Metrik: Ästhetische Definition von Metriken in Gedichten

Viele Menschen schätzen die Metrik (Verslehre oder Lehre über das Versmaß) als Fundament eines guten Gedichts. Hier stellen wir Ihnen verschiedene Definitionen zu Metriken und deren praktische Anwendung in Gedichten vor. Außerdem erfahren Sie anhand von ästhetischen Analysen die Wirkungen verschiedener Metriken.

Einführung in die Metrik

In der vorliegenden Arbeit habe ich mich auf Versrhythmen beschränkt, die ein eindeutiges Versmaß aufweisen. Die meisten Dichter bevorzugen heutzutage freiere Formen, d. h. verzichten auf eine geregelte rhythmische Abfolge. Es ist nicht ganz klar, was noch zur Metrik gezählt werden kann, bzw. was zur (rhythmischen) Prosa gehört. In vielen Fällen hat man es mit einer breiten Übergangszone zwischen Vers und Prosa zu tun, sodass nur durch genaue Einzelanalyse entschieden werden kann, inwieweit der Verscharakter noch erkennbar ist.

Die zwei folgenden Beispiele verdeutlichen den Unterschied zwischen einem Gedicht mit freiem Rhythmus und einem mit geregeltem Rhythmus:

Freier Rhythmus Geregelter Rhythmus
Eine Erinnerung

Es ist ein sehr kleiner Tropfen.
Er stützt sich von der
hellgrauen Stoffunterlage ab,
wohl um sich größer zu machen.

Sein kleiner Rücken
wölbt sich stolz nach oben.
Stoffpickel’s feine verletzliche Haut
überspannt seine
durchsichtige Buckligkeit.

Ein Farbchamäleon der Anpassung
braucht keine eigene Farbe.
Die Fasern seiner Stoffkrücke
wirken leicht vergrößert.

Geheimnisvolle Perle
verschwindet bei jeder Berührung
und hinterlässt
nur eine schimmernde Erinnerung.

Menschen versuchen sie festzuhalten,
doch es gelingt ihnen nie ganz.
Kein Diamant kann ihre
erfrischende Klarheit einfangen.

Es ist nur eine Erinnerung
eines einst kleinen Tropfens.

Selbstbetrug (von Goethe)

Der Vorhang schwebet hin und her
Bei meiner Nachbarin;
Gewiß, sie lauschet überquer,
Ob ich zu Hause bin,

Und ob der eifersüchtge Groll,
Den ich am Tag gehegt,
Sich, wie er nun auf immer soll,
Im tiefen Herzen regt.

Doch leider hat das schöne Kind
Dergleichen nicht gefühlt.
Ich seh, es ist der Abendwind,
Der mit dem Vorhang spielt.

Einige wichtige Grundbegriffe der Metrik

Im Rahmen dieser ästhetischen Analyse reicht es aus, einige, wenige Begriffe zu klären. Ich habe darauf geachtet, anhand von zahlreichen Beispielen den Inhalt zu verdeutlichen, und nur die Punkte herauszugreifen, welche praktische Relevanz haben. Z. B. spielt in der Metrik, außer den verschiedenen Formen, die Geschichte, in denen die Formen entstanden, eine wichtige Rolle. Darauf werde ich hier nicht weiter eingehen.

Den weiter unten beschriebenen Formelementen kommt kein bestimmter Ausdruckswert zu. Ihre Aussagekraft erhalten
die Formen erst durch ihren Inhalt. Inhalt und Form bedingen einander. Sie bilden eine dialektische Einheit, wobei dem Inhalt der bestimmende Anteil zukommt. So ist es möglich, dass eine und dieselbe Versform je nach ihrem Inhalt verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten haben kann. Das schließt übrigens nicht aus, dass bestimmte Traditionen der Form einen eigenen Eigenwert schaffen können und sich bestimmte Versarten, für manche Inhalte besser eignen, als andere.

