Selbstmord im Auftrag des Propheten …

… oder die Hintergründe islamischen Denkens

Ein wahrlich kleines Bändchen, das aber eine Perle an Wissen und Weisheit darstellt. Der „Heilige Krieg“ und islamische Selbstmordakte bilden seit dem 11.September 2001 ein Horrorszenario, das in der westlichen Welt Angst und Schrecken verbreitet. Um dies wirklich gänzlich zu verstehen muss man sich mit der Geschichte des Islam auseinandersetzen, was sicherlich spätestens seit den jüngsten weltpolitischen Entwicklungen sehr viele nachgeholt haben dürften. Aber selbst dann bleiben viele Fragen offen, die man einfach leicht übersieht.

Der Autor der kleinen Schrift schließt da eine Lücke, denn als fundierter Kenner des eigentlich islamischen Denkens berührt er Winkel, die weit hinter den Schleiern jeglicher oberflächlicher Geschichtsbetrachtung liegen. Die Geschichte ist eigentlich ja bekannt und begann 680 ebenfalls bei Kerbala im heutigen Irak. Der Enkel des Propheten und dritte Imam der Schiiten stand dem Kalifen Yazid gegenüber und diese gewaltsame Auseinandersetzung teilte die Muslime in Sunniten und Schiiten.

Zuvor hatte die Schia, die „Partei“, den Schwiegersohn des Propheten Mohamed zum göttlich vorgesehenen Führer erklärt, während die Sunniten das in Damaskus residierende Kalifat akzeptierten. Der Führer der Schiiten Ali war erdolcht, sein Sohn vergiftet und im Kalifat sah man Tyrannei und Verrat an Mohamed. Der zweite Sohn Alis, Hussein, zog von Mekka nach Kerbala um das Erbe des Großvaters zu retten. Militärisch hatten sie wenig Chancen und Hussein forderte seine Gefolgsleute auf sich zu retten um dem bevorstehenden Massaker zu entfliehen. Diese weigern sich und sterben allesamt den Märtyrertod.

Darin liegt die Quelle des religiösen Selbstmord-Gedankens, der in der Geschichtsschreibung aller islamischen Gruppierungen seitdem beschrieben und diskutiert wird. Die Schiiten weinen noch heute wenn sie über dieses Ereignis sprechen und in der darauffolgenden Geschichte sind alle zwölf späteren Imame der Schia, also diejenigen religiösen Führer die in der direkten Nachfolge des Propheten stehen, ermordet worden. Bis auf den letzten, den „Verborgenen“. Symbolisch verkörpert ist das gesamte spätere Morden allerdings in der Person Husseins alleinig geblieben, der das Gerechte, Unschuldige personifiziert und sogleich das Aufbegehren gegen Unterdrückung und Tyrannei. Gerächt und wieder gut gemacht wurde das erst wieder in der iranischen Revolution von 1978. In Persien unterzeichnet man Briefe nicht mit Floskeln wie „Herzliche Grüße“ sondern mit „Dein Opfer“.

Die Passion Husseins – nicht unähnlich der des Christus – ist der Gründungsmythos im kulturellen Gedächtnis der Schiiten. Die Sunniten stellen für sie den Sündenfall der Menschheit dar, den Verrat an Mohammed und die Wiedereinführung der vorislamischen Adelsherrschaft. Die Trauer spiegelt sich noch heute in den schiitischen Ritualen, die ähnlich den christlichen Geißlern des Mittelalters, martialische Selbstverletzungen einschließen.

Im Iran hatte das schon vor dem Islam Tradition. Auch in der zoroastrischen Religion gab es die Passion und den Märtyrertod von Helden und dies verknüpfte sich genial mit der schiitisch islamischen Religion ab dem dritten Imam. Einige ihrer Motive stammen noch direkt aus den babylonischen Kulten um Adonis und Tammuz. Das Leiden der Schiiten ist dasselbe wie das der Christen um den Tod ihres Messias und jeder Schiit trägt die Schuld am Tode Husseins in sich.

Christen und Schiiten sind nach dieser Betrachtung sehr verwandte Religionen. Bei den Sunniten dagegen hat Leiden keine zentrale Bedeutung in der Religion, jeder Mensch gilt als gut und schuldlos geboren. Der Kult der Schiiten, in welchem der irdische Tod keine Rolle mehr spielt, ist der Nährboden für die heroischen Opferkämpfe, dessen Kraft schon die Römer, später der iranische Schah und auch die Iraker verspürten, als sie im Iran einmarschierten.

