PAK – die Kunst Angst und Aggression zu kultivieren

Wenn man sich fragt, wozu man sich mit Kampfkunst beschäftigen sollte, sind viele unterschiedliche Antworten möglich. Man will seine allgemeine Fitness steigern, sich im Ernstfall verteidigen können, sich mit anderen im Wettkampf messen oder sein Selbstbewußtsein steigern. Über die offensichtlichen (äußeren) Wirkungen des Trainings wird viel gesagt, aber kaum jemand beschäftigt sich mit den psychischen Veränderungen einer Persönlichkeit. Da dieser Aspekt meist sehr stiefmütterlich behandelt wird, will ich ihn in diesem Artikel einen besonderen Platz einräumen. Aufzeigen, welche Möglichkeiten der Persönlichkeitsbildung sich über das Erlernen einer Kampfkunst bieten – speziell die Kultivierung unserer Gefühle.

Sehen wir uns als Erstes die Grundgefühle an, mit denen wir in einer realistischen Selbstverteidigungsituation konfrontiert werden. Die Reaktionen auf eine Gefahrensituation sind bei uns Menschen durch die Evolution vorgeprägt und laufen automatisch ab, ohne daß wir sie kontrollieren können. Im Normalfall entscheiden wir unbewußt darüber, wie wir reagieren – je nachdem ob wir Angst haben (Flucht) oder Aggressiv sind (Kampf). Diese beiden Grundgefühle treten jedoch nicht nur in realen Gefahrensituationen auf, sondern in abgemilderter Intensität auch im alltäglichen Leben.

Angst kann man vor allen möglichen Situationen haben – Lampenfieber vor einem Vortrag – nachts allein nach Hause zu gehen – sich vor den Kollegen zu blamieren – eine Frau anzusprechen – eine gegenteilige Meinung zu äußern. Ähnliches gilt für die Aggression oder Wut – Statuskämpfe am Arbeitsplatz – Rechthaberei – Streitigkeiten mit dem Nachbarn – Ärger im Berufsverkehr – können in uns Aggressionen hervorrufen. Die körperliche Auseinandersetzung ist nur der letzte Schritt, die eigene Wut zu veräußerlichen. All diese Situationen haben nichts mit einem Zweikampf zu tun und rufen in uns dennoch solche Gefühle hervor.

Was ist das Besondere an Angst und Aggression? Beides sind Grundgefühle, die in der Gesellschaft nicht gerne gesehen werden. Wer will schon vor Anderen seine Schwäche zeigen – öffentlich kundtun, daß er eine Situation nicht im Griff hat – ein Versager ist? Seine Aggressionen auszuleben ist ebenso brisant – je unkontrollierter man dieses Gefühl anderen gegenüber veräußert, desto mehr schaukeln sich Konflikte hoch und am Ende verliert man seine sozialen Kontakte. Kulminiert das Ganze gar in körperlicher Gewalt – so sind die schwedischen Gardinen nicht weit – man wird aus der normalen Gesellschaft entfernt.

Unsere normale Reaktion gegenüber diesen Gefühlen ist die Verdrängung. Wir versuchen diesen Gefühlen aus dem Weg zu gehen – Situationen zu vermeiden, in denen sie auftauchen – oder wir schämen uns, wenn wir sie in einem unbedachten Moment gezeigt haben. Wir entwickeln ein „Sicherheitsbedürfnis“ und planen unser Leben so, daß uns nichts Unvorhergesehenes oder Bedrohliches aus der Bahn werfen kann. Wir bauen feste Routinen in unseren Alltag ein und versuchen das Element des Chaos oder des Zufalls zu eliminieren.

Doch leider ist unserem Leben unser Bedürfnis nach Frieden und Sicherheit egal. Unserer eigenen Angst und Wut können wir nicht entkommen, denn diese gehören zu unserem tierischen Erbe und werden uns überallhin begleiten, wohin wir gehen.