Metrik Definition

Metrik Metriken Definition VersmaßMetrik (grch. metron (Vers)maß) bedeutet: Die Lehre vom Versmaß (Versrhythmik), der schematischen Ordnung, die dem Vers zugrunde liegt. Die Strophe wird durch Angabe der Zeilenzahl bestimmt, ggf. durch Angabe der Untergliederung innerhalb der Strophe und weiterhin durch Angaben über das Reimschema, wenn vorhanden.

Die Verslehre ist von der Natur ihres Gegenstandes her kein in sich abgeschlossener Wissenschaftszweig; sie betrachtet das dichterische Kunstwerk unter den besonderen Aspekt der Versform. Als Ganzes ist sie Teil der Literaturwissenschaft. Es gibt daher keine selbstständige Geschichte der metrischen Formen, weil Entstehung, Entfaltung und Vergehen metrischer Gebilde durch die Gesamtentwicklung der Literatur bedingt, hervorgebracht wurden und werden.

Es gibt verschiedenste Versarten bzw. -formen. Die bekanntesten Versarten sind: Alexandriner, jambischer Fünffüßer, jambischer Vierfüßer, trochäischer Vierfüßer und Fünffüßer, Hexameter, Pentameter; Knittelvers, freie Rhythmen.

Versmaß bestimmen

Im Vers ist der Rhythmus nach ganz bestimmten Gesetzen geregelt. Für jeden Vers lässt sich ein festes Gerippe herausschälen, das in den ihn umgebenden Versen seine Entsprechung findet. Dieses Gerippe wird das Grundmaß genannt, Versmaß oder auch der metrische Rahmen. Ein metrischer Rahmen ist nur dem Vers, niemals der Prosa (oder freien Versen) eigen. Der Rahmen tritt im Vers beim Lesen oder beim Vortrag selten rein hervor, weil man nicht mechanisch skandieren (betonen) darf. Das Grundmaß wird vom freien Rhythmus der Sprache umspielt. Dadurch entstehen innerhalb des Versrahmens mannigfache Abstufungen und Variationen.

Demnach begründen zwei Bestandteile den Vers:

  • Der Aufbau des metrischen Rahmens, des Grundmaßes.
  • Die rein sprachliche Gliederung, die auch als akzentuelle Gliederung bezeichnet
    wird.

Der metrische Rahmen, der das Wesen des Verses bestimmt, ist ein Mischrhythmus. Der Rahmen sowie die akzentuelle Gliederung vereinigen sich. Dadurch ergibt sich der richtige Vortrag: Verse dürfen weder mechanisch skandiert noch als reine Prosa gelesen werden.

Hebung und Senkung in der Metrik

Die kleinste rhythmische Einheit ist der Versfuß. Nun gibt es zwei Möglichkeiten der Betonung. Bei dem Wort „Vater“ wird die erste Silbe betont, die zweite nicht bzw. weniger. In diesem Fall beginnt das Wort mit einer Hebung, welche mit dem Symbol „__“ gekennzeichnet wird. Bei dem Wort „Gedicht“, wird mit einer Senkung begonnen, d. h., die erste Silbe wird nicht (bzw. weniger) betont, während die (Haupt-) Betonung auf der zweiten Silbe liegt. Das Symbol für eine Senkung: „U“.

Verse, die mit einer Senkung beginnen, werden als jambisch bezeichnet. Jambisch bedeutet also: Vers mit Auftakt: U __ U __.
Verse, die mit einer Hebung beginnen, werden als trochäisch bezeichnet. Trochäisch sind Verse ohne Auftakt: __ U __ U.

Wie leicht zu sehen bzw. zu hören ist, handelt es sich bei dem o. g. Gedicht von Goethe (Selbstbetrug) um Jambische Verse, also durchgehend um Verse mit Auftakt.
Ein Versfuß besteht immer aus einer Hebung und Senkung: __ U oder __ UU. Um einen Versfuß zu kennzeichnen, verwendet man symbolisch: „I“. Das dient zur besseren Übersicht, will man sich die Struktur eines Gedichtes ansehen: __ U I __ U I __ U I __ U U I

Abgesehen von der festen Wortbetonung, wie das Beispiel „Vater“ und „Gedicht“ zeigt, gibt es andere Gründe eine bestimmte Betonung zu wählen. Ein weiterer besteht in der Wichtigkeit, die man einem Wort beimisst. Ein wahrscheinlich bekanntes Beispiel:

Er kam gestern (er, nicht sie).
Er kam gestern (gestern nicht heute).
Er kam gestern (ist wirklich gekommen).

