zuerst das altägyptische Opetfest
beschreiben, um darüber zum Wesenskern des Festes zu gelangen. Denn im
Opetfest erscheinen alle Elemente in klarer Anschaulichkeit, die das Phänomen
des Festes ausmachen.

Zwei Bildzyklen vermitteln uns ein Bild vom Festgeschehen. Der ältere
von beiden befindet sich an den Innen- und Außenwänden der sogenannten
„Roten Kapelle“ der Königin Hatschepsut im Tempel von Karnak,
wo er im Jahre 1462 v. Chr. angebracht wurde. Im Auftrag des „Kindkönigs“
Tutanchamun entstand im Jahre 1330 v. Chr. ein weiterer Bildzyklus im Säulengang
des Tempels von Luxor, der das Opetfest thematisierte. Die Hieroglyphen und
Bilder beider Zyklen sind zwar teilweise zerstört, aber noch ausreichend
erhalten, um den Ablauf des Festes zu rekonstruieren.

Der Name Opet bedeutet „Frauenhaus“ und lebt noch im arabischen Wort
Harem weiter. Der Opet war Teil des königlichen Palasts und seine Funktion
wurde später auf den Tempelbereich übertragen. Opet ist hier der Ort,
an dem der Hauptgott des Tempels sich mit seiner göttlichen Gemahlin in
einer Heiligen Hochzeit vereint. Der Reichstempel von Karnak beherbergt eine
dreiköpfige Götterfamilie, die oberste Göttertrias von Theben:
Amun als Vater, Mut als Mutter und Chons als Sohn. Der Tempel von Luxor ist
dem Reichstempel als Opet zugeordnet.

Eine drei Kilometer lange Prozessionsstraße
verbindet beide Tempel, die durch eine Allee von Sphingen führt. Während
die drei Granitkapellen des Opet-Tempels für Amun, Mut und Chons noch von
Hatschepsut errichtet wurden, erhält er erst hundert Jahre später
den festlichen Vorplatz, der von vierzehn riesigen Steinsäulen gebildet
wird, die sich 20 m hoch zum Himmel recken und das Papyrusdickicht symbolisieren,
in dem einst Isis den kindlichen Horus vor Seth versteckte.

Einmal im Jahr ziehen die Götter auf ihren Barken von Karnak nach Luxor.
Am 15. Tag des 2. Monats der Nilüberschwemmung (d.i. im September), wenn
die Felder mit dem fruchtbaren Schlamm des Flusses bedeckt sind, feiern die
Ägypter das Opetfest. Der Ägyptologe Dietrich Wildung fasst den Sinn
des Festes in einem prägnanten Satz zusammen: „Gott kommt auf Erden,
Amun erscheint im Fest, Ägypten bricht in Jubel aus.“

Das Fest wurde anfangs nur elf Tage gefeiert, weitete sich später aber
auf 24 – 27 Tage aus. Es beginnt mit einer langen Vorbereitungszeit. In dieser
Zeit bringt der Pharao selbst – der sich sonst von einem Priester vertreten
lässt – die Opfer für Amun dar, die aus Speisen und Räucherwerk
bestehen. Der Gott bleibt aber noch wie in der übrigen Zeit des Jahres
unsichtbar hinter einer Abschirmung verborgen. Die Kapellen der Prozessionsbarken
sind mit weissen Tüchern verhangen.

Auf
diesen Barken gehen die Götter schließlich auf Reisen. Die Priester
nehmen auf langen Tragestangen die Barken auf ihrer Schultern und tragen sie
unter Begleitung des Pharaos durch den Eingangspylon des Tempels von Karnak,
vor dem acht Wimpel aufgezogen sind. Die Barken werden zur Anlegestelle getragen,
bei der sie ins Wasser gesetzt werden.

Dieser Weg ist kurz, aber er nimmt mehrere
Tage in Anspruch! Vor den Götterbarken vollziehen der Pharao und die Priester
fast rund um die Uhr Rituale, die die Götter darauf vorbereiten sollen,
über Land und Wasser zu reisen. Der Pharao bringt neben den Rauch- und
Speisenopfern jetzt auch Trankopfer dar, er reinigt und bekleidet die Götterstatuen
und betet vor ihnen. Hunderte von Rindern werden geopfert, die auch der Verpflegung
des Tempelpersonals dienen. Das eigentliche Fest hat noch nicht begonnen.

Endlich können die Barken über den Fluss reisen. Prächtig geschmückte
königliche Schiffe begleiten die göttlichen Wogengleiter. Am Ufer
ziehen Einheiten des Militärs in Marschordnung auf. Ihnen zur Seite stehen
Musikkapellen mit Trommeln, Trompeten und Kastagnetten, die ihr lautstarkes
Spiel zu Ehren der Götter erklingen lassen. Die Barken werden vom Ufer
aus mit Tauen über das Wasser gezogen, denn sie besitzen im Gegensatz zu
den Begleitschiffen keine Segel. Die Fahrt geht flußaufwärts von
Karnak nach Luxor, das im hundertorigen Theben liegt.

