Wicca: Schamanische Tradition moderner Hexen

Den Schamanismus gibt es seit Beginn des menschlichen Zusammenlebens. Er war die erste Religion, die im Einklang mit den Gesetzen der Natur lebte und noch keine Dogmen oder starre unveränderliche Grundsätze kannte. Im Schamanismus waren die Menschen darauf angewiesen, Erfahrungen zu machen und ihre Schlüsse daraus zu ziehen.

Daran kann auch heutzutage noch der grundlegende Unterschied zwischen Schamanen und Medizinleuten festgemacht werden. Ein Medizinmann ist immer eingebettet in das kulturelle Verständnis seines Stammes. Wenn er sich nicht mehr in diesem Kontext bewegt, funktioniert auch seine Magie nicht mehr.

Ein Schamane dagegen wird ungeachtet dessen, wo er sich befindet, immer noch handeln können, da er die Energien seiner Wahrnehmung auf die tatsächlich ihn umgebende Realität richten wird und auf kreative undogmatische Weise handlungsfähig bleibt.

Schamanismus hat seit einigen Jahren bei den westlichen Menschen eine Renaissance erlebt und es stellt sich historisch die Frage, wie es dazu kommen konnte. Sicherlich hat es immer Menschen gegeben – seit der Ankunft der Spanier in Amerika bzw. schon vorher durch die Reisen der Wikinger – welche in Berührung kamen mit den Traditionen der dortigen Naturvölker. Die eigenen Traditionen wurden durch die Inquisition so vollständig verdrängt, dass sie in Vergessenheit gerieten. Es gibt seit Jahrhunderten keine europäischen Stammesgemeinschaften mehr und das Wissen konnte nur noch in einzelnen Familien im Verborgenen weitergetragen werden.

Abgesehen von einer intellektuellen Avantgarde waren es zuerst die Beatniks und später die Hippies, welche in den Sog der schamanischen Traditionen gerieten. Ohne den kulturellen Kontext zu kennen, waren es die Drogen der Schamanen, die das Weltbild dieser westlichen Pioniere erweiterten bzw. vollständig veränderten.

Wicca Hexen SchamanismusLeute wie Gordon Wasson, Timothy Leary u. a. stießen auf die mexikanischen Psilocybin-Pilze durch Curandera Maria Sabina und in den nächsten Jahrzehnten wurden die indianischen Dörfer Mexikos von einer Flut „trippender“ Hippies überschwemmt. Für die meisten der Indios brachte das zwar Geld, aber für die noch einigermaßen authentische Kultur war das der Beginn vom Ende der gelebten Traditionen. Für die indianischen Geheimgesellschaften sah das anders aus. Seit den 50er Jahren waren sie interessiert an den westlichen Besuchern und begannen mit wenigen Auserwählten Einfluss zu nehmen auf Politik und Gesellschaft der westlichen Welt.

Schamanismus hielt nach der ersten Drogenerfahrungszeit Einzug in die sich neuen entwickelnden Therapieformen. In Zentren wie Esalen fanden unzählige Schamanen-Workshops statt und die Grenze zwischen Therapie und Schamanismus ist bis heute noch fließend.

Gleichzeitig begann die sogenannte Hippie-Kultur sich ernsthafter mit der zugrunde liegenden Spiritualität zu befassen und den Einklang mit der Natur wieder zu leben. Das brachte auch einen Wandel zwischen den Geschlechtern mit sich. Das Rollenbild begann zu wackeln und eine spirituelle Frauenbewegung, die eine Göttin anstatt des patriarchalen Gottesbildes verehrte, war geboren.

Gegenwärtig kann man die Bewegung in drei Kategorien einteilen:

Die spirituelle Frauenbewegung, die therapeutische Bewegung und die traditionelle Bewegung, welche die Initiationsabläufe verfolgt. Nach Europa kam der Schamanismus erst mit den historisch bedeutenden Kongressen Anfang der 80er Jahre, die in Alpbach stattfanden – gefolgt vom Planetary Rainbow Gathering in Interlaken, wo sich erstmals alle führenden Religionen und Kulturen dieses Planeten zusammen ins Medizinrad setzten und vom Treffen der Magier und Schamanen in Horn bei den Externsteinen.

Letzteres blieb bis heute einmalig, da bisher nur dort Schamanen mit europäischen Traditionen wie Wicca und Magiern aus westlichen Logen offiziell zusammengetroffen sind. Die Indianer, die nach Europa kamen, wiesen immer darauf hin, dass es nicht ihr Ziel sei die Europäer zu Indianern zu machen. Sie gaben nur die notwendigen Anstöße, damit das Bedürfnis geweckt werden konnte nach den eigenen Wurzeln zu suchen.

