Musizieren lernen: Wie Musik das Lernen beeinflusst

Haben Sie sich schon einmal gefragt, was in Ihrem Gehirn geschieht, wenn Sie Musik hören? Wie beeinflusst Musik das frühkindliche Lernverhalten, und welche Rolle können wir der musikalischen Schulung von Kindern beimessen?

Lernen mit MusikSicher werden Sie schon einige solcher spannenden Fragen zum Thema „Wie beeinflusst die Musik unser Gehirn?“ gehört haben. Doch leider bekommt man viel zu selten kompetente Antworten.

Deshalb habe ich mich entschlossen einen Interview-Partner zu finden, der mir diese Fragen beantworten kann. Doch bevor ich mit dem eigentlichen Interview beginne, will ich Prof. Dr. Wilfried Gruhn kurz vorstellen.

Er ist Prof. i.R. für Musikpädagogik an der Musikhochschule Freiburg. Er absolvierte ein Schulmusikstudium mit Germanistik, Musikwissenschaft und Psychologie und promovierte im Jahre 1967.

Nach seiner Orchestertätigkeit beim Rundfunk Saarbrücken und höherem Schuldienst (Rheinland-Pfalz) nahm er eine Lehrtätigkeit an den Musikhochschulen in Saarbrücken, Essen und Freiburg an.

Prof. Dr. Wilfried Gruhn Musik und GehirnforschungEr ist Mitherausgeber verschiedener musikpädagogischer Zeitschriften, 1995-1997 Präsident der „Research Alliance of Institutes for Music Education“ (RAIME). 2000-2004 im Board of Directors der „International Society for Music Education“ (ISME). 1996 hat er das Forschungsprojekt „Kindliche Lernwelt Musik“ aufgenommen.

Er ist Autor viel gelesener Bücher wie „Der Musikverstand“ und „Kinder brauchen Musik“. Prof. Dr. Wilfried Gruhn ist ein kompetenter Interview-Partner, von dem man viele interessante Perspektiven zum Thema „Musik und Lernen“ erwarten kann.

Aber ich will Sie nicht weiter auf die Folter spannen. Urteilen Sie selbst, ob in diesem Interview neue und spannende Aspekte auftauchen, die Sie selbst im eigenen Unterricht bzw. in der eigenen Erziehung praktisch anwenden können.

Interview: Wie beeinflusst Musik das Lernen / Lernverhalten?

Peter Schipek: Herr Prof. Gruhn – Sie waren bis zu Ihrer Emeritierung Professor für Musikpädagogik an der Staatlichen Hochschule für Musik in Freiburg, sind Mitglied zahlreicher nationaler und internationaler wissenschaftlicher Gesellschaften, Gründer des „Gordon-Instituts für frühkindliches Musiklernen“, Vorsitzender des Vereins „Kindliche Lernwelt Musik“ und Autor viel gelesener Bücher wie z. B. „Kinder brauchen Musik“.

Lassen Sie uns das Gespräch mit dem „frühkindlichen Musiklernen“ beginnen. Sind bestimmte melodische Strukturen in unserem Gehirn schon bei der Geburt festgelegt?

Prof. Wilfried Gruhn: Nein, das kann man so nicht sagen. Im Gehirn sind Anlagen vorhanden, die dann gemäß den Anregungen der Umwelt unterschiedlich entwickelt werden.

Peter Schipek: Hat jedes Kind ein natürliches, verankertes Bedürfnis nach Musik?

Prof. Wilfried Gruhn: Ja, davon kann man ausgehen, wenn man Säuglinge und Kleinkinder beobachtet, wie sie auf Klänge und vor allem Rhythmen reagieren.

Peter Schipek: Wie entwickeln Kinder ein Gefühl für Melodien?

Prof. Wilfried Gruhn: Wenn Sie so allgemein nach dem Gefühl für Melodien fragen, würde ich sagen, dass es sich wie beim Erwerb der Muttersprache durch das ständige Hören entwickelt.

So wie Kinder ein Gefühl für die Laute, die Bedeutung von Wörtern und die Grammatik ihrer Muttersprache nur durch den hörenden und erprobenden Umgang erwerben, so geschieht dies ebenso mit den Tönen und deren Verbindung zu Melodien in der Musik. Sollen Kinder ein Verhältnis zu den Melodien ihrer Kultur entwickeln, müssen wir viel zu ihnen singen.

Wenn Sie jedoch danach fragen, wie Kinder Melodien lernen können, sprechen Sie damit den hochkomplexen Vorgang des imitatorischen audio-vokalen Lernens an, der darauf beruht, dass wir allein nach dem Gehör Tonfolgen und Rhythmen imitieren können, dass also die von den auditorischen Arealen empfangenen Signale so verarbeitet und an die motorischen Areale weitergeleitet werden, dass sie die feinen Bewegungen des Kehlkopfs steuern. Kurz: Das Gehör steuert und kontrolliert die Lautbildung.