Zu den Kriegern und den
Musikern haben sich jetzt Priesterinnen mit Sistren gesellt. Alle antiken Völker
liebten besonders den Kampfsport, aber nirgendwo hatte das Stockfechten eine
so große Bedeutung wie bei den Ägyptern. So kann es nicht verwundern,
das nun auch Stockfechter zur Trommelbegleitung ihre Künste zeigen. Die
Prozession wird vom Volk bejubelt, das schaarenweise zusammengeströmt ist
und von eigens dafür aufgestellten Buden kostenlos mit Fleisch und Brot
bewirtet werden kann.

Die Barken kommen an der Anlegestelle des Tempels von Luxor zum stehen. Die
Priester stimmen ein hymnisches Lied für die Götter an. Darin heißt
es, das Amun nun tun wird, was ihn befriedigt und das ist die heilige Hochzeit
im Opet. Währenddessen dampfen die Tempelküchen von Luxor vom Blut
der geschlachteten Opfertiere und den aus ihnen bereiteten Festspeisen. Unzählige
Weinkrüge (Wein ist in Ägypten häufig von grüner Farbe),
Brot, Obst und Gemüse werden für das Fest bereitgestellt.

Jetzt erscheint vor dem Tempeltor eine Musikkapelle, die einen Trommelwirbel
erklingen lässt. Die Sistren der Priesterinnen rasseln. Zwölf junge
Tänzerinnen führen einen kunstvollen Tanz auf. Ein Hohepriester wird
durch das Nicken der Statue Amuns in sein Amt eingesetzt. Plötzlich aber
herrscht feierliche Ruhe. Auf den Bildern der Zyklen sehen wir auf einem Bild
hunderte von Bediensteten, jubelndes Volk, Tänzer und Akrobaten. Auf der
nächsten Darstellung aber sind sie wie auf einen Schlag einfach verschwunden.
Kein Mensch ist mehr zu sehen.

Nur noch die Götterbarken mit einem Opfertisch
vor ihnen verbleiben in einsamer Monumentalität. Sie werden ins Tempelinnere
getragen und dort vollzieht Amun mit Mut, die in den Inschriften auch Maat-ka-Ra
genannt wird, die Heilige Hochzeit. Der Beiname der Göttin als Maat mag
an die Aufrechterhaltung der kosmischen Ordnung und an die doppelt erfahrene
Zeitauffassung der alten Ägypter erinnern. Die Sonne Amun-Re, der Lauf
der Welt, die zyklisch erfahrene Neheh-Zeit, vereinigt sich mit dem bleibenden
Gesetz, der Struktur der Welt, der als Dauer und Ewigkeit erfahrenen Djet-Zeit.

Im Tempel von Luxor finden wir östlich des Saktuars einen Raum, der von
der göttlichen Abstammung des Pharaos berichtet. Auf diesen Bildern und
Inschriften beruft Amun eine Götterversammlung ein und erklärt ihr
seine Absicht, mit einer irdischen Königin ein Kind zu zeugen, das der
künftige Thronfolger werden soll. Als der Götterkönig zur Erde
niedersteigt erfüllt sein Gottesduft den ganzen Palast.

Die Königin
erkennt den Gott, als er ihr Gemach in der Gestalt ihres Gatten betritt und
gibt sich ihm freudig hin. Durch die Geburt des aus dieser Vereinigung hervorgegangenen
Kindes geschieht die Menschwerdung des Gottes. Ein neuer Pharao erscheint in
der Welt. Im Opetfest verbindet sich also die göttliche Hochzeit mit der
Hochzeit zwischen einer irdischen Frau und dem Gott Amun, welche die Kontinuität
der göttlichen Herrschaft auf Erden garantiert.

Die Hieroplypheninschriften schweigen über das Geschehen im Innern des
Tempels von Luxor. Der Aufenthalt Amuns – um zu tun, was ihn befriedigt – dauert
mindestens zehn Tage lang. Während dieser Zeit hält der König
Audienzen ab, um mit den Würdenträgern des Landes diplomatische Gespräche
zu führen, die wichtige politische Entscheidungen betreffen. Die Volksmassen
feiern tagelang vor den Toren des Tempels. Auch im Vergleich zu anderen steinernen
Überlieferungen des alten Ägyptens haben wir für das Opetfest
eine besonders zahlreich und bewegt dargestellte Versammlung des einfachen Volkes
vor uns. Am Ende steht die Rückkehr der Götterbarken nach Karnak,
die nicht weniger komplex erfolgt als die Fahrt der Götter zu ihrem Fest.

Das Wesen des Festes I – Die vielen Gesichter des Festes

Die
Elemente des Festes, wie sie sich im alten Ägypten zeigen, bleiben bestimmend
über Jahrtausende. In den griechischen Festen der Poleis finden wir sie
ebenso wieder wie in den höfischen Festen des Mittelalters oder noch in
der frühen Neuzeit beim Fest im Dresdner Zwinger des sächsischen Königs
August des Starken.