Wicca Hexen TraditionEs gab tatsächlich noch die überlieferten europäischen Traditionen. Margret Murray hatte anfangs des Jahrhunderts ihre Forschungen gemacht und war dabei auf lebendige Fruchtbarkeitskulte – eine Erdmutter-Kultur – gestoßen, die dem heutigen Wicca entsprechen.

Sie wurden beschrieben in ihrem Buch „Der Hexenkult in Westeuropa“ von 1921. In Italien hatte Leland ebenfalls Hexen gefunden. Sein 1899 erschienenes Buch „Aradia – Die Lehre der Hexen“ war noch bis in die 70er Jahre hinein das einzig authentische Hexenbuch, das den neuen modernen Hexen in Deutschland zur Verfügung stand. In den 50er Jahren beschrieb Gerald Gardner den Wicca-Kult, dem er seit 1936 angehörte. Dies wurde ab 1954 möglich, da erst zu diesem Zeitpunkt in England die Hexengesetze aus dem Mittelalter aufgehoben wurden, welche bis dahin Hexerei verboten und unter Strafe gestellt hatten.

Er bekannte sich als gewählter König der Hexen Englands, ein Titel, der nach seinem Tode 1964 auf Alex Sanders überging, welcher diesen dann ebenfalls bis zu seinem Tode im Jahre 1989 innehatte. Seitdem gibt es keinen Hexenkönig mehr. Als Nachfolger hatte Sanders seinen eigenen Sohn bestimmt, womit er die Tradition brach, nach welcher der König durch den „Britain Witchcraft Council of Elders“ gewählt werden sollte. Die spirituelle Ausbildung des kommenden Hexenkönigs übernahm Derek Taylor, der in Sanders letzten Jahren mit diesem zusammengelebt hatte. Derek Taylor wurde Ende Februar 2000 ermordet aufgefunden, die Hintergründe und Täter sind noch unbekannt.

Die bekanntesten Wicca-Traditionen sind die sogenannten Gardnerian Wicca und Alexandrian Wicca – beide benannt nach den genannten Persönlichkeiten. Einen wirklichen Unterschied gibt es nicht, denn es handelt sich um dieselbe Tradition. Die beiden Begriffe entstanden erst nachdem Gardner verstorben war und ein Teil der Wicca-Bewegung wohl die Wahl des neuen Königs nicht anerkannt hatte.

Ein jahrzehntelanger Streit war die Folge, der erst in den 90er Jahren durch die mittlerweile sehr angesehene Hexe Vivianne Crowley beigelegt werden konnte, die sich ganz einfach in alle drei Grade „beider“ Traditionen initiieren ließ. Darüber hinaus gelang es ihr mit der Etablierung der „Pan European Wicca Convention“, die seit 1990 jährlich jeweils in einem anderen Land stattfindet, auch die anderen traditionellen Wicca-Strömungen zum Austausch in einen gemeinsamen Kreis zu holen.

Das sind vor allem Linien der Hereditary Witchcraft, den unzähligen Familientraditionen, in die nur hineingeboren oder hineingeheiratet werden kann. Diese sind noch überall in England, Schottland und Irland zu finden. Bisher nicht beteiligt daran sind die aus der Ecclectic Wicca stammenden, in Deutschland als Freifliegende bezeichnete Hexen (meist selbstinitiiert) sowie die Dianic Wicca, die aus der Frauenbewegung kommenden (nicht mit Männern zusammenarbeitenden) Hexen. Letztere beiden findet man meist im Internet, wo zum Stichwort Wicca allein in Deutschland Hunderte – weltweit Tausende – Websites zu finden sind. Zudem gibt es noch die Shamanic Wicca, die eher von schamanischer Praxis inspiriert sind.

Die einzig traditionell authentisch akzeptierte und in Linie stehende Tradition ist – unter den schamanischen Wicca-Traditionen – die Celtsun-Wicca, welche durch eine Übereinkunft zwischen Druiden, Wicca und indianischen Medizinfrauen Anfang der 80er Jahre ins Leben gerufen wurde. Diese Linie hat nicht den Anspruch eine der einzig wahren tauglichen Traditionen zu sein, aber es gibt keine andere, welche über die Patenschaft vorhergegangener Linien verfügt und deswegen nahtlos an die energetischen Wurzeln bestehender historischer Traditionen anknüpft. Deren Hauptmerkmal ist neben der Tradition die Arbeit mit den indianischen Medizinrädern.

Aber auch in Deutschland gab es nach der Inquisition noch eine Hexentradition, welche von den Jena-Weimarschen Kreisen um Fichte, Novalis, Schlegel und Goethe etabliert wurde. Belegt ist, dass 1789 in der Schlegelschen Bergpartei die Alte Religion oder der Veccio-Kult (engl. Wicca) zur Verehrung der Natur über die Frau ins Leben gerufen wurde. Die damaligen Gemeinschaften haben laut McGregor Mathers auch die Entwicklung des Golden Dawn stark beeinflusst.

