Kinder-Computersucht: Killerspiele aus der Sicht der Hirnforschung

In diesem Artikel finden Sie eine kurze Rezension des Buches „Computersüchtig – Kinder im Smog moderner Medien“ und ein Interview mit dem Autor Prof. Dr. Gerald Hüther.

Killerspiele und Computersucht bei Kindern

Immer wieder wird die Frage, ob „Killerspiele“ und "Computersucht" Kinder negativ beeinflussen können, in allen Medien rege diskutiert. Dies nahm ich zum Anlass, mich mit diesem Thema im Kontext der Hirnforschung näher zu beschäftigen. Dazu fiel mir das Buch von Prof. Dr. Gerald Hüther „Computersüchtig – Kinder im Smog moderner Medien“ in die Hand, welches das Phänomen der „Computersucht“ bei Kindern aus der Sicht eines Hirnforschers wiedergibt. Neben einer kurzen Rezension dieses Buches folgt weiter unten ein Interview mit dem Autor selbst.

Kinder Killerspiele ComputersuchtKommen wir gleich am Anfang zur Frage: „Kann man sich dumm und aggressiv spielen?“ „Ja“ – lautet die Antwort. Besonders schlimme Auswirkungen hat das Spielen von gewalthaltigen Computerspielen auf Kinder und Jugendliche, die stunden- und tagelang vor dem Computer sitzen. Untersuchungen von renommierten Hirnforschern stützen den Verdacht, dass übermäßiges Computerspielen Aggressivität fördert und erfolgreiches Lernen verhindert.

Zwei renommierte Experten, der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Bergmann und der Hirnforscher Prof. Dr. Gerald Hüther, beschreiben die Ursachen der Computersucht und ihre Folgen für Psyche und Hirnentwicklung in ihrem Buch: „Computersüchtig – Kinder im Sog der modernen Medien“.

„Wer verhindern will, dass Kinder und Jugendliche Computersucht entwickeln, muss verstehen, was sie so sehr fasziniert und was in ihrer Seele und ihrem Gehirn während des Computerspielens passiert. Abhängig wird ja niemand, weil es Computer gibt, sondern weil sich mithilfe dieser Spiele Bedürfnisse befriedigen lassen, die eigentlich auf andere Weise gestillt werden müssten. Das Buch richtet sich an alle, die Kinder verstehen wollen.“

Aber ich will Ihnen in diesem Artikel nicht nur eine einfache Buchrezension vorstellen, sondern den Autor auch selbst zu Wort kommen lassen. Zu diesem Zweck habe ich mit Herrn Prof. Dr. Gerald Hüther ein Interview geführt, das ich im Folgenden wiedergebe. So erfahren Sie mehr als die Meinung eines Rezensenten und können sich besser selbst ein Urteil über die Thematik des Buches bilden.

Hier nun das versprochene Interview mit Prof. Dr. Gerald Hüther zum Thema: Killerspiele, Computersucht und Gehirnforschung.

„Computersucht und Killerspiele – Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche“

Peter Schipek: „Computersüchtig – Kinder im Sog moderner Medien“ – so der Titel Ihres Buches. Welches Interesse haben Sie als Hirnforscher an diesem Thema, Herr Professor Hüther?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Herauszufinden, was bei übermäßigem Computerkonsum im Gehirn passiert.

Peter Schipek: Und was passiert dabei im Gehirn?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Wenn Kinder und Jugendliche täglich mehrere Stunden vor ihren Computern verbringen, verändert das nicht nur ihre Wahrnehmung, ihr Raum- und Zeitempfinden und ihre Gefühlswelt. Alles, was sie in den Computerspielen erleben, verändert auch ihr Gehirn.

Peter Schipek: Wie, auf welche Art verändert Computerspielen das Gehirn?

Computersucht Killerspiele Kinder JungendlicheProf. Dr. Gerald Hüther: Die Art und Weise, wie die Nervenzellen im Gehirn miteinander verknüpft werden, hängt davon ab, was man mit seinem Gehirn macht. Wer immer wieder in den Strudel virtueller Welten eintaucht, bekommt also ein Gehirn, das immer besser an all das angepasst ist, was dort geschieht, mit dem man sich aber im realen Leben immer schlechter zurechtfindet. Die Fiktion wird dann zur lebendigen Wirklichkeit und das reale Leben zur bloßen Fiktion.

Hirnforscher haben herausgefunden, dass die Strukturierung des Gehirns, die Verschaltungen zwischen den Milliarden Nervenzellen davon abhängt, wofür ein Kind sein Gehirn benutzt.