Idee und Wirklichkeit bedingen einander. Betrachte ich das Phänomen des
Festes, wird das was ich wahrnehme, immer schon durch vorausgesetzte Ideen
mitbestimmt sein. Andererseits formt die Betrachtung der Wirklichkeit natürlich
erst die Idee, die ich über das Fest habe. Insofern wird auch jede Betrachtung,
sich dem Phänomen selbst widmen, wie wir es in der Erzählung des Opetfestes
getan haben.

Diese Wirklichkeit jedoch wird sich nicht ohne eine strukturierende
Idee darstellen lassen – schon wie ich die Wirklichkeit erzähle, bleibt
von einer Idee abhängig. Diese Idee, die schon die vorhergehende Darstellung
getragen hatte, lege ich jetzt offen dar. Sie wäre aber auch nicht entstanden
ohne die Wirklichkeit eines Festes, wie wir es zur Zeit der Nilüberschwemmung
im alten Ägypten finden. Kurz gesagt: Wirklichkeit und Idee verursachen
sich gegenseitig. Sie sind nicht kausal verknüpft in die eine oder die
andere Richtung, sondern kreisen sozusagen spielerisch umeinander.

Um zu einer umfassenden Idee der Wirklichkeit des Festes zu gelangen, untersuchen
wir zuerst unser Beispiel auf die grundlegenden Elemente und ergänzen diese
Untersuchung nachher mit den unterschiedlichen Sichtweisen dreier Denker auf
das Thema Fest.

Welche Elemente finden wir nun im Opetfest, die eine Idee des Festes tragen
können?

1. Das Fest bezieht sich auf die Götter und zwar auf die Erscheinung des
Gottes auf Erden in den Götterstatuen und -barken. Das Zu-Feiernde des
Festes ist der Gott bzw. die Begegnung des Menschen mit dem Gott. Für Ägypten
müssen wir hier noch genauer werden, denn die Priester verkehren im sakralen
Alltag permanent mit den Göttern: im ägyptischen Fest findet die Begegnung
des weltlichen außerhalb des Tempels liegenden Bereiches (einschließlich
des Volkes) mit den Göttern statt.

2. Das Fest benötigt eine Vorbereitungszeit. Einerseits stimmen sich in
dieser Zeit der Pharao und die Priester auf das Fest ein, andererseits müssen
die Götter darauf vorbereitet werden, ihr Allerheiligstes zu verlassen.

3. Pharao, Priester, die Mitakteure des Festes wie das Militär und die
Tänzerinnen als auch die Zuschauer, das Volk, befinden sich in einer besonderen
festlichen Hochstimmung. Freude und Jubel begleiten das Fest.

4. Alle Schichten der ägyptischen Gesellschaft sind am Fest beteiligt.

5. Im Mittelpunkt des Festes steht eine Prozession. Musik, Tanz und kunstvolle
Vorführungen begleiten die Prozession.

6. Speise, Trank und Weihrauch werden in verschwenderischer Fülle an den
Tagen des Festes verbraucht. Die Beköstigung des Volkes ist kostenlos.

7. Das Fest hat einen besonderen Höhepunkt: – Die Heilige Hochzeit von
Amun und Mut.

8. Wichtige politische und personelle Entscheidungen werden während des
Festes getroffen.

Während wir dieses im Hinterkopf behalten, kann es nützlich sein,
sich noch andere Perspektiven einzuholen, um das Phänomen in seiner Komplexität
zu erfassen. Daher betrachten wir jetzt drei unterschiedliche Modelle, die den
verschiedenen denkerischen Hintergrund ihrer Autoren durchscheinen lassen: Wie
sehen also ein Theologe, ein Ägyptologe und ein Ethologe das Fest. Danach
lässt sich das Wesen des Festes in umfassender Vollständigkeit erfassen:

Der evangelische Theologe Carl Heinz Ratschow an der Universität Augsburg
folgert aus seiner Betrachtung des Festes:

1. Das Fest ist die Vollendung des Alltags. Gefeiert wird der Abschluß
einer bestimmten alltäglichen Tätigkeit wie die Jagd oder die Ernte
oder die Beendigung eines Lebensabschnittes wie beispielsweise der Kindheit.
Dabei bleibt das Fest auf die Zukunft orientiert. Die Feier des Abschlusses
bedeutet die Öffnung für das Neue.

2. Das Fest besitzt eine eigene Zeitqualität. Diese Qualität dient
u.a. dazu, den alltäglichen Fluß der Vergänglichkeit und des
Todes auszuschließen. Nur im dauernden Augenblick des Festes eilen die Dinge
nicht ihrem Ende entgegen.

3. Das Fest bedeutet das Sich-Öffnen dem Anderen gegenüber – sei
er nun ein Gott oder ein Mensch. Aufgrund dieser Übersteigung der eigenen
Person ist das Fest mit dem Opfer und dem Geschenk verknüpft. Der freiwillige
Verzicht auf den individuellen Egoismus erschafft erst die Gemeinsamkeit. Auch
die festlichen Wettkämpfe, der griechische Agon, bedeuten eine Opferung
der eigenen Leistung zu Ehren des Zu-Feiernden. Bei den altgriechischen Festspielen
in Olympia erhielten die Athleten kein Gold oder andere materielle Werte, sondern
nur einen aus aus Olivenzweigen geflochtenen Kranz als symbolischen Preis.