Diese Gefühle zu verändern oder zu beherrschen gelingt uns nicht durch Zufall, sondern wir müssen uns mit ihnen auseinandersetzen, wenn wir sie kultivieren wollen. Es bringt nichts darüber Bücher zu lesen, sie nach psychologischen Vorgaben zu analysieren, Vorträgen darüber beizuwohnen oder mit Freunden darüber zu reden.

Ein Gefühl ändert man einzig dadurch, daß man es erlebt und im Erleben der Intensität neue Verhaltensmöglichkeiten einübt. Erst wenn wir uns diesen Gefühlen stellen, haben wir die Möglichkeit zu lernen mit der Intensität umzugehen – wer Schwimmen lernen will, muß ins Wasser gehen.

Da sie zu unserem eigensten Wesen gehören, lassen sie sich dauerhaft weder verdrängen, noch können wir davor fliehen. Im Gegenteil – je mehr wir sie verdrängen oder zu vermeiden versuchen, desto obskurere Formen nehmen die Gefühle an – irgendwann fürchten wir uns nicht mehr nur vor einer realen Gefahr, sondern haben Angst vor unserer Angst.

Wer Mut genug hat, sich die Wirkung dieser Verdrängung zu vergegenwärtigen, kommt irgendwann zu der Frage, ob er der Passagier oder der Pilot seiner eigenen Gefühle sein will. Um Pilot zu werden, müssen wir uns diesen Gefühlen stellen. Wir müssen über uns selbst hinauswachsen, um unserer Ohnmächtigkeit ins Auge zu blicken und Mittel und Wege finden, diese Gefühle zu lenken. Hierfür brauchen wir ein Medium – die Kampfkunst. Sie ermöglicht es diese Gefühle kontrolliert zu erzeugen und Verhaltensweisen einzutrainieren, die über unsere geprägten Muster hinausgehen.

Doch unter dem Begriff Kampfkunst wird heutzutage alles mögliche gefaßt – selbst Systeme in denen der reale Zweikampf keine Rolle mehr spielt. Was eine Kampfkunst leisten muß, um uns bei diesem Problem zu helfen, will ich anhand eines Stress-Diagramms veranschaulichen.

Jeder Mensch kann ein bestimmtes Stresslevel oder Intensität verarbeiten. Solange wir uns im „grünen Bereich“ bewegen, sehen wir uns Situationen gegenüber, in denen wir handlungsfähig sind. Wie groß der Bereich ist in dem wir mit Intensität und Stress umgehen können, ist bei jedem Menschen verschieden. Je mehr wir gelernt haben mit unseren Gefühle umzugehen, desto größer kann dieser „grüne Bereich“ werden.

Der gelbe Bereich symbolisiert einen Intensitäts- oder Streßlevel, in dem wir nur mehr bedingt handlungsfähig sind. Ob, wann und wie wir mit diesem Bereich umgehen können oder nicht, mag von vielen unterschiedlichen Faktoren abhängen. Es kann eine Frage der „Tagesform sein“ oder schlicht, wie viele problematische Situationen zusammenkommen. Eine kleine Beziehungskrise mögen wir noch verkraften – was aber, wenn dazu noch ein Unfall kommt, oder der Chef die Kündigung auf dem Tisch legt? Dieser Bereich führt uns in die Zone der „Grenzerfahrungen“ und stellt unseren persönlichen Intensitätslevel dar, bei dem wir – mit etwas Glück – die auf uns zukommenden Probleme vielleicht gerade noch bewältigen können.

Der rote Bereich symbolisiert einen Intensitätsgrad, der über unsere aktuellen Fähigkeiten – Probleme zu bewältigen – hinausgeht. Der Stress oder die Intensität übersteigen das Maß dessen, was wir noch bewältigen können. Wir kommen in Panik, Verzweifeln, Fliehen, drehen durch usw., d.h. wir sind nicht mehr fähig vernünftig zu handeln – oder im Extremfall – sogar völlig handlungsunfähig. Der äußerste Punkt dieser Skala könnte die Todesangst sein, also eine Situation in der unsere gesamte Existenz auf dem Spiel steht.

