Käthe Kollwitz – Kunstschaffende zwischen Mutterliebe und dem „Geheimnisvollen, Anderen“““

Das Jahr 2005 war das 60. Todesjahr von Käthe Kollwitz. Das gesamte Leben
und Schaffen dieser Künstlerin aufzuarbeiten, würde den Rahmen eines
Aufsatzes sprengen. Ich will mich darauf beschränken, an ihrem Beispiel
aufzuzeigen, was sich im 1. Weltkrieg sowie am seinem Anfang und Ende in der
deutschen Heimat, namentlich in Berlin, abspielte.

„Noch einmal eine solche Zeit durchleben – glaub ich – könnt ich
nicht mehr. Dies eine Mal hab ich sie durchlebt, aber unter was für Qualen
…!“ schreibt Käthe Kollwitz im Februar 1925 in ihr Tagebuch. Sie
denkt dabei an die Zeit des 1. Weltkrieges zurück.

deutsche KünstlerinWer
war Käthe Kollwitz, von der die berühmte Plastik der „Pietà“
in der „Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für
die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ in der „Neuen Wache“
Unter den Linden in Berlin aufgestellt ist und eine Nachbildung davon auf dem
Waldfriedhof in Stuttgart-Degerloch?

Die Plastik stellt eine Mutter mit ihrem toten Sohn dar, der gleichsam in ihren
Schoß zurückgekehrt ist. Tatsächlich dargestellt sind Käthe
Kollwitz und ihr Sohn Peter, der am 2. Tag, nachdem er als Kriegsfreiwilliger
in Flandern an die Front gekommen war, am 22. Oktober 1914 mit 18 Jahren den
Tod fand.

„Das Vaterland braucht meinen Jahrgang noch nicht, aber mich braucht es“,
hatte Peter im August 1914, gleich nach Kriegsbeginn also, zu seinen Eltern
gesagt und seine Mutter, Käthe Kollwitz, daran erinnert: „Mutter,
als Du mich umarmtest, sagtest du: „glaube nicht, daß ich feige bin, wir
sind bereit“ … Ich stehe auf“, schreibt sie, „Peter folgt mir, wir
stehen an der Türe und umarmen uns und küssen uns und ich bitte Karl“
– ihren Mann – „für Peter“, der ja noch nicht mündig ist,
sich unbedingt als Kriegsfreiwilliger melden will und dazu die Erlaubnis der
Eltern braucht. „Diese einzige Stunde. Dieses Opfer, zu dem er mich hinriß
und zu dem wir Karl hinrissen.“

Mit dem Kassenarzt Karl Kollwitz ist die Künstlerin Käthe geb. Schmidt
seit 1891 verheiratet. Beide waren Sozialdemokraten. Sie wohnten und arbeiteten
in Berlin-Spandau in einem mehrstöckigen Haus, in dem sie zeitweilig ein
halbes Stockwerk, zeitweilig 3 Stockwerke zur Unterbringung der Arztpraxis und
der Künstlerwerkstatt gemietet hatten. Karl starb darin 1940, Käthe
zog 1943 kurz vor der Zerbombung des Hauses zu einer Nichte nach Moritzburg
bei Dresden. 52 Jahre lang war die Nummer 25 in der Weißenburger Straße
am Wörther Platz ihr Zuhause gewesen.

Käthe war 1867 in Königsberg/Preußen schon in ein sozialdemokratisch
eingestelltes Elternhaus geboren worden. Das hat sie geprägt.

Nun aber hatte es geheißen: „Drohende Kriegsgefahr“, und das
Volk stand zusammen, gleich, ob Sozialdemokrat, Katholik, Protestant, Atheist,
bereit, für den Erhalt des Vaterlandes einzustehen.

Die Familie sitzt mit jungen Freunden und Freundinnen noch zusammen, sie lesen
„eine Kriegsnovelle von Lilienkron“ und sind „nach dem Lesen
alle ganz stumm. Dann singen sie … Die Männer, die in den Krieg gehen,
hinterlassen meist Frau und Kinder“, schreibt Käthe Kollwitz weiter
am 13. August 1914. „Ihr Herz ist geteilt. Die Jungen sind in ihrem Herzen
ungeteilt. Sie geben sich mit Jauchzen, sie geben sich wie eine reine schlackenlose
Flamme, die steil zum Himmel steigt. – Diese an diesem Abend zu sehn, … ist
mir sehr weh und auch wunder-wunderschön.“

Dies „Wunder-Wunderschöne“, das sie alle erfüllt und emporhebt,
ist dies „ganz Geheimnisvolle, Andere“, wie sie schreibt, „was
durch Peter sprach und das eben das eine einzige Mal in meinem Leben war“
– offenbar das Einheitserleben des bedrohten Volkes, das das ganze deutsche
Volk bei Ausbruch des 1. Weltkrieges ergriff, das die jungen Männer drängte,
sich freiwillig zum Heer zu melden, und die Angehörigen bereit fand, ihre
Söhne, Brüder und Ehemänner in den Krieg ziehen zu lassen.

