Charakterentwicklung in der Kampfkunst – Der „Weg des Lernens“““

Bevor ich Ihnen meine persönlichen Erkenntnisse zum „Weg des Lernens“ näher bringen will, seien mir noch kurz ein paar einführende Worte erlaubt. Ursprünglich verfaßte ich diesen Text für meine Kampfkunst-Schüler, um ihnen zu zeigen, wie man sich auf den „Weg des Lernens“ einlassen kann. Dazu habe ich eigene Erfahrungen und Überlegungen niedergeschrieben, die mir persönlich geholfen haben, in verschiedenen Kampfkunstrichtungen erfolgreich zu sein. Doch nach vielen Diskussionen stellte sich heraus, daß sich diese Erfahrungen nicht nur auf den Bereich des „Kämpfens“ anwenden lassen, sondern viele Menschen motivierte, ihr Lernverhalten generell zu überdenken und zu verändern.

KampfkunstMir wurde klar, daß sich das „Prinzip des Lernens“ in der Kampfkunst nicht wesentlich von anderen Themengebieten unterscheidet, sofern man fähig ist, die dargestellten Prinzipien zu verallgemeinern, d.h. auf andere Bereiche zu übertragen. Insofern kann man diesen Artikel in zweifacher Form lesen: entweder als „Erfahrungsbericht“ eines Kampfkünstlers oder auch als „Reflektion über den Weg des Lernens“. Lassen Sie sich nicht von den „Etiketten“ der Kampfkunstszene ablenken, sondern versuchen Sie die innere Einstellung zu erkennen, die hinter den Begriffen steht.

Sie beschreiben eine Neugier, eine Freude und ein „Lernen wollen“, also eine innere persönliche Einstellung zum Lernen selbst. Die Worte sind nur eine Fassade, hinter der sich ein Prinzip versteckt, das mich mein ganzes Leben als „Lernender“ begleitet hat. Wer sich selbst einen positiven Zugang zum Lernen schafft, dem ist letztlich kein Ding unmöglich. Wer sich allerdings selbst sabotiert und sich dem Neuen verschließt, dem kann auch der beste Lehrer keinen Schritt weiterhelfen. „Lernen wollen“ oder „Neues zu ignorieren“ ist Ihre persönliche Entscheidung und keine Frage der Geburt, Gene oder Anlagen. Doch genug der Vorrede – ich beginne mit der Praxis.

Jede Fähigkeit kann durch bestimmte Übungen (und Bewußtheit) geschult werden. Sie kann soweit geschult werden, daß die trainierte Fähigkeit ein „normales Maß“ bei weitem übersteigt. Nimmt man die „Meister“ einer bestimmten Schule als Vorbild (Yoga, Kampfsport etc.), so kommt man aus dem Staunen nicht heraus, auf welches Niveau man menschliche Fähigkeiten bringen kann. Doch das, was auf den ersten Blick als „kleines Wunder“ erscheint, ist im Grunde nichts anderes, als das erwartbare Ergebnis eines konsequenten Trainings.

Man darf nicht vergessen, daß man an einem Meister das Endergebnis einer Entwicklung beobachtet. Der Weg, der hinter ihm liegt, der mit Willen, Anstrengung und Fleiß verbunden war, bleibt uns zunächst verschlossen. Ich erwähne das, weil ich schon oft Schüler hatte, die sich mit mir verglichen und darüber frustriert waren, was sie alles „noch nicht können“. Diesen Schülern erzähle ich dann meine eigene Geschichte. Ich hatte anfangs genau dieselben Probleme und ich lernte durch Beharrlichkeit und kontinuierliches Üben, diese Probleme zu meistern.

Je höher das Niveau ist, welches man durch bestimmte Übungen erreichen will, desto länger und steiniger ist der Weg bis zum Erfolg. Wer nur den „schnellen“ Erfolg sehen will, d.h. auf schnelle Erfolgserlebnisse ohne Anstrengung aus ist, wird kaum ein höheres Level an Körperbeherrschung erreichen. Man muß bereit sein, sich eine Fähigkeit zu „erobern“ und dieser Weg führt immer über hohe Gipfel und durch tiefe Täler. Viele begehren nur den Gipfel und verachten oder fürchten sich vor den Tälern. Dabei könnten sie wissen, daß nur der Abstieg zum nächsten Tal zu einem neuen Gipfel führen kann. Wer denkt, von Gipfel zu Gipfel springen zu können, ist entweder ein Traumtänzer oder ein Verlierer.

KampfkunstMeine besten Schüler waren gar nicht die Cracks – also Menschen, die erstaunliche Talente mitbrachten – sondern stille und beharrliche Menschen, die kontinuierlich geübt haben. Es stellt sich nicht die Frage, wo man anfängt zu gehen, sondern wo man aufhört Fortschritte zu machen. Denn selbst ein hochtalentierter Schüler, der nur bereit ist wenige Schritte zu gehen, wird jedem ungelenken, aber beharrlichen Anfänger langfristig unterlegen sein.