Inhaltlich sagen o. g. Sätze dasselbe, aber die Betonung verschiebt jeweils den Blickwinkel.

Ein dritte Möglichkeit die Betonung zu setzen, hängt von rhythmischen Faktoren ab. Je nach Umgebung wird man verschieden betonen müssen: Briefträger – Landbriefträger.

Versmaß: Der Alexandriner

Ich habe mich entschieden nur eine Versart- bzw. -form genauer darzustellen, um ein Beispiel eines konkreten, abstrakten Schemas zu geben. Das reicht für unsere Zwecke, was die Analyse zeigen wird, vollständig aus. Der Alexandriner wurde recht vielseitig verwendet. Er eignete sich sowohl für pathetische, als auch für humorvolle, leichte Inhalte. Der Alexandriner ist ein Viertakter, der aber nur drei Hebungen sprachlich verwirklicht. Er besteht, pro Zeile aus 2 mal 4 Takten, wobei jedoch der 4. Takt pausiert wird. Es gibt allerdings gewisse Übergangsformen, was bei jeder Versart der Fall ist. Auch Formen entwickeln sich weiter.

Der Alexandriner hat folgende Struktur:

U __ U __ U __ (vierter Takt: Pause): U __ U __ U __ (Pause).

O. g. Struktur nennt man vollständig. Der Alexandriner setzt sich aus vollständigen und übervollständigen Zeilen zusammen. In welcher Reihenfolge die Zeilen angeordnet werden, bleibt dem Dichter selbst überlassen. Es sollten jedoch beide darin vorkommen. Eine übervollständige Zeile sieht folgendermaßen aus:

U __ U __ U __ (vierter Takt: Pause): U __ U __ U __ U (Pause).

In der Literatur findet man viele Arten von Alexandrinern. Manche haben nur zwei Zeilen, was sich besonders gut für kurze Sinnsprüche eignet. Viele bestehen aus vier Zeilen pro Strophe. Der klassische Alexandriner hat 6 Zeilen mit folgendem Reimschema: a a b c c b, wobei sich die erste Zeile (a) mit der zweiten Zeile (a) reimt, die dritte Zeile (b) mit der sechsten (b) und die vierte (c) mit der fünften (c).

Beispiel:

Metrik Definition Gedicht Verslehre Hier durch die Schanz und Stadt rinnt allzeit frisches Blut.
Dreimal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flut.
Von Leichen fast verstopft, sich langsam fortgedrungen;
Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest und Glut und Hungersnot,
Daß auch der Seelenschatz so vielen abgezwungen.
(Gryphius, Tränen des Vaterlandes)

Man erhält folgendes Schema:

U __ U __ U __ Pause: U __ U __ U __ Pause
U __ U __ U __ Pause: U __ U __ U __ Pause
U __ U __ U __ Pause: U __ U __ U __ U Pause
U __ U __ U __ Pause: U __ U __ U __ Pause
U __ U __ U __ Pause: U __ U __ U __ Pause
U __ U __ U __ Pause: U __ U __ U __ U Pause

Oben beschriebenes Reimschema wird eingehalten.

Im Weiteren stelle ich eine kleine Analyse der Dichtkunst anhand vier verschiedener Kriterien vor:

Ästhetische Definition_vier Kriterien

Systematizität

Der Begriff Systematizität bezeichnet hier die Kunst „die Vielheit zur Einheit“ zu bringen – bildet also die Struktur.