Doch schon Ende August 1914 schreibt Käthe Kollwitz ins Tagebuch:

„In dem heroisch Starrenden dieser Kriegszeit, in dem fast widernatürlich
heraufgeschraubten Seelenzustand berührt es wie himmlische Klänge,
süß weinende Friedensklänge, wenn man liest, daß französische
Soldaten verwundete deutsche Soldaten schonen, ja, ihnen helfen, daß deutsche
Soldaten in den Franctireurdörfern an Häusern Aufschriften machen
wie: „schonen! hier wohnt alte Frau – haben mir Gutes erwiesen – nur alte Leute
– Wöchnerin – usw.“

Der Sedan-Jubel am 1. September 1914 unter den Linden widert sie an, „diese
oberflächliche Jubelstimmung, die so schlecht paßt zu den grausamen
Schlachten an beiden Grenzen, zu all dem Scheußlichen und Barbarischen,
das man aus Ostpreußen und Belgien hört …“

Dann wieder sieht sie am Bahnhof einen jungen Offizier, „ganz jung, rosiges
Gesicht, wie alle ausziehenden Soldaten in dieser heiteren selbstverständlichen
Ruhe.“ Und einer der jungen Freunde ihrer beiden Söhne, der sie Ende
September auf Urlaub besucht, sei „noch etwas wie ein Knabe. Noch ganz
der unverdünnte herrliche Idealismus der ersten Wochen. Mit einem Wiederkommen
rechnet er nicht, will er kaum, dann wäre die Gabe verkürzt. Opfer
kann man das kaum nennen, ein Opfer setzt Überwindung voraus. Dies ist
eben ein strahlend stolzes Darbieten des Lebens.“

So hört sich der Erlebnis-Bericht einer Sozialdemokratin des Jahres 1914
an. Eine spätere, nicht dabeigewesene Linke sollte dann meinen, dieses
„strahlend stolze Darbieten des Lebens“ als törichte Kriegsbegeisterung
verächtlich machen zu müssen.

Wenige Tage später notiert sie, und der mütterliche Wille, die Kinder
vor Todesgefahren zu bewahren, ist wohl treibende Kraft: „Das Ganze nur
so wüst und hirnverbrannt. Mitunter den dummen Gedanken: sie werden in
einem solchen Tollwerden doch nicht mittun – und sofort, wie ein kalter Strahl:
sie müssen, müssen. Alles ist gleich vor dem Tod, runter mit all der
Jugend. Dann könnte man verzweifeln. Nur ein Zustand macht alles erträglich:
die Aufnahme des Opfers in den Willen. Aber wie kann man diesen Zustand sich
erhalten?“

Am 12. Oktober 1914 besucht sie ihren Sohn Peter an seinem Ausbildungsstandort
und nimmt Abschied von ihm, „den wirklich letzten. Wir küssen uns
und sagen uns, wie lieb wir uns haben, und er sagt, er kommt sicher wieder.
Du geliebter, geliebter Junge.“ 10 Tage später ist er tot.

Ihr Sohn Hans ist als junger Mediziner in der Etappe und ist damit unzufrieden.
„Wenn ich nun aber überzeugt bin, daß ich nachher nur etwas leisten
kann, wenn ich durch den Krieg gegangen bin?“ Ich sage: „Gehst du nicht durch
den Krieg, ob du Kranke verbindest oder an der Front stehst? Sind Karl und ich
nicht hundertmal mehr durch den Krieg gegangen als manche, die von Granaten
umflogen sind?“

„Mein Vaterland zu lieben auf meine Art … und diese Liebe zu betätigen.
Auf die Jugend zu sehn und ihr liebevoll treu zu bleiben“, das ist das
Wollen der Käthe Kollwitz, wie sie es am Jahresende 1914 ins Tagebuch schreibt,
als sie ihren Sohn schon verloren hat.

Doch
dann wieder: „Ein Kind gebären und groß zu ziehn und nach achtzehn
köstlichen Jahren zu sehen, wie alle Anlagen sich entfalten, wie reich
der Baum Frucht tragen will – und dann aus.“ 1917 kann sie nur noch die
zu Boden herabgedrückten Eltern sehen.