Damit ist auch Israel und vielleicht auch Amerika mit dem World Trade Center-Attentat konfrontiert. Auf diesem Nährboden entstand im 11.Jahrhundert der Kult der Assasinen, mit denen das Phänomen des Terroristen, der sich mitsamt seinem Opfer in den Tod reißt, in die Geschichte des Islam eingeführt wurde. In heutiger Zeit haben Kinder und Jugendliche im ersten Golfkrieg der Irakis das Fürchten gelehrt und 1983 führten erstmals libanesische Hisbollah ebenfalls diese Form der Selbstmordattentate ein.

Deren Attentate führten dazu, dass die USA aus Beirut hinausgedrängt werden konnten. Ohne die Mentalität dieses Märtyrertums hätte 1997 Mohammed Chatamis im Irak nicht die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Mit seinem schwarzen Turban weist er sich als Nachfahre des Propheten aus und steht in einer Reihe mit allen schiitischen Imamen.

Es wäre aber dennoch zu vereinfacht Selbstmordattentate zwangsläufig für den festen Bestandteil des schiitischen Märtyrerkults zu halten. Die dem Glauben innewohnende Opferbereitschaft setzt allerdings gewaltige Kräfte frei. Schaut man aber genau hin – zu den im Westen verbreiteten Meinungen über eine nahtlose Linie vom Hassan ibn Sabah der Assasinen bis hin zu Osama Bin Laden und den eventuellen Attentaten des 11.September – erweisen die sich als nicht schlüssig.

Der schiitische Märtyrerkult hat sich in Opposition zur islamischen Mehrheit herausgebildet. Seine Elemente und Rituale sind dem sunnitischen Islam wesensfremd. Was wir über die Ideologie der Terroristen wissen ist aber sunnitisches Denken. Die Schiiten gelten bei ihnen als Ketzer und 1997 haben die Taliban deswegen Tausende von Hazara-Schiiten massakriert.

Viele Afghanen – und insbesondere die Hazaras selbst – haben Bin Laden persönlich dafür verantwortlich gemacht, die Taliban gegen die Schiiten aufgehetzt zu haben. Gelten diese doch dem ideologischen Umfeld von al-Quaida als „schlimmer als Juden und Christen!“ Die Taliban wie auch die vorherigen afghanischen Mudschahedin haben im Kampf stets auf die Vermeidung eigener Verluste geachtet.

Sie sind religiös weit entfernt von jedem Gedanken des Opfertodes. Selbstmord und Selbstmordattentate widersprechen dem afghanischen Ehrenkodex und deswegen war auch der Mord an Schah Masoud, dem ärgsten Gegner der Taliban, nicht verhindert worden. Mit allem hatte man gerechnet, aber nicht mit einem Selbstmordattentat. Eine neue Form des Terrorismus ist die Selbstopferung nicht. Man kannte sie zwar wenig aus der islamischen Welt, aber sehr wohl aus Japan, das dem ganzen ja seinen Namen „Kamikaze“-Aktion gegeben hat.

Auch am Ende des Zweiten Weltkrieges setzte die deutsche Wehrmacht solche Kamikaze-Flieger ein. Die Talimen im Befreiungskampf um Sri Lanka waren erfolgreich damit. Aber das galt bis vor wenigen Jahren nicht als Mittel in der arabischen Welt. Sunniten machen das heute noch nicht und auch die Schiiten hätten sich vor zwei Jahrzehnten keinesfalls eine Bombe umgeschnallt, um diese in einem Kaufhaus zu zünden.

Die Idee des Opfertodes war eher in der Art, sich todesverachtend und ohne Waffen dem Gegner gegenüberzustellen. Damit verbunden war allerdings die Idee dadurch direkt ins Paradies einzutreten. Die Assasinen waren in der islamischen Geschichte, mit ihren esoterisch-apokalyptischen Vorstellungen vom Jüngsten Gericht, eine bislang nicht wiederkehrende einmalige Ausnahme geblieben.

Die ersten arabischen Selbstmordanschläge der Hizbollah – im Konflikt mit Israel – gingen von der Syrischen Nationalistischen Baath-Partei aus. Und das waren wie im heutigen Irak größtenteils arabische Christen. Das erste Attentat der Hizbollah, das später von einem Schiiten ausgeführt wurde, stieß auf heftigste Ablehnung bei fast allen schiitischen Autoritäten. Denn im Koran steht das Verbot sich selbst umzubringen.