4. Damit werden die Feste zum Inbegriff des Sittlichen. Das Sittliche ist für
Ratschow allerdings weniger im Moralischen verankert, als vielmehr ein Synonym
für die selbstverständlichen Verhaltensweisen einer Kultur. Dadurch
das der Mensch beispielsweise die Befriedigung des Hungers in ein festliches
Mahl für den Gott verfeinert, in dem es nicht mehr vordergründig um
die Triebbefriedigung geht, gleicht er im Fest seinen Mangel gegenüber
den Göttern aus – so wie er in den notwendigen Tätigkeiten des Alltags
seinen Mangel gegenüber den Tieren (seine nicht-spezialisierte Körperkonstitution)
ausgleicht.

5. Das Fest steht immer in einem religiösen Grundzusammenhang. Es bleibt
eingebettet in die Formen, wie eine Kultur sich mit dem Heiligen verbindet.
Ohne diesen verliert es seinen Sinn.

Der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann stellt dagegen
den Unterschied zwischen Alltag und Fest scharf heraus:

Die Prinzipien des Alltags sind Kontingenz, Knappheit und Routine. Kontingenz
bedeutet Beliebigkeit und zwar in Bezug auf die Forderung des Alltags, sich
auf jede Situation passend einzustellen, die der Erreichung eines bestimmten
rationalen Zweckes dient. Dazu ist eine gewisse kritische Aufmerksamkeit nötig,
die sich auf ein einzelnes Ziel bezieht.

Der größere Sinnzusammenhang
wird nicht realisiert, ja das Denken an denselben kann eine Störung oder
Unkonzentriertheit in Bezug auf den Zweck bedeuten. Knappheit bedeutet die möglichst
effektive und sparsame Einteilung der materiellen und zeitlichen Ressourcen,
die dem zu erreichenden Ziel dienen. Routine lässt sich nicht nur als Gleichlauf
einer Herangehensweise oder eines Handlungsablaufs inhaltlich bestimmen, sondern
auch als der Gleichlauf der Gefühle. Gefühlsaufwallungen sind im Alltag
fehl am Platze – um ein Ziel rational zu erreichen, werden vielmehr kühle
Distanz, Abgeklärtheit und Selbstbeherrschung gefordert.

Diesen drei Prinzipien des Alltags lassen sich nun die des Festes gegenüberstellen.
Statt den anfallenden Erfordernissen preisgegeben zu sein, wird das Fest rituell
inszeniert, um sich für den „anderen Zustand“ zu öffnen
und einen Rahmen für ihn zu schaffen. Für Assmann ist der Mensch zweidimensional.
Einmal lebt er in der Zeit der Alltagswelt und einmal in der Zeit der Erinnerung
oder des kollektiven Gedächtnisses. Die Besinnung auf größere
Sinnzusammenhänge und auf Identität geschieht eben im Fest, in der
Zeit des kollektiven Gedächtnisses, die den Menschen in kosmische Zusammenhänge
stellt.

Statt der Knappheit eignet dem Fest die Fülle – eine sich verausgabende
Fülle, die nicht nach ökonomischen Gesichtspunkten rechnet.
Die Routine wird im Fest völlig durchbrochen mit dem, was Assmann die „Efferveszenz“
nennt, die Aufwallung der Gefühle. Zum Fest kann das Rauschhafte, Ekstatische,
ja Rasende gehören – in jedem Fall aber gehört eine festliche Hochstimmung
hierher. Im Fest erlebt der Mensch sich als dem „Anderen“ zugehörig,
das im Alltag nicht aufgeht.

Der italienische Ethologe Vittorio Lanternari schließlich fasst aus seinen
Erlebnissen afrikanischer Feste folgende konstitutive Elemente des Festes zusammen:

1. die ’socilità‘ (Geselligkeit),
2. die ‚partecipazione‘ (Teilnahme),
3. die ‚ritualità‘ (Ritualität),
4. ‚annullamento temporaneo e simbolico dell’ordine‘ (vorübergehende symbolische
Aufhebung der Ordnung).

Wir entdecken hier einige Punkte wieder, die sich auch in den beiden vorhergehenden
Modellen finden. Lanternari betont noch den Aspekt, das im Fest jene Ordnung
des Alltags vollständig auf den Kopf gestellt werden kann.