„Ich habe eine Arbeit im Sinn, Peter zu Ehren.“ Um dessen Form ringt
sie jahrelang. Nach 4 Jahren, 1919, läßt sie sie erst einmal ruhen.
Nach weiteren 5 Jahren geht sie wieder daran, mit vielen Depressionsphasen begleitet,
und erst nochmals 7 Jahre später ist das Mahnmal „Die Eltern“
vollendet und wird 1932, ein Jahr bevor Hitler an die Macht kommt, auf dem deutschen
Soldatenfriedhof in Roggevelde nahe Dixmuiden in Flandern aufgestellt, dort,
wo auch ihr Sohn Peter ruht.

„Nun dauert der Krieg zwei Jahre, und fünf Millionen junge Männer
sind tot, und mehr als nochmal soviel Menschen sind unglücklich geworden
und zerstört, gibt es noch irgendetwas, was das rechtfertigt?“ Zweifel
nagen immer stärker an ihrer Seele, das eigene Denken sucht nach Klarheit.
„Ich bin zerschlissen“ – und sie fürchtet, daß sie ihre
Kraft verliert, in der Kunst solche Gegensätze „zusammenzufassen“
wie Mutterliebe einerseits und Pflicht zur Geschlossenheit des Volkes in seinem
schweren Abwehrringen andererseits.

Das Empfinden „von der Mobilmachung an bis zu Peters Tod und dann nachglänzend
durch zwei Jahre in seinen Freunden“, „das ist jetzt (Oktober 1916)
beschlossen. Ist vorüber.“ Was jetzt in ihr lebt, das will sie durch
ihre Kunst bezeugen. „Aber Zeugen jener Zeit?“ fragt sie. „Das
ganz Geheimnisvolle, Andere, was durch Peter sprach und das eben das eine einzige
Mal in meinem Leben war“, das sei nun vorüber, das kann sie wohl nicht
mehr bezeugen.

„Das ganz Geheimnisvolle, Andere“, dieses „geheimnisvoll Glänzende“,
wie sie jenes Einheitserleben des Volkes auch nennt, ist 1916 in Käthe
Kollwitz erloschen, hat sich in ihrer Seele über die lange Zeit nicht aufrechterhalten.
Und sie spricht hier wohl nicht nur für sich, sondern für viele. Der
Mutter Käthe Kollwitz steht das Hinopfern von Abermillionen von jungen
Menschen nun in keinem Verhältnis mehr zu dem Ziel, das Volk zu verteidigen.

Und
wir erleben durch diese Sozialistin anschaulich mit, was in der Heimat vorgeht,
während das deutsche Heer darum ringt, Deutschland vor dem Untergang zu
bewahren.

Käthe Kollwitz geht zu Vorträgen und Versammlungen, wo weitab von
den schweren Kämpfen an den Fronten revolutionäre Gedanken gepflegt
werden. Ein Herr Landauer stellt den Internationalisten Goethe vor. Kollwitz
liebt Goethe ganz besonders. Und so hören sich ihre Tagebuch-Eintragungen
bejahend an:

„Macht die Schlacht von Valmy mit. Erlebt den Sieg der Revolutionstruppen
über Herzog von Braunschweig. Sieht in ungeheurer Disziplin der französischen
Truppen Geist und Folge der Revolution …““, zitiert sie Goethe. Was das
deutsche Volk dabei zu bluten hatte, davon ist nicht die Rede, angesichts der
Revolution wird über Blutvergießen nicht geklagt, wohl aber die Disziplin
der französischen Truppen gelobt.

Bei einer anderen Versammlung liest der „Kapellmeister Levy“ „sein
pazifistisches Lehrdrama vor.“ Sie nennt einige Namen der dort versammelten
und sprechenden A-Nationalisten, die „die Berechtigung auch des Verteidigungskrieges
leugnen“: Levy, Fränkl, Bernstein, Pfemfert, Berger. Diese „ausgesucht
häßlichen und absonderlich aussehenden Menschen“ erlebt sie
„ganz verbittert, ordentlich erschreckend wirkend, fanatisch, schreiend“.
„Sehen in Sozialdemokratie, auch den Unabhängigen, eine verrottete
Bande … Ziel ist Anationalismus.“

Auch bei Tolstoi liest sie, „daß Patriotismus ein überlebtes
Gefühl ist, das schädlich und hemmend ist.“