Dass heute überall Muslime bereit sind ihr Leben zu opfern, um möglichst viele Gegner dabei zu töten, kommt also historisch nicht aus der islamischen Religion. Erst in den achtziger Jahren begannen die Lehrer – des späteren Osama Bin Laden – dies zu propagieren und sie versprachen, daß sich der Gläubige dadurch der 72 paradiesischen Jungfrauen versichern könne.

Dies hatte Einfluss auf die Sunniten, Politik und Religion wurde mit sexuellen Sehnsüchten verknüpft. Die Al Quaida ist einwandfrei eine politisch religiöse Sekte mit gebildeten Menschen, die mit dem Westen vertraut sind. Der heutige Führer der Radikalislamisten in England, Abu Hamza, arbeitete zuvor als Türsteher eines Londoner Bordells.

Auch Osama Bin Laden hatte eine Eliteschule in England besucht und war später eine bekannte Figur des Nachtlebens von Kairo und Beirut. Die angeblichen Attentäter des 11.September stammten durchweg aus einer verwestlichten Oberschicht und waren in den westlichen Ländern vollständig integriert. Also keine fundamentalistisch Ungebildeten, die aus den Hinterhof-Koranschulen stammen, wie uns manche Politiker glauben machen wollen.

Deswegen ist es einerseits sehr fraglich, ob sunnitische Leute wie Mohammed Atta wirklich auch die Attentate begangen haben könnten. Ihr Bildungsniveau könnte aber auch gerade dazu geführt haben, dass sie archaischen Reizen unterlagen. Möglicherwiese griffen sie zu Methoden, die eigentlich der häretischen schiitischen Tradition zugeordnet sind und mit den zoroastischen und katholischen Ursprüngen mehr gemeinsam haben, als das sunnitische Denken.

>Mit dem Anfang der Geschichte um den Märtyrer Hussein hat das aber nichts mehr zu tun. Es ist etwas ganz neues, das historisch in die Moderne gehört. Und diese Philosophie begann mit Nietzsche. Es ist sein Kerngedanke des aktiven Nihilismus, der da zum tragen kommt und der schon vom Faschismus aufgegriffen worden war. Es gibt niemanden, der sich für die Attentate verantwortlich erklärt hat, keine Konzepte, keinerlei Forderungen.

Nicht einmal Bin Laden hat sich als „Verantwortlicher“ bezeichnet. Der heutige absolute Feind bleibt metaphysisch abstrakt.und die USA spielen dieses Spiel bereitwillig mit. Menschen wie Bin Laden werden ungeachtet ihrer Biografie zu Phantombildern hochstilisiert. Bin Laden war über Nacht der Hauptgegner der westlichen Welt, ohne je Manifeste veröffentlicht zu haben, eine Doktrin zu vertreten – bzw. nicht mal vage umrissene Lehre öffentlich kundzutun.

Er ist ein Ikon, dessen Konterfei T-Shirts und Unterwäsche ziert. Er ist kein Fanatiker, er spricht leise und bedacht. Er spricht in einfachem Arabisch über das Leid der Palästinenser, die Rolle der amerikanischen Außenpolitik und das Gefühl vom Westen ständig erniedrigt zu werden. Das versteht man in der gesamten arabischen Welt. Er ist ein Held, denn seine Position ist mit der militärischen Überlegenheit des Westens nicht vergleichbar.

Er wurde zu einem Markenzeichen. Der neue Terrorismus ist ein völlig anderer als der bisherige. Bisher bekannte man sich zu Attentaten, verfolgte bestimmte politische Ziele. Jetzt geht es um nichts mehr. Es ist eine „Kriegserklärung“, aber niemand weiß, wer denn den Krieg erklärt hat und wem. Den USA, dem Westen, dem Christentum, dem Kapitalismus ?

Vieles spricht für religiöse Motive, aber man weiß es nicht in Wirklichkeit. Es ist Nietzsches Nihilismus „Es fehlt die Antwort auf das Warum“, sie wird bewusst nicht gegeben. Es ist der „Wille zum Nichts“, die Philosophie der Zerstörung, „alles ist wert zugrunde zu gehen“, man wehrt sich gegen sich selbst wie auch die ganze Welt. Wer wie Nietzsche das Nicht-Sein für besser hält begeht auch diese Konsequenz. Erlösung ist durch Aufgabe zu gewinnen.