Das Wesen des Festes II – Der Eidos des Festes

Eidos bedeutet im Altgriechischen „Angesicht“ und diente Platon als
sprachliches Material für die Entwicklung seines Idee-Begriffes. Versuchen
wir jetzt eine Zusammenfassung all dieser Punkte, die prägnant den Eidos,
sozusagen das Angesicht der Idee des Festes bestimmen sollen:

1. Das Zu-Feiernde

Jedes
Fest wird erst zum Fest, wenn es einen Mittelpunkt besitzt – das Zu-Feiernde.
Das mag banal klingen, aber es ist genau jenes Element, das gerade in der Beziehungslosigkeit
der modernen Partys verschwindet oder nur noch als Schemen existiert. Dieses
Zu-Feiernde wird gleichsam evokativ von allen Teilnehmenden beschworen. Wenn
die Teilnehmer zu einen Fest gehen, wissen sie, das sie sich in die Sphäre,
in die Ausstrahlung, das Kraftfeld des Zu-Feiernden begeben.

In der Antike hängt
das Zu-Feiernde immer mit dem Heiligen und den Göttern zusammen. Selbst
wenn beispielsweise griechische Städte einen historischen Gedenktag begehen,
feiern sie das jeweilige Ereignis in Analogie zu einem mythischen Geschehen.
In Syrakus feiern sie den Sturz eines Tyrannen als Fest des befreienden Zeus
Eleutherios und in Athen den historischen Sieg von Plataiai im Zusammenhang
mit dem Sieg der Göttin Athena über Poseidon.

2. Gemeinsamkeit

Lanternaris „Geselligkeit“ lässt sich aufgrund des Mittelpunktes
deutlicher als Gemeinsamkeit fassen. Die Feiernden sind wegen dem Zu-Feiernden
zur Stelle. Sie partizipieren an ihm.

Aber zum Fest gehört auch eine besondere Verbundenheit der Teilnehmer.
Man ist eben wegen derselbe Sache hier. Es ergibt sich eine naturgemäße
Gemeinsamkeit mit dem feiernden Nachbarn, die im Alltag sonst gar nicht vorhanden
sein mag. Zudem werden die sozialen Schranken durchlässig. Das soziale
Ordnungsgefüge kann vollständig auf den Kopf gestellt werden wie bei
den Saturnalien in Rom. Zu Ehren des Gottes Saturn wurden die Zustände
seines Goldenen Zeitalters wieder hergestellt, in dem alle Menschen eine gleichrangige
soziale Stellung hatten.

Um das zu verdeutlichen speisen die Sklaven mit ihren
Herren an derselben Tafel und unterhalten sich vertraulich mit ihnen. Teilweise
bedienen die Herren sogar ihre Sklaven. In der ältesten Zeit des Festes
finden wir die Wahl eines Sklavenkönigs, der die unsinnigsten Befehle geben
konnte. Am Ende der Festzeit wurde er allerdings ordnungsgemäß hingerichtet.

Ein schönes Sinnbild für diesen Aspekt des Festes stellt die mittelalterliche
Tafelrunde des Königs Artus dar. Spätestens seit Wolfram von Eschenbachs
Parzival-Epos wissen wir ja, das, wo immer Artus weilt, eine festliche Frühlingszeit
Einzug hält. Der runde Artustisch ist Ausdruck des gleichen Ranges aller
Mitglieder der Tafelrunde. Artus wählte genau aus diesem Grund die Form
für die Versammlung seiner Ritter. Kein Platz an diesem Tisch ist bevorzugt,
wie es im Gegensatz dazu an den Festen der mittelalterlichen Kaiser sehr wohl
der Fall war.

Insofern mag der Satz im Liber Legis von dem Fest, das der Thelemit jeden Tag
in seinem Herzen feiert eine gewisse soziale Sprengkraft besitzen. Vielleicht
verweist es auf eine Sozialutopie, in der der im Nuit-Kapitel genannte „Führer
von allen“ im Kreis der rangmäßig gleichgestellten „Könige
der Erde“ sitzt: Die Tafelrunde der Thelemiten.

3. Hingabe

Die Teilnehmer des Festes geben sich an das Zu-Feiernde hin. Sie verschenken
sich an das Fest – jeder nach seiner Weise. Das kann im trauten Spiel der Zweisamkeit
genauso geschehen wie in der Teilhabe an der Festgemeinde. Hier geht es darum,
das Zu-Feiernde immer zu aktualisieren – jedoch nicht als eine Pflicht, sondern
als fließende passive oder aktive Hingabe an den Mittelpunkt des Festes. Rechnende
Überlegungen haben dabei nichts zu suchen.

Wie blutig ernst diese Hingabe gemeint sein kann, davon gibt des altgriechische
Dionysos-Fest auf Orchemenos das beste Zeugnis. Nach dem Mythos wurde Dionysos
von dem König Lykurgos verfolgt und auch geschlagen. Seine weiblichen Begleiterinnen,
die Bacchantinnen, lässt der König zum Meer hin verfolgen. Plutarch
berichtet, das nun auf Orchemenos dieser Mythos im Fest lebendig nachgespielt
wurde. Dabei erschlug der Dionysos-Priester in der Rolle des Lykurgos unbarmherzig
jede bacchantische Priesterin, die ihm nicht entkommen konnte, mit dem Schwert.
Die Hingabe an das Fest bedeutete hier die Opferung des eigenen Lebens.