Peter Schipek: Unser Gehirn wird also so, wie wir es benutzen?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Ja und das gilt vor allem für das Gehirn von Kindern und Jugendlichen. Hier wird vor allem in der Großhirnrinde zunächst ein riesiges Überangebot an Nervenzellverbindungen bereitgestellt. Stabilisiert und erhalten bleiben davon aber nur diejenigen, die auch wirklich benutzt, das heißt häufig genug aktiviert werden. Der Rest wird wieder abgebaut.

Peter Schipek: Wie hoch ist die Zahl computersüchtiger Kinder und Jugendlicher in Deutschland?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Wir gehen davon aus, dass sie in die 100 000 geht. Das ist allerdings nur eine Schätzung. Genaue Zahlen gibt es nicht. Das Problem ist ja, dass diese computersüchtigen Kinder und Jugendlichen lange Zeit kaum auffallen.

Peter Schipek: Warum sind vor allem Jungen beziehungsweise Männer davon betroffen?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Die gängige Vorstellung, dass Frauen das schwache Geschlecht sind, stimmt physiologisch gesehen nicht. Männliche Föten sterben leichter ab. Babys, wenn es Jungs sind, sind auch schwerer durch Krisen zu bringen als Mädchen. Jungen gehen also mit einem schwächeren Fundament ins Leben hinaus. Das führt dazu, dass sie stärker als Mädchen darauf angewiesen sind, Halt in äußeren Dingen zu suchen. Das manifestiert sich in einer stärkeren Außenorientierung oder auch Extrovertiertheit.

Dies macht sie anfälliger für Angebote von außen. Das Spektrum Halt bietender Krücken, die die Jungs dann leichter und bereitwilliger ergreifen als die Mädchen, reicht von Drogen über Gewalt bis hin zu Computerspielen.

Peter Schipek: Woran können Eltern erkennen, dass ihr Kind computersüchtig ist?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Wenn ein Kind seine Zeit lieber vor dem Computer verbringt, als seinen natürlichen Bedürfnissen nachzugehen, draußen herumzurennen und mit anderen zu spielen, wird es bedenklich. Das Kind zieht sich immer mehr in seine Computerwelt zurück. Besonders gefährlich sind übrigens Online-Computerspiele.

Peter Schipek: Was ist so besonders gefährlich daran?

Killerspiele Kinder Jugendliche Sucht GewaltProf. Dr. Gerald Hüther: Diese Spiele sind so beschaffen, dass man sich beispielsweise eine Figur aufbaut, quasi einen Repräsentanten für sich selbst. Dem gibt man alle möglichen Eigenschaften mit, damit er gut durch die Welt finden kann. Soweit ist das ja auch ganz wunderbar.

Da aber online gespielt wird, dürften die Kinder eigentlich gar nicht abschalten: Denn sonst laufen sie Gefahr, dass andere Spieler ihre Abwesenheit nutzen, um der Figur etwas wegzunehmen. Die Kinder versuchen also um jeden Preis, dran zu bleiben. Dabei wird dann das Essen vergessen, ganz zu schweigen von Hausaufgaben und sozialen Kontakten.

Peter Schipek: Was ist Ihre Empfehlung an Eltern?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Eltern, die der Meinung sind, das Gehirn ihrer Kinder entwickele sich von allein, egal, ob sie draußen spielen, ob sie lesen, Musik machen oder vor ihren Computerspielen hocken, müssen dringend umdenken.

Peter Schipek: Weil ihre Kinder sonst vor dem Computer verdummen?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Das Problem ist viel subtiler. Denn in ihren virtuellen Welten finden sich diese Kinder mit ihrem so angepassten Gehirn ja hervorragend zurecht. Die dabei aktivierten Nervenzellverschaltungen werden immer stärker gebahnt und stabilisiert. Es entwickelt sich quasi eine auf diese Computerspiele spezialisierte, enorm reaktionsschnelle und abstrahierende Intelligenz – auf Kosten anderer, seltener aktivierter Verschaltungen.

Peter Schipek: Wie können Eltern Kinder und Jugendliche vor übermäßigem Computerkonsum schützen?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Kinder und Jugendliche brauchen Aufgaben, an denen sie wachsen und neue Erfahrungen machen können. Sie brauchen auch Anregungen und Gelegenheiten, um ihre sportlichen oder künstlerischen Talente zu entwickeln und Eltern, die ihnen Liebe, Geborgenheit und Orientierung geben. Das sind die wichtigsten Säulen für eine glückliche Kindheit. Wer davon getragen wird, braucht keine Krücken.