Nietzsche sprach vom Privileg der Menschheit sich selbst durchstreichen zu können wie einen missratenen Satz. Dies ist wichtig hier einzufügen, aber natürlich ist das sehr oberflächlich aus dem Kontext der Philosophie Nietzsches gerissen. Nietzsche war einfach prophetisch und wie er es meinte, dachten viele. „Liebend untergehen“ (Hölderlin), „das tiefste Glück des Menschen besteht darin geopfert zu werden“ (Ernst Jünger). Es folgten Oswald Spengler und dann irgendwann auch die Idee des „totalen Krieges“.

All das was jetzt aktuell wieder passiert gehört also zur Moderne. Auch wenn es aus der Tradition stammt. Es hat mit der realen Geschichte der sunnitisch-arabischen Welt genauso wenig zu tun wie die Walhalla-Mythologie der Nazis mit der realen deutschen Geschichte zu tun hatte.

Die Täter sind auf der Suche nach dem Reinen und Schönen und fühlen sich angezogen von der europäischen Romantik. Mit den Assasinen hat das alles nichts zu tun. Sie sind in der arabischen Welt unbedeutend und vergessen und werden nur – von den romantischen und Mythen liebenden Westlern – als Idee am Leben gehalten.

Westliche Intellektuelle sind auch die einzigen Pilger, die nach Alamut reisen. Im Islam ist das kein Wallfahrtsort. Für den Westen ist das was passiert nicht einfach nachzuvollziehen, deswegen tat man sich auch schwer sich einzugestehen, dass die auf die Attentate des 11.September folgenden Anthrax-Anschläge nicht islamischen Ursprungs waren, sondern der eigenen, rechtsradikalen Szene zugeordnet werden mussten.

Diese sind im gleichen Kampf wie die Al Quaida: gegen das politische ökonomische intranationale System bestehend aus den Juden, den Banken und den geheimen Führern der Vereinten Nationen. Der bekenntnislose Terror richtet sich gegen eine metaphysische Übermacht, gegen das „Empire“. Und dieses spielt mit. Der amerikanische Präsident Bush, der die Bereitschaft einer Viertklässlerin lobt, ihm ihren „Dad“ zu übergeben ist den Äußerungen der muslimischen Märtyrerfamilien völlig identisch.

Die Angriffe gehen gegen abstrakte Symbole und damit war das Attentat auf das World Trade Center angesichts des Medienspektakels für ein Milliardenpublikum inszeniert ein voller Erfolg. „Independent Day“ oder „Armageddon“ real zu inszenieren wurde nicht von afghanischen Stammeskriegern ausgedacht. Zuerst waren die Filmbilder, dann kam die Realität.

Nicht einmal den Namen seiner Apokalypse hat der 11.September erfunden, denn er stammt aus der Schlussszene des „Fight Club“, in welcher der gesamte Financial District in ungeheuerlichen Explosionen in sich zusammenstürzt: „Ground Zero“. Alles ist Maskerade und Fiction.

Bin Laden hat seine feine westliche Straßenanzüge gegen die Kostümierung der langen wallenden Gewänder eingetauscht, damit er auch ja mediengerecht wie einer der alten Propheten aussieht. Auch die Bärte hat man sich deswegen wachsen lassen. Der Kampf zwischen Gut und Böse ist inszeniert und gehört zur modernen Zeit.

Seine Ursprünge sind nicht im Koran oder im Mittelalter, das führt alles lediglich in die Irre. Aber er ist real und wird überall in der modernen Gesellschaft nachwachsen, die Täter und die Elenden sind völlig austauschbar. Und keiner wird wirklich verstehen warum es passiert und worum es geht. Realpolitisch darf man auch nicht übersehen, was hinter den Kulissen eigentlich stattfindet. Als Beispiel dafür die afghanischen Flüchtlingskinder in Pakistan, die vom amerikanischen Geheimdienst mit Geldern Saudi-Arabiens zur Taliban erst künstlich gemacht wurden, damit sie gegen die einst unterstützten aber nicht mehr kontrollierbaren Mudschahedin in den Kampf zogen.

Ebenso Osama Bin Laden, der jahrelang zur CIA gehörte und das mindestens noch bis in den Sommer 2001 hinein (!) Es gibt viel zu vieles zu beachten und nachzudenken und das was wirklich geschieht ist sicherlich eine weit schlimmere Geschichte als wir es alle vermuten.

In Partnerschaft mit Amazon „Dynamit des Geistes Martyrium, Islam und Nihilismus“
von Navid Kermani
66 S. br., Wallstein 2002
ISBN 3-89244-622.9
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Berthold Röth