4. Eigenzeit

Der glücklich gewählte Begriff der Eigenzeit stammt von dem deutschen
Philosophen Hans-Georg Gadamer, der in seinem Essay „Die Aktualität
des Schönen“ prägte. Das Fest – wir hörten es schon – hat
eine eigene Qualität der Zeit. Es bleibt in sich geschlossen wie eine Kugel.
Die Zeit verläuft hier anders. Und Zeit bleibt letztlich eine Größe,
die vom Erlebnis des Menschen abhängt. Im Fest kann der Mensch sich in
eine Zeit ohne Uhren begeben. Das protestantische Verdikt von „Zeit ist
Geld“ entfällt hier völlig. Die Zeit wird in ihrer ganzen Fülle
verschwendet.

Ein entscheidender Aspekt dabei ist, das die Zeit in ihrem gradlinigen
Verlauf aufgehalten wird. Die Zeit als gerade Linie führt schnurstracks
zum Tod. Im Fest wird diese lineare Verfallszeit aufgehalten. Gleichwohl bleibt
der Tod im Fest anwesend. Wir dürfen nicht vergessen, daß das Fest unter
der Ägide der Götter steht, die doch immer ganze Realitäten zur
Erscheinung bringen. Dazu gehört der Tod. Der Tod erscheint nicht als Ende
des Lebens, sondern als plötzliche blitzartige Erscheinung. Auch er wird
in der Zeitkugel zusammengedrängt – schnell, aber nicht schleichend.

Die Zeit des Festes aktualisiert den Menschen in seiner Zugehörigkeit
zum Kosmos und zu einer ihn übergreifenden Art von Identität. Im schönen
Augenblick des Festes enthüllt sich somit das Versprechen einer ewigen
Dauer. Wir erinnern uns – Goethe war es, der sich Zeit seines Lebens genau danach
gesehnt hat.
Insbesondere aber gelten in dieser Eigenzeit andere Gesetze, die sich nicht
nach rationalen Zielen richten, sondern in ihrer eigenen für sich selbst
seienden Bewegung ihre Berechtigung finden. Die Zeit des Festes ermöglicht
das Einmalige und Besondere: Die Götterbarken reisen nur in der Zeit des
Opetfestes übers Land.

5. Epiphanie / Höheres Niveau / Legitimation

Mit diesem Punkt gelangen wir in das Herzstück des Festes. Die Epiphanie
ist die unvermutete Erscheinung des Gottes selbst. Im Fest erscheint der Gott.
Er ist selbst anwesend. Ohne die Erscheinung des Gottes gibt es kein Fest. Im
Fest kann die Geburt des Halbgottes erfolgen. Der Halbgott ist der Mensch, der
heilige Worte von dem Gott erhält, die er den Menschen schenkt – er lebt
im Zwischen der Götter und Menschen. Das ist schlicht der Dichter im wahrsten
Sinne des Wortes oder der Prophet oder der große Denker. Der Halbgott
ist ein Heiliger. Es sind diejenigen, die nach einem Wort Hölderlins „barhäuptig
unter den Gewittern Gottes stehen.“

Martin
Heidegger schreibt in seiner Vorlesung über Hölderlins Gedicht „Andenken“:
„Das Fest aber ist für Hölderlin wesenhaft das Brautfest, das
Menschen und Götter feiern. Brautfest, das fast zögernde dichtende
Wort für Fest. Das Wort ist in diesem Bezug schon verklärt, und als
verklärtes selbst noch verklärend. Das Fest ist das Ereignis des Entgegenkommens
der Götter und Menschen.

Das Festliche des Festes ist der Grund dieses
Ereignisses, das weder von Göttern verursacht noch von Menschen gemacht
werden kann. Das Festliche ist Jenes, was anfänglich sich ereignet und
alles Einander-Entgegenkommende in seiner Entgegnung trägt und duchstimmt.
Das Festliche ist das anfänglich Stimmende. Dieses Stimmende durchstimmt
und bestimmt alles als eine lautlose Stimme.

Das ist die Stimme eines anfänglichen Grüßens, durch das Menschen
und Götter zuvor erst selbst zu Gegrüßten werden. Erst als die
vom Festlichen Gegrüßten und nur als diese vermögen sie, die
Götter und die Menschen, die Einen die Anderen und die Anderen die Einen,
sich auch wechselweise zu grüßen. Das Festliche des Festes, das,
was je das Fest sich ereignen läßt, ist das anfängliche Grüßen
des Grüßenden, das Hölderlin in der ersten seiner Hymnen ‚Wie
wenn am Feiertage…‘ ‚das Heilige‘ nennt. Das Fest als Brautfest ist das
Ereignis des anfänglichen Grüßens.“

Im Fest geschieht also eine Vermählung der Götter und der Menschen.
In einem ganz wörtlichen Sinne geschieht das, wenn im Neuen Reich des alten
Ägyptens die Königin ein Kind vom Sonnengott Amun empfängt. Das
Grüßen ist diejenige soziale Handlung, die den Gegrüßten
ganz in seiner Eigenart stehen lässt, ihn nicht in die Enge der eigenen
Projektionen und Meinungen zwingt, sondern ihn ganz als er selbst erscheinen
lässt.