Gewöhlich verhalten sich Menschen so, daß sie versuchen im „grünen Bereich“ zu bleiben. Hier haben Sie funktionierende Verhaltensgewohnheiten entwickelt, innerhalb derer Probleme erfolgreich bewältigt werden können. Ein „Sicherheitsfanatiker“ wird versuchen, sein gesamtes Leben so einzurichten, daß Grenzerfahrungen vermieden werden und alles was Unsicherheit oder gar Panik verursachen könnte, mit allen Mitteln zu vermeiden. Sobald eine Unsicherheit auftritt, wird man versuchen zu „fliehen“, sich zu stabilisieren oder zu verdrängen. Ob das eigene Erleben bewältigt werden kann, ist von äußeren Faktoren abhängig, denn der Sicherheitsfanatiker hat nie gelernt mit Grenzsituationen umzugehen.

Die Fähigkeit Stress verarbeiten zu können, ist nicht nur in Kampfsituationen gefragt, sondern ist in allen Lebenslagen präsent. Je mehr Verantwortung wir beispielsweise in der Gesellschaft oder Beruf übernehmen wollen, desto mehr steigen die Unwägbarkeiten, denen wir uns gegenüber sehen und damit der mögliche Streßlevel. Bei einem einfachen Arbeiter mag der Verantwortungsbereich noch überschaubar sein, aber spätestens wenn wir eine Führungsposition einnehmen wollen, können uns die Anforderungen schnell überwältigen. Ein Geschäftsführer ist letztlich für das Ganze verantwortlich – er hat niemanden mehr, auf den er seine Verantwortung abwälzen kann – entweder ist er dem Stress gewachsen (und handlungsfähig) oder seine Firma geht in den Konkurs.

Damit haben wir einen großen Bogen geschlagen um zu zeigen, daß die Fähigkeiten die man in einer Kampfkunst lernt, auf unser ganzes Leben übertragbar ist. Doch wie kann uns das Training einer Kampfkunst dabei helfen unsere Streßverarbeitungsfähigkeit zu steigern?

In Kampfkünsten, in denen ein realer Zweikampf eingeübt wird, enthält die Momente der Intensität und der Stressverarbeitung. Ein gut gesteuerter Zweikampf (Sparring) bewegt sich für die Teilnehmer im gelben Bereich. Ein guter Trainer wird darauf achten, daß seine Schüler diese „Gradwanderung der Intensität“ meistern lernen. Der leichte Overflow ist nötig, damit der Schüler lernt mit höheren Intensitäten umzugehen – seine Grenzen zu erweitern. Normalerweise werden die verschiedenen Intensitätslevel in der Kampfkunst in Grade unterteilt. Man fängt als Anfänger auf einem relativ niedrigen Niveau an und steigert allmählich die Intensität bis zum realen Zweikampf (gelben oder roten Bereich).

Damit kann der Lehrer die Anforderungen auf den jeweiligen Schüler abstimmen und so dafür sorgen, daß er Erfolgserlebnis hat, daß langsam aber sicher sein Selbstbewußtsein steigert. Dies kann aber nur eine Kampfkunst leisten, die mit einer Steigerung des Stress- bzw. Intensitätslevels arbeitet.

Ich erwähne dies, da mittlerweile unter dem Etikett „Kampfkunst“ oder „Kampfsport“ auch Systeme bezeichnet werden, die keinen realen Zweikampf mehr trainieren. Der Kampfaspekt rückt immer mehr in den Hintergrund und Aspekte der Fitneß, Kondition oder Beweglichkeit stehen im Vordergrund. Damit wird man sein Stresspotential nicht steigern – denn nur wer Angst hat, kann auch lernen Sie zu beherrschen. Wird die nötige Intensität nicht erreicht, kann man sich zwar einreden, einer Auseinandersetzung gewachsen zu sein, aber sicher wissen es nur diejenigen, die solche Intensitäten auch erlebt und bewältigt haben.

