Was ist „Zeit““ in unserem Erleben?“

Zeit im Erleben von MenschenWie können wir das Phänomen Zeit fassen und diese Erkenntnisse für uns nutzbar machen? Eine Frage, die sich die Philosophen unserer Vergangenheit immer wieder gestellt haben, die wir hier versuchen zu beantworten und die vielleicht in Zukunft überflüssig wird, wenn die Menschheit einmal ihre Gewohnheit Raum und Zeit als voneinander unabhängig zu betrachten aufgegeben hat.

Das alles ist doch ganz einfach: Zeit ist das, was man auf einer Uhr ablesen kann – oder? Es gibt tatsächlich kaum ein anderes Phänomen des alltäglichen Lebensvollzugs, das einerseits so selbstverständlich in unseren Alltag integriert ist.

Andererseits gibt es wening was beim genauen Hinsehen so schwierig zu erfassen ist, wie die Zeit. Eine Bezugnahme auf die Zeit ist für das Bewußtsein nichts außergewöhnliches.

Wir sprechen von gestern, heute und morgen, und fragen, welche Zeit es gerade ist.

Wir vergewissern uns, daß die Zeit noch reicht, dieses oder jenes anzufangen und zu tun, wir stellen fest, daß wir „keine Zeit mehr haben“, oder daß unsere Frist abgelaufen ist. Wir feiern Geburtstage und erinnern uns an Dinge und Ereignisse, die zu unserer Zeit stattgefunden haben, oder von denen wir anderweitig gehört haben. Für morgen und die Zukunft machen wir Pläne und hoffen, daß unsere Erwartungen sich erfüllen.

Und doch stellen wir selten die Frage danach, was Zeit denn nun eigentlich ist, wie das Phänomen Zeit sich definieren bzw. charakterisieren läßt.

Mit „Zeit ist das Feuer in dem wir verbrennen.“ hat sich der sonst so logische Vulkanier Spock aus der Affäre gezogen, als er in einer Folge von Enterprise nach einer Erklärung für dieses Phänomen gefragt wurde. Betrachten wir also zunächst einmal was unsere irdischen Logiker dazu zu sagen haben, wie Charles S. Peirce, der hierzu eine interessante Perspektive entwickelt hat.

Um das Phänomen Zeit zu erklären, müssen wir erst klären was Bewußtsein ist, denn hier ist die Zeit die Form des Bewußtseins. Bewußtsein entsteht durch die dyadische (auf Dualität basierende) Verbindung von Qualitäten. Es ist sozusagen an der Schnittstelle von Wahrgenommenem (Sinnesqualität, Objekt) und Wahrnehmenden (Empfindungsqualität, Interpretationen, Subjekt) oder etwas präziser: Etwas (z.B. ein Objekt aus der äußeren Welt) affiziert (erregt) unsere Sinne (z.B. ein Lichtstrahl fällt auf unsere Netzhaut im Auge).

Es bildet sich ein Perzept, ein unmittelbares Objekt, welches im Gegensatz zum dynamischen oder realen Objekt „innerhalb“ des Betrachters liegt. Es ist eine erste Reaktion unseres Nervensystems auf eine Sinnesreizung.

Dieses Perzept nehmen wir als Empfindungsqualität wahr (z.B. hell, rot), in welcher die Flut der auf uns einströmenden Reize selektiert wird. Diese Empfindungsqualitäten finden nun ihrerseits in einem Wahrnehmungsurteil ihre erste Interpretation (es kommen z.B. weitere Eigenschaften/ Empfindungsqualitäten hinzu, wie teilweise rund, teilweise eckig, sich von einem Hintergrund abhebend, etc… und wir interpretieren diese Qualitäten als – sagen wir mal – Brustwarze).

ZeitempfindenEs sei angemerkt, daß sich dies alles vor der Grenze des Bewußtseins abspielt – sehen wir einmal von höheren Stufen der Meditation und Bewußtheit ab. Erst bei allem, was sich nach den Wahrnehmungsurteilen abspielt, können wir von Bewußtsein sprechen.