Ebenso erscheint das Bejubeln der Götterbarken als ein Grüßen
des Menschen an die Götter. Und der Gott grüßt zurück.
Genau an diesem Punkt setzt für den modernen Menschen das Unverstehen ein.
Wer soll da grüßen? Werden da nicht nur steinerne Statuen durch die
Gegend getragen?

Die Realität der Epiphanie ging im Laufe der Geschichte verloren. Das
christliche Warten auf den Gott einer eschatologischen Endzeit, die Verbannung
des Gottes aus der Welt führten letztlich zu einer Ausdünnung seiner
Wirklichkeit, die eben des Leibhaften bedarf, der Begegnung bedarf, um den Mensch
und Gott in einen Bezug zueinander zu setzen. Am Anfang einer jeden Kultur steht
die Begegnung des Menschen mit den Göttern. Der Gott erschien in der Welt
als eine umfassende besondere Realität, die den Menschen erschütterte:
auf die Epiphanie des Gottes antwortetet der Mensch mit einem System von Riten
und Lebensformen, kurz: mit Kultur.

Nicht die strengen Gesetzgeber waren dem antiken Menschen die Götter,
sondern sie berührten ihn wie es für uns Heutige zuweilen das Kunstwerk
in einem schwachen Abglanz noch vermag. Eine zwecklose für sich stehende
und bis ins Innerste berührende Schönheit eines Bildes, eines Musikstückes
oder eines Gedichtes kann dem modernen Menschen noch eine Ahnung davon vermitteln
wie die Götter einst in der Vorzeit erschienen.

Die Götter können
deswegen so viele unterschiedliche, ja manchmal widersprechende Attribute annehmen,
weil ihnen die Mehrdeutigkeit des Kunstwerkes eignet, das immer eine letzte
unauslotbare Tiefe enthält. Auch in ergreifenden Phänomenen der Natur,
in ganz besonderen Augenblicken der Gestimmtheit taucht noch die Ahnung vom
Wunder des Schauens der Götter auf

Die poetische Rede vom Brautfest enthält schon den Hinweis, das auch im
Menschen selbst das Göttliche erscheinen kann. Bei allen indogermansichen
Völkern stoßen wir auf den Maskenumzug, in dem die Träger der
Masken ursprünglich selbst die vergöttlichten heroischen Ahnen darstellten
und damit an der Kraft des Heiligen selbst Anteil hatten.

Das Totenheer, das
beispielsweise der germanische Gott Odin in seiner Halle versammelt, erscheint
hier im Menschen selbst mitten auf Erden. Der flamen dialis, der römische
Priester des taghellen Jupiter, verkörperte sein ganzes Leben lang den
Gott selbst. Die strenge Reglemenierung seines Lebens bedeutete ein Fernhalten
von allem, was dem Alltag angehört. Als verkörperter Gott lebte er
ganz in der Welt des Festes. Und wo immer er hinging und woran er teilnahm –
da geschah das Fest.

Zum Fest gehört neben dieser direkten Übersteigung des Menschseins
auch die Erschaffung von etwas Neuem oder das Hinaufheben des Zu-Feiernden auf
ein höheres Niveau. Es ist gar nicht so befremdlich – wie es vielleicht
auf den ersten Blick erscheint – wenn die Griechen ihre politischen Umstürze
genau an den Festen durchführten.

Nicht nur rationale Erwägungen spielten
dabei eine Rolle, wie z.B. das die Bürger hier häufig ihre Waffen trugen
und zahlreich erschienen waren. In der besonderen festlichen Stimmung, die oft
das schöpferische Urchaos aktualisiert, gelingt die Erschaffung des ganz
Neuen meist auf eine spielerisch leichte Weise. Es muß nicht hart erkämpft
werden, sondern wird vom Heiligen selbst verschenkt.

Hierher gehört somit auch die legitimatorische Funktion. Die Anwesenheit
des Heiligen im Fest wirkt auf die Geschehnisse, die in ihm stattfinden. Sie
gibt ihnen einen besonderen Glanz. Auch die Festfreude schafft eine gelöste
Haltung zu den Dingen, die sich positiv auf eine harmonische Regierungstätigkeit,
auf Diplomatie und Koordination, auswirkt.

6. Inszenierung und Fülle

Die Inszenierung schafft den Rahmen oder den Initialfunken für das Fest
und die verschwenderische Fülle gewährleistet seine materielle Abhebung
von der Zeit des Alltags. Zu diesen beiden Stützpfeilern des Festes ist
in Bezug auf das Opetfest und die Auffassung Jan Assmanns schon alles nötige
gesagt worden.

7. Festliche Hochstimmung

Zum Fest gehören Ekstase, Rausch, Wachtraum und eine feierliche Würde.
Die festliche Hochstimmung kann ganz verschiedenen Färbungen annehmen,
die vom Charakter des Zu-Feiernden abhängen. Unsere Annahme, die das Fest
mit Ausgelassenheit in Zusammenhang bringt, wurzelt in den chaotischen Zuständen
des römischen Saturnalienfestes und dem närrischen Treiben der Karnevalszüge.