Form und Inhalt

Metrik Verslehre SprachrhythmusHier müssen beide Bestandteile des Verses, sein metrischer Rahmen (die Form) und der jeweilige sprachliche Inhalt, eine in sich verschmolzene Einheit bilden. Wird das nicht berücksichtigt, besteht die Gefahr, eines inhaltlich seelenlosen Geklapper nichtssagender Verse bzw. einer allzu glatten, schmierigen Versschmiederei leerer metrischer Schemata.

Ein weniger extremes Beispiel: Rote Rosen zieren meinen Garten.

Beim lautem Vorlesen dieser Zeile stellt man leicht fest, dass er klappert. Werden weitere Zeilen genauso fortgeführt, ist es wahrscheinlich, jemanden eher in den Schlaf zu sprechen, als Interesse zu wecken. Das Geklapper kann leicht aufgelöst werden: Rote Rosen blüh’n in meinem Garten. „Zieren“ wird einfach ersetzt durch „blüh’n in“. Die Wirkung ist nun eine völlig andere. Der Inhalt kommt wesentlich lebendiger rüber und macht neugierig auf Kommendes. In beiden Fällen wurde der gleiche metrische Rahmen eingehalten! Die Unterschiede sprechen für sich. Damit will ich nicht behaupten, dass klappernde Verse in der Dichtung niemals vorkommen dürfen. In einigen Gedichten heben klappernde Verse den Inhalt erst hervor, man denke z. B. an den Erlkönig von Goethe:

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind
Es ist der Vater mit seinem Kind…

Man kann den schnellen Galopp des Pferdes direkt hören und nachempfinden, auch, dass es sich um keinen sportlichen Spazierritt handelt, sondern um einen besorgten Vater, der sein Pferd im scharfen Galopp reitet und zur Eile drängt. Auch hier gilt, dass Inhalt und Form nur zusammen die gewünschte Wirkung erzielen. Es sollte daher in der Metrik darum gehen, die Gesetze des Verses behutsam aufzudecken und bewusst zu machen. Nur so kann die Kenntnis des metrischen Rahmens in Verbindung mit dem Inhalt, den ästhetischen Genuss fördern.

Vers und Rhythmik in der Metrik

Auch der Vers bildet in sich eine Einheit und darf nicht einfach auseinandergerissen werden, da die besondere Rhythmik, welche erst mit dem Inhalt (der Füllung) verschmolzen, ein geschlossenes Bild oder besser Komposition abgibt, nicht mehr erkannt werden kann und folglich das Verständnis bzw. die Interpretationen wesentlich oberflächlicher bzw. nicht mehr im Sinne des Dichters erfasst wird.

Beispiel: Eine Welt zwar bist du, o Rom; doch ohne die Liebe wäre die
Welt nicht die Welt, wäre denn Rom auch nicht Rom.

Allein aus der Sprachgebung, ohne die Kenntnis metrischer Formen, ist es schwer, den richtigen Rhythmus herauszufinden. Natürlich spürt jeder, der die Zeilen laut liest, eine gewisse Rhythmik heraus, doch die Unsicherheit beginnt bereits mit der ersten Silbe. Betont man schon das erste Wort „Eine“ (Welt)?, oder soll man, was in der Prosa natürlicher wäre, erst „Welt“ betonen? „Eine Welt zwar bist du …“ Vorausgesetzt, es sind Verse, wäre eine Zeilenabteilung denkbar, wie sie in freien Rhythmen vorkommen könnte – man rupfe die Zeilen auseinander:

Eine Welt zwar bist du,
o Rom,
doch ohne die Liebe
wäre die Welt nicht die Welt,
wäre denn Rom auch nicht Rom.