Es war üblich, dass einer Wicca-Gemeinschaft eine Rosenkreuzer-Loge als esoterischer Vorhof vorgeschaltet war. Auch der Wicca-Coven, in den Gerald Gardner in den 30er Jahren initiiert wurde, agierte als innerer Kreis einer Rosenkreuzer-Loge und verfügte über enge Kontakte zur italienischen Freimaurerei über Giovanni Recigno, dessen Familienangehörige wiederum Anhänger der Aradia-Hexenströmung waren. Recigno war auch Mitglied des „Order of the Pentagram“, der sehr eng mit der Gruppe UR von Julius Evola in Rom und mit der „Myriam School of Esoteric Initiation“, die von Guilianno Kremmerz 1926 gegründet wurde, verbunden war.

Wicca Hexe SchamanismusDie ganze historische Geschichte ist jedenfalls nicht mehr linear nachzuvollziehen, da Wicca von einem anarchischen Element lebt. Prinzipiell gibt es zwar drei Grade, welche die Reife der Angehörigen spiegeln, aber jedes Mitglied wird von vorneherein als Priester und Priesterin anerkannt – im Gegensatz zu den etablierten Religionen, wo ein Klerus dem „Volk“ vorsteht.

Auch ist die Arbeitsweise von Coven zu Coven sehr unterschiedlich, denn das gemeinsam familiär Verbindende bildet das Fundament der praktizierten Religion. Dadurch kommt es auch zu sehr unterschiedlichen Arbeitsweisen in den jeweiligen Covens.

Es ist ein Naturgesetz, dass die männliche Energie sich mehr nach außen richtet als die weibliche Energie, welche stattdessen aufnimmt und behütet. Deswegen verbindet man mit dem Begriff Wicca in unserer Zeit eher Männer wie Gerald Gardner, Alex Sanders und Stewart Farrar.

Aber wie zu matriarchalischen Zeiten sind diese mehr in ihrer Rolle des Heros zu sehen, welche im Auftrag der Göttin, d. h. den Priesterinnen, nach außen gehen. Im Grunde erfüllen sie immer die Aufträge der Priesterinnen. Im Gegensatz zu den sonst im Westen magisch arbeitenden Geheimbünden und Logen stehen aber auch viele der Frauen als Priesterinnen öffentlich im Vordergrund. Da finden wir Namen wie Doreen Valiente, Dion Fortune, Maxine Sanders, Marion Green, Vivianne Crowley und noch viele andere.

Doch was ist nun schamanisch bei der Wicca-Religion? Wonach leben und arbeiten die heutigen Hexen?

Wicca ist aufgrund der eben geschilderten praktizierten Individualität völlig undogmatisch und kreativ. Hauptaugenmerk liegt auf der Balance zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen, wie es außer vielleicht noch im Tantra nirgendwo sonst zum Tragen kommt. Verehrt werden Gott und Göttin, was sich in Priester und Priester – also in Mann und Frau – ausdrückt. In den höheren Graden erhält diese naturgegebene Tatsache auch eine magische Komponente. In der Regel stehen die Angehörigen unbekleidet (skyclad, d. h. heißt „vom Himmel bekleidet“) im Kreis.

So sind wir geboren und ohne konditionierte Masken begegnet man sich auch. Die Göttin hat in Wicca das größere Gewicht, weil die Schöpfung generell als weiblich gesehen wird. Alles wird aus der Frau geboren. Und nach dem alten hermetischen Gesetz „So wie oben, so auch unten“ muss die erschaffende gebärende Kraft eine Göttin sein.

Diese Göttin ist nichts abgetrenntes, sie ist in allem und überall. Sie hat so viele Gesichter und Formen wie es Leben gibt. Verehrt wird sie in dreifacher Gestalt – als junge Jägerin, als fruchtbare Mutter und als alte Weise. Die Feiern des Jahres richten sich nach der Natur. 13 Mondfeste, die auch den Zyklus der Frauen bestimmen, und 8 Sonnenfeste (die Jahresfeste), zu denen es entsprechende Mythologien gibt und die auch noch in vielem Volksbrauchtum anzutreffen sind. Selbst die christliche Kirche hat die meisten dieser Feste einfach okkupiert, da sie aus dem Glauben der Bevölkerung nicht verdrängt werden konnten.

Gott und Göttin und das Feiern dieser insgesamt 21 Feste sind das einzige Festgelegte, das alle Wicca neben den drei Initiationsgraden gemeinsam haben. Wicca haben ein Arsenal an Werkzeugen: u. a. Athame (Dolch), Stab, Kordel, Peitsche, Schwert, Kelch, Kessel.