So kann ich aus meiner Erfahrung sagen, es kommt nicht darauf an, wo man anfängt oder was man mitbringt. Es kommt darauf an, wie willensstark und beharrlich man seine Fähigkeiten entwickelt. Ich selbst war zu Anfang nur mittelmäßiger Durchschnitt – aber ich habe nicht lockergelassen – weitergemacht und erst im Laufe der Jahre fiel mir auf, daß ich langsam Fähigkeiten beherrschte, die weit über dem Durchschnitt lagen. Mir selbst hat dabei meine „Kämpfernatur“ geholfen. Ich wollte erobern und gab mich nicht mit dem zufrieden, was ich bereits konnte. Widerstände und Probleme sah ich als Herausforderung, die ich meistern wollte. Mit „Kämpfernatur“ bezeichne ich eine innere Einstellung, ein Ziel erreichen wollen, bei Widerständen oder Problemen nicht aufzugeben, sondern sich der Herausforderung zu stellen.

Einen werdenden Meister erkennt man daran, daß er sich nicht nur an anderen mißt, sondern sich selbst zum Maßstab hat. Das betrifft den eigenen Willen, sich selbst immer wieder zu übertreffen. Schlechte Schüler nehmen sich als Maßstab noch schlechtere, um sich selbst zu beweisen „wie gut sie sind“, oder sind frustriert, wenn jemand besser ist. Sie sehen nicht ihre eigene Entwicklung, sondern vergleichen sich mit anderen – mit äußeren Vorgaben oder Umständen. Wenn überhaupt, orientiert sich ein werdender Meister nicht am Schlechtesten, sondern am Besten – ja versucht sogar noch diesen zu übertreffen.

Der grundlegende Fehler ist nicht sich selbst mit anderen zu vergleichen, sondern daß Verlierer ihr Selbstwertgefühl an äußeren Umständen festmachen. Ein Selbstwert, der von äußeren Umständen abhängt, ist kein echter SELBST-Wert! Wer seinen Selbstwert am Lob und Tadel anderer mißt, ist immer von Anderen abhängig.

Ein echter SELBST-Wert ist ein Wert, den ich aus mir selbst heraus schaffe und als Maßstab für mich anlege. Wenn ich beispielsweise Ehre als echten Wert für mich ansehe, dann werde ich darauf achten, mich ehrenvoll gegenüber anderen zu verhalten. Es ist dabei völlig unwichtig, ob dieser Wert von anderen akzeptiert oder geschätzt wird – er ist mein eigener Maßstab – mein eigenes Gesetz. Durch diese Orientierung an eigenen Werten bin ich nicht mehr von der Außenwelt und deren Stimmungen abhängig. Durch dieses Setzen von eigenen Werten kann ich lernen, mein Wesen zu formen, denn jeder Wert ist sowohl meine Freiheit, als auch meine eigene Pflicht.

Eigene WerteSich selbst Werte setzen zu können, ist die hohe Kunst der Meisterschaft im Leben. Um solche Werte konsequent leben zu können, braucht es eine echte Überzeugung – eine echte Ausrichtung im Leben, die man 100% verinnerlicht hat. Aber jeder der über so eine Lebensausrichtung nachdenkt, sollte sich das Sprichwort vergegenwärtigen, daß „Meister nicht vom Himmel fallen!“ Aller Anfang ist die Reflektion. Wer nicht willens ist selbst zu denken, wird auch keinen Wert finden, für den es sich lohnt zu leben. Dieser Schatz liegt in jedem Menschen – man muß nur bereit sein ihn zu bergen. Er ist das wichtigste und mächtigste Werkzeug sein eigenes Leben zu gestalten.

Manche Menschen finden nie einen solchen „Eigenwert“. Andere brauchen ein Leben lang, um ihn zu entdecken. Es gibt für den Suchenden keine Garantie das Ziel zu erreichen. Man kann aber umgekehrt sagen, daß jeder, der nicht nach seinen Werten sucht, auch keine Werte finden wird. Er wird ewig von anderen Ideen abhängig bleiben. Seine tiefste Überzeugung wird ihm immer verschlossen bleiben. Positiv gesehen, ist diese Suche – egal wann man sie beginnt – eine Möglichkeit seinen eigenen „wahren Willen“ zu entdecken

KampfkunstEinen „Fallgrube“ auf diesem Weg nenne ich Fanatismus. Ein Fanatiker hat zwar eine echte Überzeugung und Ausrichtung im Leben gefunden. Doch es handelt sich um eine Ausrichtung, die für andere Wege und Alternativen blind ist. Schlimmer noch, man ignoriert das Feedback anderer Menschen, verliert damit die Bereitschaft an sich selbst zu arbeiten und seine eigenen Überzeugungen kritisch zu prüfen. Die Anderen werden zu Ungläubigen oder Idioten herabgewürdigt, deren Ansichten oder Bedürfnisse wertlos sind. Der Fluch des Fanatismus ist seine Blindheit. Irgendwann ist man gezwungen alle Aspekte der Welt zu verleugnen oder zu verdammen, die mit den eigenen Glaubensätzen nicht übereinstimmen. Ein Wert, der auf Fanatismus beruht, führt nicht zu mehr innerer Freiheit, sondern setzt die Mauern der eigenen Beschränkung nur noch enger.