Peter Schipek: In der Hirnforschung weiß man inzwischen, wie förderlich aktives Musizieren nicht nur für die soziale Kompetenz, sondern für die Entwicklung des gesamten Gehirns ist. Ist Musikunterricht schon im Kindergartenalter wichtig? Ab welchem Alter sollen Kinder mit Musikunterricht beginnen?

Prof. Wilfried Gruhn: Dieser These möchte ich nicht so vorbehaltlos zustimmen. Richtig ist, dass beim aktiven Musikmachen (z. B. beim Instrumentalspiel) sehr viele Anforderungen an die Bewegungskontrolle, die motorische Koordinationsfähigkeit, die Hördifferenzierung oder die visuomotorische Vernetzung gestellt werden, die zu einer verstärkten Interaktion (Kohärenz) beider Hirnhemisphären führt.

Insofern ruft Musizieren eine vielfältige Reizlage hervor; aber das tut nicht nur Musik allein, sondern jede Anregung und Zuwendung tut dem Kind und seiner Gehirnentwicklung gut, solange alles im rechten Maß geschieht.

Daher ist es gut und wichtig, wenn schon das kleine Kind – im Kindergarten und natürlich auch davor zu Hause in der Familie – in einer musikalischen Umgebung aufwächst, in der es unterschiedliche Musik hören und erleben kann. Hier kommt den vorschulischen Einrichtungen eine wichtige Funktion zu, die Erzieher und Erzieherinnen zu befähigen, qualifiziert musikalische Anregungen zu vermitteln.

Denn das angeborene Potenzial kann sich nur in dem Maße entwickeln, wie es angeregt wird. Und das sollte natürlich so früh wie möglich geschehen. Allerdings möchte ich da noch nicht von „Unterricht“ sprechen, sondern von Anregungen. Ein kleines Kind braucht anregende Erfahrungen, nicht formellen, systematischen Unterricht. Dieser kann einsetzen, wenn das Kind schulreif ist.

Peter Schipek: Gibt es Instrumente, die förderlicher sind als andere?

Prof. Wilfried Gruhn: Das erste und wichtigste Instrument ist die eigene Stimme. Beim Erlernen traditioneller Instrumente muss man berücksichtigen, inwieweit sie aufgrund ihrer Größe und Spielweise den physiologischen Bedingungen des Kindes angemessen sind.

Peter Schipek: Lernen Mädchen und Jungen anders?

Prof. Wilfried Gruhn: Das kann später beim schulischen Lernen durchaus sein. Bei den Lernstudien mit Kleinkindern konnten wir keine geschlechtsspezifischen Unterschiede feststellen.

Peter Schipek: Eine besonders aufregende und sensible Phase durchleben Jugendliche in der Pubertät. Welche Rolle spielt Musik während der Pubertät?

Prof. Wilfried Gruhn: Das werden die Entwicklungspsychologen besser beantworten können. Ich denke, dass Musik als intimes expressives Medium der Selbsterfahrung und des Selbstausdrucks, wie als Möglichkeit der nonverbalen Interaktion eine ganz wichtige Rolle in allen Lebenskrisen spielt. Darin liegt ja die besondere Wirksamkeit der Musiktherapie.

Peter Schipek: Es ist doch wichtig, dass Eltern Musik ganz selbstverständlich in den Alltag von Kindern integrieren. Welche Möglichkeiten haben denn die Eltern, um ihr Kind musikalisch zu fördern?

Prof. Wilfried Gruhn: Das beginnt schon mit den unterschiedlichen Angeboten der musikalischen Früherziehung. Im Alter von 5 bis 6 Jahren kann dann ein erster Instrumentalunterricht einsetzen, wozu in aller Regel die Eltern den Anstoß geben. Wichtig ist ebenfalls, dass Kinder auch zu Hause Musik hören, nicht nur von der CD und aus dem TV, sondern Musik, die die Eltern und Geschwister selber machen. Das muss nicht immer das Streichquartett sein, das kann genauso gut das eigene Singen sein.

Eltern werden immer die Äußerungen ihrer Kinder beobachten und feststellen, ob sie auf Musik besonders stark ansprechen. Dann sollten sie alle musikalischen Ausdrucksversuche unterstützen und fördern, d. h. sie singen und tanzen lassen, ihnen Angebote zum Instrumentalunterricht machen, sie in Konzerte mitnehmen usw. Kinder werden dann am ehesten Musik in ihr eigenes Leben integrieren wollen, wenn sie erleben, dass sie auch ihren Eltern wichtig ist.

Peter Schipek: Werfen wir doch einmal einen Blick auf die Schule. Nach schlechtem Abschneiden beim PISA-Vergleich werden Forderungen laut: „Mehr Mathematik statt Musik“. – Wir verstehen heute Bildung beinahe als Anhäufung von Faktenwissen.

In den Schulen fallen immer mehr Stunden des Musikunterrichts aus. Könnte uns Musizieren nicht sogar aus der Misere helfen?