Dies alles sind „magische Waffen„, doch schwarze Magie (im Sinne von absichtlicher Schadensausübung) gibt es im Wicca nicht. Das ergibt sich schon aus einer der Glaubensvorstellungen, dass alles was man nach außen gibt auf einen zurückfällt – sogar dreifach wie die Wicca sagen. „Tu was du willst, aber schade niemandem, denn alles kommt dreifach zurück“. Es gibt unzählige „Zauberpraktiken“ wie Knotenzauber, Wetterzauber, Heilungspraktiken, Kerzenzauber, Puppenzauber, „Spells“ (Zaubersprüche), Trance- und Ekstasetechniken u. a. – wie sie im „Book of Shadows“, die eine Hexe bei der Initiation erhält, überliefert sind und persönlich ergänzt und erweitert werden – bis hin zu allen Praktiken, die jede/r einzelne und jeder Kreis auf seinem spirituellen Weg findet.

Alles, was funktioniert darf auch angewendet werden. Und aufgrund der praktizierten Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit darf Wicca als eine der schamanischsten Traditionen überhaupt gesehen werden. In Wicca wird das praktiziert, was in der Einleitung als Kennzeichen eines Schamanen, einer Schamanin geschildert wurde.

Man arbeitet mit den Energien und lernt aus der eigenen Mitte durch Beobachtung der einen umgebenden Natur, ohne verbindlich festgelegte Gesetze, die es zu befolgen gibt. Von Wicca ist noch viel zu erwarten, vieles findet immer noch im Verborgenen statt. Einerseits gewinnt die Verehrung der Göttin immer mehr an gesellschaftlicher Bedeutung, andererseits erkennen selbst die feministisch orientierten Hexen mehr und mehr, dass ihnen ohne Gott und ohne Zusammenarbeit mit dem Männlichen ein Stück zu ihrer Ganzheit fehlt.

Die Frauenbewegung beginnt sich in den 90er Jahren auf ihre Errungenschaften in den 70er Jahren zu besinnen und sich erneut zu spiritualisieren. Zum ersten Mal in der Geschichte seit langem werden wieder Schwester- und Bruderschaften gebildet, die sich zusammenarbeitend die Hände reichen.

Wicca ist eine der Religionen der Zukunft, die zudem eine lange Tradition darin hat, Männlich wie Weiblich balanciert zu verehren und die Individualität jedes Einzelnen zu fördern. Dennoch bietet sie soziale Perspektiven durch den intimen Zusammenhang innerhalb eines Kreises (Stammes, Covens). Sie entspricht dem Bedürfnis nach einer Lebensweise in Einklang mit den Zyklen der Natur und erhält dadurch auch eine sehr ökologische Ausrichtung. Nicht zuletzt verbindet sie Magie mit Religion und das macht sie ebenfalls einzigartig. Denn andere Traditionen sind entweder religiös und nicht magisch oder aber magisch, dafür nicht religiös.

Derzeit bilden sich überall wieder Dachorganisationen, dies scheint ein Trend der gegenwärtigen Zeit zu sein. Die meisten solcher Versuche in der Vergangenheit scheiterten daran, dass den Modellen dafür hierarchische Strukturen zugrunde lagen. Oft wurden sie von oben nach unten gebildet, anstatt auf natürliche Weise von unten nach oben zu wachsen. Auch hier gehen derzeit von Wicca wichtige Anstöße aus – eine Hexe weiß, dass alles miteinander verwoben und vernetzt ist, dass man Achtung vor dem Leben haben sollte und anderen Richtungen mit Respekt begegnet.

Von Wicca ging die Initiative zur Celtsun-Medizingesellschaft aus, in welcher sich seit nunmehr vier Jahren immer mehr naturreligiöse Traditionen zusammenfinden im Kreis, im Austausch, in der Begegnung, im gemeinsamen Feiern. Das Wort Celtsun setzt sich zusammen aus dem „Celt“ für „Keltisch“ und „Sun“ für den indianischen Sonnentanz.

Hier vereinigt sich die Sonne mit dem Mond, das Feuer mit dem Wasser und gemeinsam erschaffen sie einen Regenbogen. Den Regenbogen-Menschen gehört die Zukunft, denn ungeachtet der verschiedenen Farben der unterschiedlichen Rassen fließt in uns allen dasselbe (sowieso längst vermischte) rote Blut. Die Farbe unserer Knochen ist weiß und die Liebe in unseren Herzen alles umfassend.

(Zuerst erschienen im Golem, Nr. 3, Frühjahr 2001, überarbeitet und leicht ergänzt für Philognosie.net, Januar 2003)

Berthold Röth