Während der Alltag eine kritische Aufmerksamkeit erfordert, ist die Wachheit
des Festes von anderer Art. Sie lässt uns die Zeit leidenschaftlich erleben,
in einer Hochstimmung, die uns einen größeren Zusammenhang stellt.
In einem gelungenen Fest erleben wir die Zeit ganz als unsere eigene in einem
besonderen rauschhaften Zustand, der an das Erlebnis eines Klartraumes erinnert.
Die Dinge erscheinen nicht so fest wie sonst – die Welt offenbart ihren schwankenden
Charakter.
Das Fest ist eine Zeit der Besinnung. Reflektion und Traum verbinden sich miteinander.

Da wir hier die Zeit leidenschaftlich ganz als unsere eigene erleben können,
ist das Fest ein Ort der Freiheit.

8. Der Festfluch

Noch
im Barock ließ August der Starke im Jahre 1719 ein Fest für die Hochzeit
seines Sohnes ausrichten, das an die alten antiken Feste gemahnt. Im Dresdner
Zwinger erlebte die geladene Hofgesellschaft ein Spektakel aus Theater, Oper,
üppigen Mahlzeiten und Kunstvorführungen. Jeder Tag war dabei einer
römischen Gottheit gewidmet. Freilich handelte es sich hier schon um barocke
Allegorien, die dem Fest nur noch ein äußerlichen Glanz verleihen konnten.

Wie lässt sich erst recht heute noch ein Fest feiern, wo der große
religiöse Konsens der Gesellschaft nicht mehr gegeben ist? In einer Zeit,
in der die säkularisierten protestantisch-puritanischen Werte fest verinnerlicht
sind, als da wären asketische Selbstbeherrschung, Arbeitsheiligung und
Zeitökonomie?

In der Fest nur noch als kurzer Urlaub von der Arbeit, als
sinnentleerte Party erlebt werden kann? Wo Vergnügen und Abschalten an
die Stelle von Rausch, Traum und Besinnung getreten sind? In einer Zeit, die
sich nicht bis ins Tiefste erschüttern lassen will, sondern die kritische
Distanz bevorzugt? Sind wir nicht alle unfähig zu feiern?

Heute aber gehört das „Fest“ dem Feierabend, welches Wort treffend
gewählt ist, weil es das Verdämmern jedes Festes in das tröge
Vergnügen bedeutet. Der Glanz verblasst bis zu den leeren Hülsen der
Partys, in der der neuzeitliche Mensch letztlich sich selbst, seine Leistungen
und sein Vergnügen feiert. Diese Selbstbezüglichkeit duldet keine
Ekstase, die in der Antike eines der wichtigsten Kennzeichen des Festes darstellte
– Ek-stase als das Außer-sich-sein, als der der Entwurf-von-sich-weg in
das Ganz Andere.

Der Mensch sollte mehr werden, er sollte den Gott gebären – auf die eine
oder auf die andere Art und Weise. Der heutige Mensch – von der herrschenden
Auffassung längst zum animal rationale geschrumpft – , nutzt die Party
nur noch, um auch das rationale wegzustreichen und ganz animal sein zu können:
„Hier bin ich Schwein, hier darf ich`s sein.“ Die Partys fungieren
als die belanglose, die Ödnis des Arbeitskäfigs übertönende
Begleitmusik des schnell-lebigen animal rationale auf seinem Weg zum „technisierten
Tier“ (Heidegger).

Das Liber (A)L ruft den Menschen auf, jeden Tag ein Fest in seinem Herzen zu
feiern. Damit verkündet das (A)L das Ende der „Arbeitskultur“,
das Ende des „Feierabends“ und damit den Beginn eines neuen Festtages,
das Fest des Hohen Mittags.

Die Geschichte des Neuen Äons wird nicht mehr durch die historische Abfolge
kausal oder zufällig verlaufender Daten und Begebenheiten bestimmt werden.
An ihre Stelle werden die großen Ereignisse treten: – unwiederholbare
Augenblicke der Schönheit und Wahrheit, von deren punktueller Einzigartigkeit
aus alle früheren und weiteren Geschehnisse im Leben ihre Interpretation
und Bedeutung erhalten. In der Vergangenheit war es oft genug der Krieg, der
den Menschen über sich selbst hinaushob und ihn große Taten vollbringen
liess. Deswegen ist die Historie zurecht eine Historie der Schlachten und Kriege.

Das Neue Äon aber wird eine Geschichte der Feste werden, an denen der
Mensch Neues schafft und das bisher Geschaffene übertrifft. Das Fest hebt
an und schwillt wieder ab – klingt aber im Herzen des Menschen weiter nach.
Es verschwindet damit nie ganz, sondern schwingt unaufhörlich in der Lebensstimmung
auf und ab. Gewöhnlichkeit und Alltag aber werden unbekannte Begriffe sein.

Jörg Scholz