Immer wieder aber erinnert sie sich an das „ganz Geheimnisvolle, Andere“,
was sie mit den jungen Männern bei Kriegsbeginn erlebt hat. Ihr Mann Karl
entwickelt einmal bei Tisch den Gedanken von dem Recht und der Pflicht des Menschen,
sich zu entfalten, und daß „Ideologien wie Staat, Vaterland“
dieses Recht nicht beschneiden dürften. „… der Staat hat kein Anrecht
auf das Leben seines Angehörigen.“ Sie entgegnet ihm „langweilig
und konventionell“, wie sie findet: „daß die Menschheit nicht
vorangekommen wäre, wenn das Leben des Einzelnen immer an erster Stelle
gestanden hätte. Über dem Leben steht das Leben für die Idee,
dadurch nur bekommt das Leben Inhalt und Sinn. Wenn besondere Umstände
es fordern, muß das persönliche Leben hingegeben werden.“

Klar erkennend vermerkt sie im Oktober 1917, „daß in Prag Revolten
gewesen seien und daß ohne Militär die Deutschen wohl alle niedergemacht
worden wären. Einem großen nordslawischen Staat streben die Tschechen
zu, südlich Deutsch-Österreichs einem zweiten slawischen Staat. Österreich
in der Mitte soll zerrieben werden. Also die Ziele der Entente.“

Ebenso hat sie ihre „Verstimmung über die Antwort aus den Entente-Ländern“
auf das deutsche Friedensangebot im Dezember 1916 notiert. Und als sie einmal
wieder Briefe aus den ersten Kriegswochen liest, ist es ihr wichtig, ins Tagebuch
zu schreiben:

„Am Ende des Briefes schrieb ich von dem Glück, wenn es ein Wiedersehn
nach dem Kriege geben könnte. Ich weiß, daß ich damals schon
empfand, ich hätte das nicht schreiben sollen, es war etwas zu weich Menschliches,
zu weich Machendes.“

So ist sie hin- und hergerissen. Eine unbändige Friedenssehnsucht hat
sie und viele, viele Menschen in Deutschland ergriffen. Für Frieden zu
sein, mit dem Völkermorden aufzuhören, wer könnte dagegen etwas
einwenden, es zeichnet den Gutmenschen ja geradezu aus. Wer will nicht Frieden?

Bei einem Vortragsabend erlebt sie die große Schauspielerin Durieux,
die eine Geschichte von Leonhard Frank vorliest, in der geschildert wird, wie
eine sozialdemokratische Versammlung auf die Straße geht und anwächst,
ein „enormes Volksgetöse“ entsteht, Glocken läuten und „Frieden!
Frieden! Frieden!“ gerufen wird. „Es war gar nicht zum Aushalten.
Als sie aufhörte, rief eine Männerstimme immer laut weiter: „Frieden!
Frieden!“ – es soll Blochs Bruder gewesen sein.“

Käthe Kollwitz denkt daran, „ob ich nicht auch etwas zur Friedenspropaganda
beisteuern könnte, indem ich Flugblätter zeichnete, die im Volk verbreitet
würden.“
So wird das Tagebuch der Käthe Kollwitz geradezu zu einem Geschichts-Dokument
für den „Dolchstoß“, der nach dem Krieg zur „Legende“
erklärt wurde. Im Felde steht das deutsche Heer, auch schon beeinflußt
von der Stimmung in der Heimat, Drückeberger und Deserteure lassen die
Tapferen im Stich, und Hindenburg und Ludendorff hab nicht nur den „Titanenkampf
ohnegleichen“ gegen eine vielfache Übermacht von Feinden zu führen,
sie müssen die Millionen widerstrebenden Deutschen mitziehen, die nur noch
Frieden, Frieden um jeden Preis wollen, ja, sie müssen noch weitere junge
Männer anfordern, um die gelichteten Reihen des kämpfenden Heeres
aufzufüllen.

Wie
unpopulär! Die Gutmenschen wollen Frieden, und sie rufen die Jugend zur
„Schlachtbank“, wie Käthe Kollwitz das nennt. Da ist doch klar
ersichtlich, wo Moral und wo Verbrechen liegen! – Armes Volk, das keinen Überblick
über seine Lage erhält, das sich nicht ausmalen kann, was auf es zukommt,
wenn es den Krieg verliert, das anfängliche Einheitserleben verloren hat
und auseinanderdriftet.