Einzelne Verszeilen dürfen nicht künstlich isoliert werden, weil ein Vers niemals für sich allein steht, sondern seine genaue Ausformung immer erst im Ganzen erhält. In Wirklichkeit ordnet sich o. g. Beispiel in zwei Verszeilen ein, nämlich einem Hexameter und einem Pentameter, die zusammen ein Distichon bilden:

Eine Welt zwar bist du, o Rom; doch ohne die Liebe
Wäre die Welt nicht die Welt, wäre denn Rom auch nicht Rom.
(Goethe, Aus: Römische Elegien)

Kreatizität in der Metrik

Der Begriff Kreatizität benennt das „Neue“ oder die kreativen Elemente eines bestimmten Werks. Gäbe es dieses Kriterium nicht, würden wir Kopien von wirklich eigenständigen Werken (Originalen) nicht unterscheiden können.

Metrik Versmaß Anwendung Gedicht DefinitionEs gibt viele moderne Dichter, die sich in kein metrisches Korsett mehr zwängen wollen. Daher bevorzugen sie die Form der freien Verse, da sie mehr Möglichkeiten sehen, sich auszudrücken. Hier stellt sich tatsächlich die Frage, ob bei einem festen metrischen Rahmen noch Neues entstehen kann und, ob es wirklich stimmt, dass freiere Formen mehr Möglichkeiten offenhalten. Ich habe mir viele Gedichte laut vorgelesen, die einen festen metrischen Rahmen haben und konnte nicht feststellen, dass z. B. bei Goethe der Inhalt langweilig, redundant und starr wirkte. Im Gegenteil – er lebte, fast vergleichbar mit einem Tanz, in welchem die Partner zwar eingeübte Schritte (das Schema) einhielten,
jedoch eine eigene individuelle Art der Bewegung mit integrierten und damit eine Menge von möglichen Variationen.

Ich möchte nicht behaupten, dass eine freie Verswahl weniger Variationsmöglichkeiten bietet als eine vorgegebene Rhythmik. Das ist mit Sicherheit nicht der Fall. Es empfiehlt sich jedoch für jeden, der die Dichtkunst erlernen will, sich an metrischen Formen zu orientieren. Um im Beispiel zu bleiben: Eine freie Form des Tanzes zu kreieren, ist wesentlich komplexer und anspruchsvoller, als sich an bestehende Regeln zu halten. Diese Regeln sind eine Voraussetzung für das Erschaffen neuer und variabler Tänze. Die Partner, in unserem Fall der Inhalt und die Form müssen sehr geübt sein, um ein geschlossenes Bild abgeben zu können. Diese Art zu tanzen, ist nur für Fortgeschrittene, welche die Regeln des Tanzes kennen, möglich. Ein Anfänger hat hier keine Chance.

Ich stelle hier ein Gedicht von Theodor Storm vor, dem es gelingt im Rhythmus der ersten Strophe den einförmigen und in seiner Stimmung leicht bedrückenden Wellenschlag des ständig anrauschenden Meeres einzufangen, was bei einem freien Rhythmus nicht möglich wäre:

Die Stadt

Am grauen Strand, am grauen Meer
Und seitab liegt die Stadt;
Der Nebel drückt die Dächer schwer,
Und durch die Stille braust das Meer
Eintönig um die Stadt.

Hier wechseln sich Hebung und Senkung regelmäßig ab. Jede Zeile endet mit einer Hebung, während die darauf folgende mit einer Senkung beginnt, sodass die Zeilen miteinander verbunden werden und dadurch die Monotonie der Gesamtstimmung stark unterstrichen wird. Doch es tauchen gewisse Störungen auf, welche in der Natur vorkommen: Nicht jede Welle rollt gleichmäßig an, bricht und verebbt dann wieder. Das fällt vor allem bei der letzten Zeile auf.

Normalerweise beginnt das Wort Eintönig mit einer Hebung und endet mit einer Senkung (__ U U). Im vorliegendem Gedicht jedoch fällt die Betonung auf die zweite Silbe (U __ U). Beseitigt man die kleine metrische Unregelmäßigkeit, indem man „Eintönig“ einfach durch andere Worte ersetzt: „Und durch die Stille braust das Meer ganz ruhig um die Stadt“, kann die Kunst des Dichters erfasst werden. Durch diese kleine metrische Änderung verlieren die Verse viel von ihrer ursprünglichen Ausdruckskraft. Betrachtet man nun die gesamte Rhythmik des Verses, steigt sie beim lauten Lesen bis zum Wort Meer (in der vorletzten Zeile), ständig an, bleibt mit „ein-„ noch in der Schwebe und von „-tönig“ an, löst sich die Spannung, die Strophe klingt voll aus, die Welle bricht sich und verebbt am Strand.