Peter Schipek: Der Computer ist also für viele Kinder und Jugendliche eine Krücke?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Ja, ein besonders attraktiver Ersatz, für das, was viele Kinder und Jugendliche in unserer heutigen Welt nicht finden: lösbare Aufgaben, Abenteuer und eigene Entdeckungen, überschaubare Regeln und erreichbare Ziele. So schaffen die Computerspiele ein Ersatz-Glück, das die „Belohnungszentren“ im Hirn sehr effizient aktiviert, nicht zuletzt dadurch, dass es die Möglichkeit bietet, Fähigkeiten und Geschicklichkeiten auszubilden, über die andere nicht verfügen. Die Welt erscheint beherrschbar, das Ego wird aufgewertet.

Peter Schipek: Und weil der Computer dieses Ersatz-Glück bietet, kann es zur Sucht kommen?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Sucht war noch nie etwas anderes, als die Suche nach einem Ersatzglück, einer Krücke eben. Das Tückische bei der Computersucht ist der Dopamin-Kick mit seiner Zweifachwirkung: Endogene Opiate werden freigesetzt und erzeugen einen rauschartigen Zustand. Gleichzeitig werden die dabei aktivierten Nervenzellverschaltungen zu immer breiteren Straßen und schließlich zu Autobahnen ausgebaut, die schließlich das gesamte Denken und Verhalten lenken.

Peter Schipek: Breitere Straßen, Autobahnen im Kopf?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Wenn die Nervenzellen im Belohnungszentrum aktiviert werden, wird der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet, der die Freisetzung endogener Opiate stimuliert, die wie Opium oder Heroin wirken. Neben dem rauschhaften Zustand bewirkt Dopamin aber auch, dass die beim Computerspiel aktivierten Nervenverbindungen allmählich immer fester gebahnte Wege, Straßen und am Ende sogar breite Autobahnen werden, von denen man, wenn überhaupt, dann gar nicht so leicht wieder herunterkommt.

Peter Schipek: Autobahnen ohne Ausfahrt also?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Die gibt es nicht. Wichtig sind Vorbilder, die Kindern zeigen, wie man Probleme, die das Leben immer mit sich bringt, löst, anstatt in Ersatzbefriedigungen zu flüchten. Ein Blick in den eigenen Spiegel kann deshalb bisweilen recht aufschlussreich sein.

Peter Schipek: Herr Prof. Hüther – herzlichen Dank für das Gespräch …


Prof. Dr. Gerald Hüther leitet die Abteilung für neurobiologische Grundlagenforschung an der psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen.

Seine Forschungsschwerpunkte betreffen die Auswirkungen, die Angst, Stress, psychische Abhängigkeiten und Ernährung auf das Gehirn nehmen, sowie die Beeinflussbarkeit der kindlichen Hirnentwicklung durch psychosoziale Faktoren und psychopharmakologische Behandlungen.

Anmerkungen der Redaktion zu Killerspielen und Computersucht

Themen wie "Killerspiele" und "Computersucht" haben sich in den Medien zu regelrechten Kampfbegriffen gemausert, die allzu oft überzogen und völlig unsachlich diskutiert werden. Kinder sollen dadurch aggressiver oder im schlimmsten Fall sogar zu Amokläufern werden können. So dumm diese Behauptungen sind, so hartnäckig halten sie sich – speziell auch von der Fraktion, die "gewalttätige Spiele" am liebsten grundsätzlich verbieten würde.

Mittlerweile gibt es einige amerikanische Studien, die belegen, dass sich Kinder und Jugendliche durch das Spielen von Killerspielen im sozialen Verhalten nicht von gleichaltrigen "Nichtspielern" unterscheiden. Psychisch gesunde Kinder können durchaus "Spiel" und "Realität" unterscheiden. Man muss wissen, dass sogenannte Killerspiele heutzutage von Millionen von Menschen jeden Alters gespielt werden, die sich ansonsten völlig normal verhalten.

Weiterhin sollte man berücksichtigen, dass seit jeher jedes gute Spiel die Aufmerksamkeit des Spielers fesselt und ihn – zumindest temporär – "süchtig" machen kann. Außerdem gibt es viele Spiele-Genres (wie Strategiespiele, Adventures oder Rollenspiele), die intelligentes Vorgehen erfordern und Problemlösungsstrategien schulen.

Das bedeutet – ob und wann Spiele einem Kind oder Jugendlichen schaden oder ihn fördern, muss mit Bedacht abgewogen werden. Sich in einem Spiel verlieren zu können, ist das Kennzeichen jedes guten Spiels. Problematisch wird es, wenn das Spiel zum "Realitätsersatz" wird und sichtbare Defizite im sozialen Verhalten auftreten. Dann muss man tätig werden, um dem Kind / Jugendlichen zu helfen.

Peter Schipek