„In der Stadtbahn“ hatte ein Freund schon ein Jahr vorher „Arbeiter
untereinander vom ,Schlächtermeister'“ sprechen hören. „Sie
meinten Hindenburg. Der Oberschlächtermeister sei der deutsche Kaiser.“

Die Vorgänge in Rußland – soweit sie davon erfährt – bewegen
sie zutiefst: „Die revolutionären Sozialisten sind an der Regierung.
Sie wollen Rußland sozialistisch-kommunistisch verwalten“, frohlockt
sie am 6. November 1917. „Max Wertheimer erwartet von Rußland aus
ein Hinübergreifen auf ganz Europa in demselben Geiste. Er glaubt an eine
gewaltige moralische Erhebung.“

Während der Krieg in Deutschland nur „immer genommen und genommen“
habe, „Menschen genommen und Glauben genommen, Hoffnung genommen. Kraft
genommen“, habe das Jahr 1917 „neue Ausblicke durch Rußland“
gebracht. „Von da ist etwas Neues in die Welt gekommen, was mir entschieden
vom Guten zu sein scheint. Eine neue Hoffnung, daß in der Entwicklung
der Völker in der Politik nicht wie bis jetzt nur Macht entscheidet, sondern
,von nun an‘ auch die Gerechtigkeit mitwirken soll.“ Sie ahnt nicht, was
diese Entwicklung außer der Zersetzung der deutschen Front noch weiter
über die Menschen bringen wird!

Vorerst sieht sie nur das Elend der arbeitenden Massen, wie sie es in ihrem
Zyklus „Bauernkrieg“ schon vor dem Weltkrieg dargestellt hat und setzt
auf die Revolution in Rußland ihre Hoffnung auf Besserung der Lage für
die verelendeten Menschen. Es ist das gute Wollen, das sie leitet, das aber
nicht gepaart ist mit politischem Wissen und dem Erkennen des feindlichen Vernichtungswillens.

Der jüdische Schwager Stern und die Schwester von Käthe Kollwitz
halten das Friedensangebot an Rußland ohne Gebietsansprüche Deutschlands
„für ein Scheinmanöver und meinen, daß Deutschland Rußland
übers Ohr haut, weil Rußland sich nicht wehren kann.“ Und wenige
Tage später muß sie erfahren: „Der Frieden mit Rußland,
der so nah schien, ist wieder weit weg. Die Russen sagen, daß ,der annektionslose
Frieden‘ Deutschlands Maske war, in Wahrheit wolle Deutschland annektieren.
Und ich fürchte, sie haben recht. Es ist so furchtbar deprimierend und
beschämend.“

Daß es Trotzki war, der diesen Frieden mit seiner Verzögerungstaktik
untergrub, wußte sie sicher nicht. Trotzki „verkündete seine
bolschewistischen Ideen durch seine Funksprüche der Welt und namentlich
der deutschen Arbeiterschaft“, schreibt Erich Ludendorff dazu in seinen
Kriegserinnerungen. „Die Absicht des Bolschewismus, uns zu revolutionieren
und Deutschland so zu Fall zu bringen, wurde für jeden nicht vollständig
Blinden immer klarer.“

Und etwas weiter unten schreibt Ludendorff: „Am 18. Januar fuhr Trotzki
nach Petersburg, wo die Bolschewisten die Konstituante [die verfassunggebende
Versammlung] auseinandertrieben. Sie gaben damit der Welt kund, wie sie die
Volksfreiheit auffaßten. Der Deutsche wollte aber nicht sehen und nicht
lernen.“
Am 30. Januar 1918 schreibt Käthe Kollwitz in ihr Tagebuch: „Seit
3 Tagen Streik der Munitionsarbeiter. ,Frieden – Freiheit – Brot‘. Heut ging
ein großer Zug vom Bülowplatz aus, wo Schutzleute räumten, durch
die Prenzlauer Allee.“

2 Tage drauf: „An den Anschlagsäulen die Bekanntmachung, daß
über Berlin und Vororte der verschärfte Belagerungszustand verhängt
ist und … morgen in Kraft tritt. … mit Sterns und Wertheimer schönes
Zusammensein … Wertheimer ganz lustig. Sagt er wisse aus guter Quelle, daß
in London der Generalstreik bevorsteht und in Paris ebenfalls gestreikt wird.“

„Am Sonntag 3. März 1918 ist in Brest-Litowsk der Frieden mit Rußland
unterzeichnet. … Ach, heut Frieden mit Rußland – was ist das doch für
ein ruhiges beglückendes Gefühl, zu wissen im Osten ist Frieden. Und
die Glücklichen, ach die Glücklichen, die jetzt ihre Geliebten aus
der Gefangenschaft zurückbekommen.“
Am 1. Juli überdenkt sie ihr bisheriges Leben: „Dann kam der Krieg.
Das in die Höhegrissenwerden durch die Jungen. Das Opfer Peters. Mein Opfer
Peters. Sein Opfertod. Und dann fiel ich auch. Fortgerissen noch durch ihn in
Entwicklungen des Schmerzes und der Liebe, sank ich allmählich in dies
Leben zurück. Es blieb Schmerz um ihn …