Eine mildere Form des Fanatismus ist, an bisher Gelerntem (z.B. der Tradition) unhinterfragt festzuhalten. Damit lehnt man neue Ideen und Vorgehensweisen ab. Ich hatte beispielsweise einen Schüler, der vorher Karate lernte und anschließend Tai-Chi lernen wollte. Er sah bei mir eine Übung, die er in ähnlicher Form aus seinem eigenen Training kannte und belehrte mich über „die korrekte Form“ – d.h. wie die Dehnung „korrekt“ ausgeführt werden müßte.

Problematisch dabei ist, daß ein einmal erlerntes Schema als „richtig“ vertreten wird. Alle alternativen Variationen werden dann als „falsch“ oder minderwertig eingestuft. Mit dieser Verabsolutierung der eigenen Erfahrung verschließen sich solche Leute vor neuen Erfahrungen, denn „sie wissen ja bereits was Sache ist.“

Da ich mehrere Schulen und Systeme kennengelernt habe, kann ich nur das Fazit ziehen, daß es keinen absolut richtigen Weg gibt. Jeder Weg hat bestimmte Stärken und Schwächen. Aber diese werde ich nur entdecken, wenn ich diesen Weg annehme und ihn soweit gehe, bis ich eine echte Erfahrung, der ihm zugrunde liegenden Prinzipien, habe.

Mit diesem Hintergrund kann ich sagen, daß jede Variation einer Körperübung „anders“ wirkt. Es gibt keine richtigen oder falschen Körperübungen. Jede Variante hat ihre eigene spezifische Wirkung. Ich persönlich finde es förderlich viele Variationen einer bestimmten Dehnung zu kennen. Damit wächst meine Erfahrung, welche dieser Variationen ich für meinen Körper am besten anwenden kann, bzw. welche Variation mir am meisten bringt.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Fähigkeit mit den eigenen Emotionen umgehen zu können. Die Hindus verwenden für die Lebenssituation das Bild eines Wagenlenkers, der fünf Pferde – die fünf Sinne – unter Kontrolle halten muß. Hat der Wagenlenker seine Gefühle im Griff, so kann er seine Emotionen als Triebkraft nutzen, um sein Ziel zu erreichen. Wird der Wagenlenker jedoch von seinen Gefühlen beherrscht, so zerren die fünf Pferde wie wild in alle Richtungen. Es ist das Sinnbild eines Menschen, der nur zwischen dem schmalen Grad seines Reiz-Reaktions-Musters agieren kann.

Solche Menschen beschreiben sich selbst oft als „Opfer der Umstände“ und suchen einen freundlichen Berater, der sie vor dem endgültigen Absturz bewahrt. Doch gibt es keinen Berater, der sie vor der eignen Verantwortungslosigkeit schützen kann. Jemand, der „Opfer bleiben will“ zu beraten, ist ungefähr genauso sinnvoll, wie seinem Hund Bauchtanz beizubringen. Nur wer die Verantwortung für sein eigenes Erleben und Handeln übernimmt, kann sein Leben gestalten.

Ein bekannter Freeclimber verwendete einmal die Metapher, Passagier oder Pilot des eigenen Leben zu sein. Sicher wünscht sich jeder der Pilot seines Lebens zu sein, aber der Wunsch alleine reicht nicht. Um Pilot zu werden, muß man die Grenzen der eignen Fähigkeiten aufsuchen und sich aktiv mit seinen Schwächen konfrontieren, um in der Situation selbst zu lernen, was man wie verändern kann. Doch genau wie ein Kind, das nicht am ersten Tag das Gehen lernt, so muß man lernen mit Fehlschlägen umzugehen, bevor man eine neue Fähigkeit trainiert hat.

Mir persönlich hilft dabei eine Vision – also ein Ziel oder starker Wunsch – wie ich sein will, eine Idealvorstellung von mir in der Zukunft. Diese Vision lade ich mit positiven Vorstellungen auf, so daß sie mir bei Rückschlägen ein Leuchtturm für meinen Weg bleibt. Wenn es schwer wird und ich an meiner eigenen Unfähigkeit zu verzweifeln drohe, so rufe ich mir wieder die Vision vor mein geistiges Auge. Damit habe ich auch in schweren Zeiten mein Ideal weiter vor Augen.

Damit bin ich mit dieser kleinen Ausarbeitung am Ende. Wenn ich Ihnen mit diesen Anregungen weiterhelfen konnte, habe ich diesen Artikel nicht umsonst geschrieben.

Viel Erfolg!

Tony Sperber