Doch das Gedicht ist hier nicht zuende. Es folgen zwei weitere Strophen:

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
Kein Vogel ohn‘ Unterlaß;
Die Wandergans mit hartem Schrei
Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei,
Am Strande weht das Gras.

Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
Du graue Stadt am Meer;
Der Jugend Zauber für und für
Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
Du graue Stadt am Meer.

Obwohl ein neuer Inhalt hinzugekommen ist, lässt sich in beiden Strophen das Meeresrauschen immer noch heraushören, wenn auch in abgeschwächter Form. Hier wird deutlich, dass der Grundrhythmus nicht einfach mechanisch wiederholt wird, sondern mit einer neuen inhaltlichen Komponente variiert und sich der neuen Stimmung anpasst. Das Gesamtbild der grauen Stadt wird vervollständigt. Die anfänglich monotone Stimmung wird von Vers zu Vers gelöster, obwohl
die Grundstimmung beibehalten wird. Die letzte Strophe klingt fast verspielt, trotz der noch immer verbleibenden Eintönigkeit im Hintergrund.

Dynamizität

Der rhythmische Klang eines Gedichtes wirkt sich sehr stark auf den ästhetischen Genuss aus. Wir fühlen uns berührt, energetisiert, dynamisch.

Rhythmik und Sprachmelodie

Zwischen Musik und Poesie bestand schon immer eine enge wechselseitige Beziehung. Metrik Metriken und Rhythmik GedichtEin großer Teil von Dichtungen, angefangen vom Minnesang bis hin zum Volkslied, lebten vom gesungenen Vortrag, sodass Musik und Wort von vornherein eine Einheit bildeten. Andere Gedichte wurden für die Vertonung geschaffen oder wurden nachträglich vertont.

Doch es gibt zahlreiche Gedichte, dessen Sprachmelodien allein im gesprochenen Vortrag zum Ausdruck kommen. Eine bloße sprachliche Gestaltung des Inhaltes verknüpft mit einer bestimmten Struktur genügt nicht mehr, sondern ein dritter Faktor, die innere Melodie, spielt hier eine zentrale Rolle. D. h., die eigentümlich-suggestive Musikalität der Verse bedarf keiner zusätzlichen musikalischen Komposition, sondern sie wird allein vom Versrhythmus und Klang der Sprache getragen.

Die innere Melodie eines gelungenen Kunstwerkes setzt stets eine inhaltliche Bindung voraus:

Singet leise, leise, leise,
Singt ein flüsternd Wiegenlied,
Von dem Monde lernt die Weise,
Der so still am Himmel zieht.

Singt ein Lied so süß gelinde,
Wie die Quellen auf den Kieseln,
Wie die Bienen um die Linde
Summen, murmeln, flüstern, rieseln.
(Clemens von Brentaro)

Auch ohne die Vertonung des Gedichtes zu kennen, singt es sich fast wie von selbst. Das liegt u. a. an den kurzen Abständen der Hebungen und Senkungen, die das Liedhafte unterstreichen, aber als alleinige Erklärung für den lebendig gestalteten Rhythmus in seiner ganzen Klangfülle, nicht zufriedenstellen. Hier ist es angebracht den Rhythmusbegriff genauer zu charakterisieren. Ein ständig gleichmäßiger Wechsel von gegeneinander abgestuften Taktteilen wirkt meist monoton-automatisiert bzw. mechanisch. Er kann ein echtes rhythmisches Erlebnis geradezu zerstören.