Bewußtsein entsteht durch eine Beziehung von Interpretationen. Ich interpretiere etwa das grüne Etwas vor mir als Ampelmännchen, erinnere mich an meine Interpretation des Objekts dieses Zeichens (ich darf jetzt über die Straße gehen), setze diese beiden Interpretationen miteinander in Beziehung und setze das Ergebnis um in Handlung (ich überquere die Straße).

Dann fällt vielleicht die Bordsteinkante in meinen Aufmerksamkeitsfokus (genauer: das was ich im Wahrnehmungsurteil als Bordsteinkante interpretiere) und setze dies wiederum in Beziehung mit weiteren Interpretationen.

Es entsteht dadurch ein kontinuierlicher Fluß von Inhalten, deren kleinste Einheit eben das Wahrnehmungsurteil ist. So können auch Gedankenzeichen (Ideen) Gegenstand von Bewußtsein sein, im Gegensatz zu allein (äußeren) Wahrnehmungen. Bewußtsein ist damit die Einheit aller möglichen realen Verbindungen aller Zeichen in einem Gedankenzeichen.

Zeit ist nun ein Kontinuum der Folge von Empfindungsqualitäten. Die Zeit ist hier die ordnende Größe, welche die verschiedenen Eindrücke, also Empfindungsqualitäten oder Interpretationen in einen kausalen Zusammenhang bringt. Das Bewußtsein ist Inhalt des selben Phänomens von welchem Zeit die Form ist.

Ist Zeit nun real oder wie Kant sagt nur eine Anschauung? Wir wollen unter Realität alles das verstehen, was unabhängig davon ist was ein Mensch darüber denkt wie es ist. Zeit ist deshalb real, weil sich ihr Einfluß der Kontrolle unseres Denkens entzieht.

Wenn ich mich um 16.00 Uhr mit einigen anderen treffe, dann ist dieser chronologische Zeitpunkt real. Ich kann darüber denken was ich will, es läßt sich präzise messen (zumindest bis sich die Zeit bei 10 hoch minus 33 Sekunden in den Quantenunschärfen verliert), ob ich zu spät gekommen bin oder nicht. Und wenn ich zu spät komme werden mich die anderen ob meiner Unpünktlichkeit rügen.

Andererseits ist die subjektive Zeit (die sogenannte York-Zeit) im Gegensatz zur Eigenzeit (die Zeit, die mit Uhren gemessen wird) die für Leben wichtigere, in gewissem Sinne existentiellere Zeit. Wenn wir Leben mit Bewußtsein gleichsetzen, dann hat eine Person, die zehnmal so schnell denkt wie eine andere Person, bei gleichem chronologischen Alter, zehnmal länger gelebt! Wenn jemand also die Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten besitzt, viele Wahrnehmungsurteile in Bezug zueinander zu setzen, so verarbeitet er mehr Informationen, als andere in der gleichen Eigenzeit.

Nun gehört zum Leben natürlich mehr als Bewußtsein, so etwa Handlungen oder anderes Verhalten. Aber auch hier gilt: Handele ich effektiver, so habe ich in dieser Weise länger gelebt.

In der Psychologie steht das Zeiterleben im Vordergrund, die York-Zeit: Als Erinnerung (Vergangenheit), momentanes Denken und Handeln (Gegenwart) und Erwartung (Zukunft). Die Zeit wird nicht als gleichmäßig empfunden.

Bei dieser subjektiven Zeiteinschätzung kommt es wesentlich auf das jeweilige Aktivierungsniveau des Menschen an; eine Niveauerhöhung führt zur Unterschätzung der objektiven (chronometrischen) Zeit, man meint also, daß weniger Zeit vergangen sei, als es tatsächlich der Fall ist.

Eine geringe Motivation für das aktuelle Geschehen hingegen (Langeweile) oder hohe Motivation für eine zukünftige Tätigkeit bei augenblicklicher Untätigkeit (Warten) führt zur Überschätzung derselben.