Ich
geh im Halbdunkel, nur selten Sterne, die Sonne lange und ganz untergegangen.
Die Füße sind müde und die Glieder schwer und der Kopf hebt
sich nicht hoch. Ich hab gemeint und auch daran geglaubt, daß die Zeit
von 1914 bis jetzt mich läutern würde. Der Schmerz hat Müdigkeit
zurückgelassen. Es ist ja auch nicht allein der Peter. Es ist der Krieg,
der einen bis auf den Boden drückt.“

Die Lage in der deutschen Heimat spitzt sich allmählich zu. Kollwitz berichtet
Ende Juli von einem „außerordentlich interessanten Abend mit (dem
Russen) Agaeff. Er ist bei der russischen Botschaft angestellt und erzählt“,
dort herrsche „fürchterlichste Unordnung“, und es sei ein 17jähriger
Schüler angestellt worden, „als Spitzel … Der hat die Angestellten
auf ihre antibolschewistischen Äußerungen zu bespitzeln. Stimmung
gegen Bolschewismus und seinen Terror. Die Hinrichtung von 130 am Attentat auf
Mirbach beteiligten Sozialrevolutionären – darunter die Spiridonowa – hat
große Erregung geschaffen. Agaeff sagt, die Spiridonowa war wie eine Heilige
in Rußland verehrt. Unter dem Zarismus hat man nicht gewagt sie beiseite
zu bringen, die Bolschewisten tun es auf deutschen Befehl. … Übrigens
sagt er, daß auf der Botschaft nur 4 Russen seien, sonst alles russische
Juden.“

Im Oktober geht es Schlag auf Schlag: „Furchtbar drückende Atmosphäre
in der Politik. Niederlagen an der Westfront. Warnung an den Litfaßsäulen
vor Verbreitung von niederdrückenden Gerüchten.“

Und nun ist es auch mit ihrer Hoffnung auf Moral, die aus Rußland kommen
würde, vorbei. „Die fürchterlichsten Zustände in Rußland
… Radeks Plan zur Ausrottung der Bourgeoisie. … Eintritt der Sozialdemokratie
in die Regierung. Deutschland wird parlamentarisch. Es will Demokratie werden.
Was wird mit dem Kaiser werden? Wird die Entente verhandeln, solange er Kaiser
ist? Wird, wenn seine Absetzung Bedingung wird, das Volk ihn fallenlassen? …
Droht Deutschland eine ähnliche anarchistische Zukunft wie Rußland?
Mein Gott, diese Zeit.“ Eine Ahnung des kommenden Unglücks steigt
also in ihr auf, wechselt mit Hoffnung:

„Alles flutet. Unser Kriegsunglück kann neues Leben für Deutschland
bedeuten. Als ich heut hörte, daß Legien, Ebert in die Regierung
eintreten, hatte ich ein ungeheures Freudegefühl. Aber selbst wenn die
Sozialdemokratie das Staatsschiff glücklich zu lenken imstande wäre:
Es bleibt dabei, daß Deutschland den Krieg verliert und schweres langes
Besiegtenleiden zu tragen haben wird. Geht all das Leiden, das noch kommt und
das aus seiner Niederlage kommen wird, über das Leiden dieser 4 Kriegsjahre
heraus?“

Wir erleben hier einen deutschen Menschen in seinem Entsetzen vor den umstürzenden
Ereignissen, in seinem Hin- und Hergerissensein, einen Menschen stellvertretend
für Millionen, denen die internationalen treibenden Zerstörungskräfte
verborgen bleiben.

Mitte Oktober vermerkt sie: „Georg Stern hat ein Flugblatt in die Hand
bekommen, worin zur Revolution aufgefordert wird. In Österreich ist ein
Streik der tschechischen Sozialdemokraten ausgebrochen. … Wilsons Antwort.
Böse Enttäuschung. Die Stimmung für Verteidigungskrieg bis zum
Ende wächst. Ich schreibe dagegen.“

Ende Oktober: „Heut in einer Unabhängigen-Versammlung gewesen. Ledebour
sprach. Ich kann ihn nicht leiden. Ein Demagog ist er, ein Hetzer. Ich kann
überhaupt nicht mit den Unabhängigen mitgehn. Doch wünsche ich
sehr, daß die Sozialisten in der Regierung nicht noch weiter nach rechts
gingen. Alles spitzt sich jetzt ungeheuer zu. … Österreich kapituliert.“