Prof. Wilfried Gruhn: Es wäre ja wunderschön, wenn das so einfach ginge. Ich bezweifle, dass der Musikunterricht – so wie er heute stattfindet oder ein anderer Musikunterricht – den Leistungsvergleich der OECD Studie verbessern hilft.

Natürlich brauchen wir Mathematik und Sprachen und Naturwissenschaften in den Schulen, aber ebenso natürlich brauchen wir auch Kunst und Musik in den Schulen – nicht als emotionalen Ausgleich gegenüber der rationalen Beanspruchung, sondern als Denk- und Erfahrungswirklichkeit eigener Art. Ich glaube, wir brauchen vor allem eine andere Lernkultur und ein anderes Bildungsverständnis in den Schulen.

Peter Schipek: Kommen wir jetzt zum Gehirn. Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Neurobiologie des Musiklernens. Musizieren ist ja wie kaum etwas anderes eine Hochleistung für das Gehirn.

Wie lernt – wie verarbeitet unser Gehirn Musik?

Prof. Wilfried Gruhn: Das ist ein Thema, dem ganze Bücher gewidmet sind. Lassen Sie es mich kurz versuchen: Musiklernen bedeutet, in Klängen denken zu können und den gehörten Klängen eine musikimmanente, genuin musikalische (nicht außermusikalische, programmatische) Bedeutung zu geben.

Insofern ist Lernen immer ein aktiver Vorgang der Erzeugung von Bedeutung. Dies geschieht dadurch, dass musikalische Repräsentationen erworben werden, die dann beim Hören aktiviert werden können. Die Aktivierung mentaler Repräsentationen erlaubt dann Verstehen (Hervorbringen) von Bedeutung. Eine andere Sache ist das Erlernen eines Instruments, bei dem ja viele neuronale Prozesse der motorischen Koordination automatisiert werden müssen.

Peter Schipek: Haben Berufsmusiker „andere Gehirne“ – und wenn ja, was ist das Besondere am Musikergehirn?

Prof. Wilfried Gruhn: Wir haben alle „andere“ Gehirne; denn das Gehirn spiegelt immer die Erfahrungen und Anforderungen des individuellen Lebens. Es werden insbesondere die neuronalen Verbindungen gestärkt, die ständig gebraucht werden.

Insofern sieht die zerebrale Repräsentation der Hände von Musikern anders aus als die von Nicht-Musikern. Zu den strukturellen Besonderheiten der Gehirne von Musikern, die das corpus callosum, das planum temporale, die Handareale etc. betreffen, gibt es zahlreiche Studien. Doch das ist alles nicht so aufregend.

Das Musikergehirn zeichnet sich nicht durch besondere Strukturen aus, die den anderen Gehirnen fehlen, sondern durch die besondere Vernetzung und Interaktion der beim Musizieren aktivierten neuronalen Netzwerke.

Peter Schipek: Ein Instrument zu spielen, ist eine der komplexesten menschlichen Tätigkeiten. Viele Tätigkeiten müssen gleichzeitig koordiniert werden: Sehen, Hören, Fingerfertigkeit. Aber erleichtert Musik auch das Lernen in anderen Bereichen?

Prof. Wilfried Gruhn: Das ist eine spannende Frage oder vielleicht auch nur eine Wunschvorstellung.

Zum Nachweis kognitiver Transfereffekte sind unzählige Studien gemacht worden und werden immer noch gemacht. Sieht man sich das genauer an, sind die Einflussfaktoren, die für besondere Leistungen in dem einen oder anderen Bereich verantwortlich sein können, so komplex, dass ein belastbarer Nachweis eines Transfers auf andere nicht-musikalische Bereiche bisher nicht erbracht werden konnte.

Peter Schipek: Noch ein wichtiges Thema: Musiklernen im Erwachsenenalter. Ist Musiklernen im Alter sinnvoll?

Prof. Wilfried Gruhn: Lernen ist in jedem Alter möglich und sinnvoll! Aber man lernt anders im Alter (nicht besser oder schlechter). Das Lernen im reifen Alter hat seine eigenen Vorzüge, weil z. B. das kristalline Wissen zunimmt, während die fluide Beweglichkeit abnimmt.

Peter Schipek: Zum Abschluss – An vielen Orten werden wir heute mit Lautsprechermusik beschallt. „Musikalische Umweltverschmutzung“ breitet sich immer mehr aus.

Welche „Medizin“ würden Sie uns gegen die „musikalische Umweltverschmutzung“ empfehlen?

Prof. Wilfried Gruhn: Orte ständiger Beschallung meiden; dort, wo es möglich ist (z. B. in einzelnen Räumen eines Restaurants), das Abschalten der Beschallung einfordern; selber Musik machen und die Stille erfahren und üben.

Peter Schipek: Herr Prof. Gruhn – herzlichen Dank für das Gespräch!

Viel Spaß beim Musizieren mit Ihren Kindern!

Peter Schipek