Als ehemaliger Türsteher gab es für mich eine goldene Faustregel – eine reale Auseinandersetzung ist zu 70% Kopfsache und zu 30% Technik. Ich habe schon die besten Techniker in relativ harmlosen Situationen in Panik ausbrechen sehen, weil sie ihre Gefühle nicht unter Kontrolle hatten. Die beste Technik versagt, wenn einem das Herz in die Hose rutscht und man Angst bekommt. Nur wenn man Technik auch unter Stress anzuwenden weiß, kann man davon ausgehen, daß man „gefährlichen“ Situationen auch gewachsen ist. Und wer in einem Bereich gelernt hat, seine eine höhere Intensität von Gefühlen zu meistern, kann diese Fähigkeit leicht auch auf andere Bereiche im Leben übertragen.

Desgleichen gilt für die Kultivierung der eigenen Aggressionen. Einige Schlägertypen brauchen den Kampf, um ihr Selbstbewußtsein zu stärken. Sie wollen in ihrem sozialen Umfeld anerkannt werden – brauchen die Bestätigung Anderer etwas wert zu sein – von der Gruppe Reputation zu erhalten. Wer sich jedoch den eigenen Wert über Andere bestätigen lassen muß, hat kein eigenes Selbstbewußtsein. Ein anderer Fall ist, wenn jemand zuwenig Verhaltensalternativen in Konfliktsituationen erlernt hat. Sobald er selbst – oder sein Weltbild – in Frage gestellt wird, reagiert er mit aggressiven Gefühlen. Da er sich argumentativ nicht ausdrücken oder mithalten kann, versucht er praktisch seine Überlebensfähigkeit zu zeigen – er wehrt sich.

Auch in diesen Fällen kann eine Kampfkunst helfen, die Aggression zu kanalisieren. Man merkt schnell, daß man mit rein automatischen Reaktionen nicht weiter kommt. Wildes Herumprügeln kann auf der Straße noch funktionieren, aber im Sparring wird es sinnlos – man steckt plötzlich mehr ein als man austeilt und wird selbst zum Opfer. Wenn man weiterhin Erfolg haben will, muß man lernen willkürliche Reaktionen zu kontrollieren – sie so zu dosieren, wie es der momentanen Situation angemessen ist – der erste Schritt seine Aggression selbst dosieren zu lernen – dieses Gefühl angemessen auszuleben.

Je mehr man lernt sich selbst zu kontrollieren, desto erfolgreicher und gezielter wird man erlernte Techniken anwenden. Da man sich hier im Wettkampf immer im Vergleich zu Anderen erlebt, lernt man auch seine eigenen Fähigkeiten einzuschätzen. Dies geht einher mit einer Steigerung des eigenen Selbstbewußtseins – man weiß was man kann und muß sich nicht selbst immer wieder beweisen. Somit kann man das scheinbare Paradox erklären, wie man durch das Studium der Gewaltanwendung letztlich friedlicher wird.

Dieses Phänomen ist auch geschichtlich bekannt – in China tobte zur Zeit des Gelben Kaisers ein blutiger Bürgerkrieg. Dorf kämpfte gegen Dorf und die Gewalt schien sich nicht eindämmen zu lassen. So erließ der Kaiser einen Gesetz, daß besagte, das in jedem Dorf eine Boxerschule einzurichten sei. Die Menschen sollten dort die Kunst des Kampfes erlernen und die Dörfer selbst sich in fairen Zweikämpfen untereinander messen. Das letztliche Ergebnis war eine Befriedung des Landes und die Geburt der chinesischen Kampfkunst.

Sicher ist das erlernen einer Kampfkunst keine Garantie dafür, all diese Fähigkeiten zu lernen. Aber die Kampfkunst kann eine Chance sein, sich dieser Prinzipien klar zu werden. Sie kann uns helfen unsere Gefühle zu kultivieren und damit ein vollständigerer Mensch zu werden. Sie ist eine Chance – weiter nichts – ob wir sie wahrnehmen und verstehen, entscheiden letztlich wir selbst.

PAK (PsychoAktive Kampfkunst)

Tony Sperber