Bewegung und Wahrnehmung beim Lernen

Es ist eine bewiesene Tatsache, dass der Mensch mehr wahrnehmen kann, wenn er sich frei bewegen kann. Dazu konträr ist das konzentrierte Verhalten beim Lesen eines Buches. Dabei reduziert der Mensch seine Bewegung, um sich besser konzentrieren zu können. Erfahren Sie in diesem Artikel mehr über den Zusammenhang zwischen Bewegung und Lernen.

Der gesamte Bewegungsapparat des Menschen hat einen entscheidenden Einfluss auf seine Wahrnehmung. Es besteht ein untrennbarer Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Bewegung (2, p156 ff). Beide begünstigen sich gegenseitig.

Versuchsreihen von ENNENBACH oder auch Richard HELD in den Jahren 1987 bis 1989 haben ergeben, dass Menschen eine neue Umgebung bei uneingeschränkter Bewegungsmöglichkeit schneller und besser wahrnehmen, als Menschen mit eingeschränkter.

Frank E. RITTER sagte 1987: “Damit Lernvorgänge in Gang kommen, die eine umgebungsrichtige Wahrnehmung entstehen lassen, muss eine motorische Auseinandersetzung mit der Umwelt stattfinden.“ Es geht so weit, dass unsere Wahrnehmung sich an die wahren Gegebenheiten anpasst.

Ivo KOHLER, Uni Innsbruck, hat in den Jahren 1928 bis 1970 Menschen Prismen-Brillen tragen lassen, die oben und unten und links und rechts vertauschten. Die Versuchspersonen passten sich jeweils an die neue Wahrnehmung an.

Prof. Heinz von FOERSTER hat 1985 festgehalten, dass sich die nach Absetzen der Prismen-Brille auf dem Kopf stehende Welt wieder aufrichtet. Das geschieht zuerst in der Umgebung einer Armeslänge, einiger Schritte und nach zwei bis drei Monaten im gesamten Sehfeld. Zahlreiche andere Versuche kommen zum gleichen Ergebnis (VARELA 1988, BACH Y RITA 1962 und 1993).

Die Bewegungen organisieren die menschliche Wahrnehmung. Die Wahrnehmung wird solange organisiert und an bekannte Muster angepasst, bis sie der wahrhaftigen und tatsächlichen Umgebung entspricht.

Alle Organe (Bewegungsorgane und Sinne) müssen übereinstimmend die wahren Fakten in unserem Gehirn darstellen. Dabei passen sich die Sinne aktuell an die Bewegungsorgane an, der Mensch ist so „physisch und organisch adaptiv lernfähig“.

Bewegung und geistige Arbeit

Neben der Wahrnehmung einer neuen Lebensumgebung, die, wie oben beschrieben, durch Bewegung ermöglicht wird, gibt es die konzentrierte geistige Arbeit, das Lesen, Lernen und Denken. Dies erfordert eine ruhige, gleich bleibende, angenehme Umgebung. Die Arbeitsleistung spielt sich allein im Gehirn durch Lesen, Hören, Lernen und Denken ab. Jeder Schüler lernt das als Grundlage für sein Studium. Das ist also genau das Gegenteil zu einer generellen (erstmaligen) allgemeinen Wahrnehmung.

Die Bewegung scheint dabei eine intensive, detaillierte Vertiefung eines Wissenstandes über ein Objekt eher zu behindern. Nicht Bewegen, Tasten, Riechen, Schmecken sind dabei wichtig, sondern Lesen eines Buches, Hören von Lauten oder gehobener Musik und ruhiges und ausgleichendes Denken. Dazu muss der Mensch offensichtlich körperlich ruhig und innerlich aufnahmebereit sein. Bewegung würde ihn von dieser konzentrierten geistigen Leistung abbringen.

Diese geistige Konzentrationsphase ist nicht permanent durchhaltbar. Der Mensch braucht nach solchen Phasen wieder Lockerungszeiten, in denen er seine Kopfregion mit dem übrigen Körper ausgleichen kann. Er braucht Pausen mit bewussten geistigem Abschalten und körperlichen Ausgleich.

Die Arbeit an den Computern erfordert genau diese Konzentration. Die stärkste Beanspruchung besteht für die Augen und das Gehirn. Die übrigen Tätigkeiten (Tastendrücken, ruhiges Sitzen, gerade Körperhaltung) erfordern durch ihre Gleichförmigkeit über lange Zeiträume (oft Stunden) eine besondere partielle Anspannung von Händen, Rücken und Nacken. Das wurde Ende des 20. Jahrhunderts erkannt und bewusste ergonomische Verhaltensregeln geschult. Wie man heute (2011) feststellen kann, war diese Ergonomie für IT-User ein Erfolg. Die IT-User begannen bewusst körperlichen Ausgleichssport (Gymnastik, Jogging, Mountainbiking) auszuüben, das hatte nachweisbare volksgesundende Auswirkungen.

Die intensive Tätigkeit an einem Computer-Bildschirm kann das Gefühl für die Zeit verloren gehen lassen. In der Folge kann die Fähigkeit zu einer zwischenmenschlichen Dialogführung verloren gehen. Das Dialogverhalten gleicht sich an die schnellen Computerantwortzeiten an.
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich nach tagelanger intensiver Computerarbeit oft mindestens einige Stunden brauche, um auf den langsameren Rhythmus eines Gespräches zwischen zwei Menschen „runterzuschalten“.

Auch die Variabilität der Dominanz in einem Gespräch muss jeweils wieder bewusst lebendig und inhaltsmäßig erlernt werden. Ich habe durch die Maschine Computer verlernt, passiv und nachhaltig zuzuhören oder einmal nicht Recht zu haben, sondern will ein Gespräch (= Mensch-Maschine-Dialog) einseitig dominieren, was meine Partner nach wenigen Minuten frustriert.

Erst eine bewusste Umstellung auf den Gesprächspartner Mensch macht einen inhaltsreichen Dialog möglich. Derzeit entschuldige ich mich am Beginn jedes Dialogs bei meinem jeweiligen Gesprächspartner und brauche etwa 1 Stunde, um mich anzupassen.

Der Wiener Psychologe Prof. Michael Trimmel hat ab etwa 1990 die Auswirkungen der Schnittstelle Mensch-Computer (HCI) untersucht. Literatur ist unter (3) und (4) zu finden.

Quellenangaben:

(1) Franz Plochberger, Grenzen des Menschen, 2008, p34 – 36, HTTP://TEXTFELD.AC.AT/TEXT/1577/, Wissenschaftliche Veröffentlichungen, UNIVERSITÄT WIEN, Fakultät Informatik
(2) Rolf BALGO, Bewegung und Wahrnehmung als System, 1997, Dissertation in Univ. Dortmund, Verlag Karl Hofmann, Schorndorf, ISBN 3-7780-7021-5
(3) Michael Trimmel, Computertätigkeit und Realitätsbezug, 1994, Psychologische Forschung in Österreich, Herbert Janig (Hg.), Universitätsverlag Carinthia Klagenfurt, ISBN 3-85378-434-8
(4) Michael Trimmel, ‚Homo Informaticus‘ – der Mensch als Subsystem des Computers?, Verlag W.Kohlhammer, Stuttgart, 1998, Sammelband Cyberethik, Anton Kolb (Hrsg.), ISBN 3-17-015571-7

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