Am 1. November: „Versammlung, in der Heine, Naumann, Wyneken zur Jugend
sprechen wollen und über den Haufen gerannt werden. Die Jugend randaliert
und ist ungebärdig. Den größten Beifall hat der ekelhafte Pfemfert
und die Unabhängigen. … 6. November 1918: Ausweisung der russischen Botschaft
wegen bolschewistischer Agitation. … Freitag, 8. November 1918 Forderung der
Sozialdemokraten : Abdankung des Kaisers. Bis Mittag 12 Uhr. … Sonnabend,
9. November 1918 Heut ist es wahr. Mittags nach 1 Uhr kam ich durch den Tiergarten
zum Brandenburger Tor, wo gerade die Flugblätter mit der Abdankung verteilt
waren. Aus dem Tor zog ein Demonstrationszug. Ich trat mit ein.“

Die Waffenstillstandsbedingungen findet sie „furchtbar“. „Der
Kaiser, Kronprinz, sollen nach Holland geflohen sein. Hindenburg soll geblieben
sein und sich dem Soldatenrat unterstellt haben, um das Chaos möglichst
zu verhindern. Bravo, alter Hindenburg!“

Eine befreundete Journalistin „ist in der Urlauber- und Deserteurversammlung
gewesen“, schreibt Käthe Kollwitz weiter. „Liebknecht soll sehr
gut gesprochen haben. Die Deserteure – 26 an der Zahl – sind wie in der Heilsarmee
die Bekehrten nacheinander aufs Podium gegangen und haben erzählt, wann
und wie sie desertiert wären. Stürmischer Beifall. Dem Hans (ihrem
Sohn) dreht sich rein der Magen um.

Die Stadt ist geschmückt für die heimkehrenden Soldaten. Wir haben
lang über die Fahne gesprochen. Heut am Sonntag hängen Hans und ich
sie raus. Die deutsche allgemeine schwarz-weiß-rote Fahne. Die liebe deutsche
Fahne.“

Am 6. Dezember notiert sie: „Überhaupt die fürchterliche Zerrissenheit
jetzt! Nord- und Süddeutschland fällt auseinander, Westdeutschland
löst sich los vom Ganzen und ist von der Entente besetzt. Im deutschen
Österreich Hungersnot und Kälte. Bei uns droht dasselbe in einigen
Monaten…“

Ludendorff zitiert in seinen „Kriegserinnerungen“ Winston Churchill,
der nach dem 1. Weltkrieg klarstellte: „Es war ein gleiches Wettrennen
bis zum Ende. Aber am Ende sind wir sicher durchgekommen, weil die ganze Nation
unverwandelt zusammenarbeitete.“

Und Ludendorff erklärt: „Die
Regierung hatte unseren Eintritt in die Oberste Heeresleitung begrüßt.
Wir kamen ihr mit offenem Vertrauen entgegen. Bald aber begannen zwei Gedankenwelten
miteinander zu ringen, vertreten durch die Anschauungen der Regierung und die
unsrigen. Dieser Gegensatz war für uns eine schwere Enttäuschung und
zugleich eine ungeheure Belastung.

In Berlin konnte man sich nicht zu unserer Auffassung über die Kriegsnotwendigkeiten
bekennen und nicht den eisernen Willen finden, der das ganze Volk erfaßt
und dessen Leben und Denken auf den einen Gedanken: Krieg und Sieg einstellt.
Die großen Demokratien der Entente haben dies vermocht. Gambetta 1870/71,
Clemenceau und Lloyd George in diesem Kriege stellten mit harter Willenskraft
ihre Völker in den Dienst des Sieges. Dieses zielbewußte Streben,
der machtvolle Vernichtungswille der Entente, wurden von der Regierung nicht
in voller Schärfe erkannt. Nie war daran zu zweifeln gewesen.

Statt alle vorhandenen Kräfte für den Krieg zu sammeln und im Höchstmaße
anzuspannen, um zum Frieden auf dem Schlachtfelde zu kommen, wie dies das Wesen
des Krieges bedingte, schlug man in Berlin einen anderen Weg ein; man sprach
immer mehr von Versöhnung und Verständigung, ohne gleichzeitig dem
eigenen Volk einen starken kriegerischen Impuls zu geben. Man glaubte in Berlin
oder täuschte sich dies vor: die feindlichen Völker müßten
den Versöhnung verkündenden Worten sehnsüchtig lauschen und würden
ihre Regierungen zum Frieden drängen.