So können einem Minuten wie Stunden vorkommen, wenn man beispielsweise darauf wartet, daß eine zutiefst langweilige Vorlesung endlich vorbei ist, umgekehrt kann ein Tag im Flug vergehen, an dem man sich mit einem spannenden Thema beschäftigt.

Dies läßt sich auch auf längere Zeiträume, welche beispielsweise ein Menschenleben betreffen übertragen. Ein amerikanischer Psychologe hat bei einer Versuchsreihe festgestellt, daß Menschen ihrem persönlichen Zeitempfinden nach die Mitte ihres Lebens etwa auf das 18. Lebensjahr fixieren, gleichgültig, ob sie 40, 60 oder 70 Jahre alt sind. Die ersten 18 Jahre ihres Lebens erscheinen ihnen genau so lang wie der Rest. Wie kommt es zu so einem Ergebnis?

In der Kindheit lernt ein Mensch die Grundlagen, um später sein Leben mehr oder weniger funktional gestalten zu können. Von dem Zeitpunkt seiner Geburt an, wo er noch hilflos, und von anderen umfassend abhängig ist, entwickelt er sich dahin, daß er eigenständig in seinem Umfeld existieren kann. Wenn man bedenkt, wie viele Informationen er verarbeiten muß, um dieses Wissen zu erlangen, kann man davon ausgehen, daß die ersten 18 Lebensjahre angefüllt sind mit neuen Erfahrungen und Lernprozessen, angefangen von den ersten Verständigungsversuchen eines Kleinkindes bis zum Erwachsenenalter.

Für Kinder ist jeder Tag ein neues Erlebnis, ein Jahr ist für sie ein Zeitraum, den sie in ihrer Erlebenswelt kaum überblicken können. Viele neue Erfahrungen zu machen, und daraus Verhaltensregeln für das eigene Leben abzuleiten, scheint also eine wichtige Rolle, bei der subjektiven Zeiteinschätzung zu spielen.

Wenn wir ein „normales“ Menschenleben betrachten, ist es tatsächlich so, daß man ab dem 18. Jahr kaum noch substanziell neue Verhaltensgewohnheiten hinzu lernt. Wenn das Leben erst einmal eingerichtet, die berufliche Ausbildung abgeschlossen ist, werden neue Verhaltensgewohnheiten kaum noch entwickelt, je älter der Mensch wird, desto schwerer fallen ihm solche Veränderungen.

Ein Beispiele hierfür ist ein Mensch, der seinen Schriftverkehr noch mit einer Schreibmaschine schreibt, weil er sich auf seine „alten Tage“ nicht mehr an einen Computer gewöhnen will. Glücklicherweise ist es jedoch auch in späteren Jahren noch möglich, sich weiterzuentwickeln und neue Verhaltensgewohnheiten zu erlernen.

Was läßt sich hieraus nun für das praktische Handeln ableiten? Carpe Diem et memento mori? Sicher ein wenig allgemein und ungefähr so neu wie der Buchdruck. Aus den obigen Betrachtungen können wir aber mit Sicherheit ableiten, daß wir einen nicht zu leugnenden Einfluß auf das Empfinden und die Strukturierung der Zeit haben.

Wir können auf der einen Seite unsere Zeit „vertrödeln“, nichts oder wenig neues lernen, planlos und stumpf in den Tag hinein leben und somit ein mittelmäßiges und subjektiv kurzes Leben führen oder andererseits kreativ neues Verhalten ausprobieren (z.B. eine Bewußtheitsübung praktizieren oder jeden Tag ein neues Gericht kochen oder Anregungen aus Artikeln tatsächlich mal in die Tat umsetzen).

Neugierig, forschend die Welt erkunden, dabei neue Differenzen kennen lernen (etwa durch Yoga, Meditation oder das Studium der Philosophie Kants…) oder mutig neue Erfahrungen machen (vielleicht eine Bergtour durch den Himalaja?) und damit ein langes und erfülltes Leben genießen.

Lucie Baumgarten