Ein lebendiger, dynamischer Rhythmus entsteht nur dann, wenn ein Wechsel frei variiert wird. Dazu gibt es vielfältige Mittel. Zum Beispiel können sich die Abstände von einer Hebung zur anderen leicht verschieben, die Schwereverteilung der Silben wird sich nie vollständig gleichen. Unterschiedliche Tonhöhen und Sprechmelodien tragen zur weiteren Auflockerung bei. Ebenso ist der Inhalt der Silben und Wörter, ihr spezifischer Klang und Tonfall wichtig. Die Variation in vorbestimmter Gleichheit ist daher ein wesentliches Merkmal des Versrhythmus. Den Rhythmus zu hören und zu erleben, bedeutet ihn hervorzubringen. Es handelt sich um eine Aktivität, eine Tätigkeit und weniger um ein „Hinnehmen müssen“.

Der Reim

Der Reim ist kein notwendiger Bestandteil eines Verses bzw. eines Gedichtes. Es gibt einige Versarten, wo Reime unerwünscht sind. Bei anderen, z. B. der Alexandrine, ist er festgelegt. Unter einem Reim versteht man den Gleichklang zweier oder mehrerer Lautgruppen von ihrem letzten betonten Vokal an. Entscheidend ist der Klang, also das Ohr und nicht das Schriftbild (Auge). Verse, die sich reimen, bleiben besser im Gedächtnis und können im Gedicht einen humorvollen, oder auch dramatisch, traurigen Akzent setzen. Folgendes Beispiel steht für den ersten Fall. Es handelt sich um meinen ersten Alexandriner:

Die Hufe klappern laut, auf nassen leeren Straßen.
Gehörnte Wesen wild, um enge Ecken rasen.
Der Ort verschlafen klein, ein Schrei durchdringt die Nacht.
Des Bockes Hörner spitz, gesenkt, gezielt zum Stoße.
Zum Angriff schnaubend heiß, durchdringt die feuchte Hose.
Entblößte Hintern prall: Der Mensch ist aufgewacht.

Tranzdendizität: Die Gemeinschaft

Die Tranzdendizität eines ästhetischen Werkes weist über sich selbst hinaus. Es wirkt z. B. auch in Gemeinschaften. Ein Gefühl für Rhythmus zu entwickeln und zu erleben, hat stark gemeinschaftsbildenden Charakter. Rhythmik kann in Gemeinschaften entstehen. Bei bestimmten Arbeiten z. B. beim Dachdecken, im gegenseitigem Zuwerfen der Ziegel, entwickelten wir eine eigene Rhythmik, die jedermann angenehm war. Sie sparte nicht nur den physischen Kräfteverbrauch des Einzelnen, sondern ermöglichte auch die gleichzeitige Kraftaufbietung aller Beteiligten auf eine Zeitdauer von 8 bis 10 Stunden, mit geringfügigen Pausen. Gleichzeitig zwingt ein gemeinsamer Rhythmus wegen
seiner allgemeinen Verbindlichkeit zu gleicher Arbeitsleistung und steigert (oder mindert) die Arbeitsintensität.

Trotz des rhythmisch vorgegebenen Tempos, bestand genügend Spielraum für Variationen, beispielsweise wenn einer von uns etwas schneller ermüdete, konnte der Abstand zu demjenigen etwas vermindert, bzw. weicher geworfen werden. Der rhythmische Wechsel war in diesem Fall nicht von vornherein vorhanden, sondern die konkrete Abstufung, die Variation in vorbestimmter Gleichheit, wurde erst durch uns geschaffen. So sind auch andere Tätigkeiten z. B. Tanzen, Singen niemals völlig monoton, sondern – und darin zeigt sich die fortschreitende ästhetische Entwicklung – sie werden immer kunstvoller und variabler.

Ähnlich verhält es sich mit Versen, die erst (und immer wieder) durch das gesprochene Wort lebendig werden. Dazu muss man kein Berufssprecher werden. Es genügt sich den Inhalt zu vergegenwärtigen, sich dem Inhalt mit all seinen Sinnen zu öffnen und den Vers oder Text für sich selbst sprechen zu lassen.

Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.
(Storm, Die Nachtigall)

Cassandra B.