So wenig kannte man dort die Geistesrichtung der feindlichen Völker und
deren Regierungen mit ihrem starken nationalen Denken und stahlharten Wollen.
Berlin hatte aus der Geschichte früherer Zeiten nichts gelernt. Man fühlte
hier nur das eigene Unvermögen gegenüber der Psyche des Feindes, man
verlor die Hoffnung auf den Sieg und ließ sich treiben … Man versäumte
darüber, das Volk den schweren Weg des Sieges zu führen.

Reichstag
und Volk sahen sich ohne solche Führung, die sie zum großen Teil
heiß ersehnten, und glitten mit der Regierung auf der abschüssigen
Bahn … Innenpolitisches Denken und das Denken an das eigene Ich überwucherten
sie. Das wurde zum Unglück für das Vaterland.“ (Erich Ludendorff,
Meine Kriegserinnerungen, Berlin 1919, S. 4)

Die Sozialistin Käthe Kollwitz versucht nun in ihren folgenden Jahren,
ihr Kriegs- und Nachkriegserleben auf ihre Art zu bewältigen. Dabei erlebt
sie in sich ganze Zeiträume innerer Entleerung und Niedergeschlagenheit.
Immer wieder kommt ihr die Gestaltungskraft abhanden. Ihre Werke zeigen nach
wie vor die Not und das Leiden der Benachteiligten.

Sie beteiligt sich mit Plakaten an Spenden-Aufrufen. Sie fährt nach Moskau
zu einer Künstler-Tagung und fällt immer wieder in Niedergeschlagenheit
zurück. Sie beweint den Tod Liebknechts in einem Bild, ohne allerdings
Anhängerin dieses Extremisten zu sein. Und immer wieder gestaltet sie die
Mutterliebe, nicht selten sehr umklammernd.

Die Werke zum Thema Weberaufstand, angeregt durch das Drama von Hauptmann,
waren schon vor dem Kriege entstanden. Auch sie klagen an und zeigen ohne Beschönigung
mit viel Schwarz Leid und Not der Unterdrückten wie beinahe alle Werke
der Käthe Kollwitz.

„Ich möchte hierbei einiges sagen“, schreibt sie in ihrem „Rückblick
auf frühere Zeit“ 1941, „über die Abstempelung zur „sozialen“
Künstlerin, die mich … begleitete. Ganz gewiß ist meine Arbeit
schon damals durch die Einstellung meines Vaters, meines Bruders, durch die
ganze Literatur jener Zeit auf den Sozialismus hingewie-sen. Das eigentliche
Motiv aber, warum ich von jetzt an zur Darstellung fast nur das Arbeiterleben
wählte, war, weil die aus dieser Sphäre gewählten Motive mir
einfach und bedingungslos das gaben, was ich als schön empfand. Schön
war für mich der Königsberger Lastträger, schön waren die
polnischen Jimkies auf ihren Witinnen, schön war die Großzügigkeit
der Bewegungen im Volke.

Ohne jeden Reiz waren mir Menschen aus dem bürgerlichen Leben. Das ganze
bürgerliche Leben erschien mir pedantisch. Dagegen einen großen Wurf
hatte das Proletariat. Erst viel später, als ich, besonders durch meinen
Mann, die Schwere und Tragik der proletarischen Lebenstiefe kennenlernte, als
ich Frauen kennenlernte, die beistandsuchend zu meinem Mann und nebenbei auch
zu mir kamen, erfaßte mich mit ganzer Stärke das Schicksal des Proletariats
und aller seiner Nebenerscheinungen.

Ungelöste Probleme wie Prostitution, Arbeitslosigkeit, quälten und
beunruhigten mich und wirkten mit als Ursache dieser meiner Gebundenheit an
die Darstellung des niederen Volkes, und ihre immer wiederholte Darstellung
öffnete mir ein Ventil oder eine Möglichkeit, das Leben zu ertragen.
… Mitunter sagten meine Eltern selbst zu mir: „Es gibt doch auch Erfreuliches
im Leben. Warum zeigst du nur die düstere Seite?“ Darauf konnte ich nichts
antworten. Es reizte mich eben nicht. Nur dies will ich noch einmal betonen,
daß anfänglich in sehr geringem Maße Mitleid, Mitempfinden
mich zur Darstellung des proletarischen Lebens zog, sondern daß ich es
einfach als schön empfand.“

So wie Deutschland und ganz Europa durch umstürzlerische Ideologien im
20. Jahrhundert innerlich zerrissen wurden, so zerrissen waren die Seelen der
einzelnen Menschen. Käthe Kollwitz hat uns das an ihrem Beispiel deutlich
vor Augen geführt.

Heidrun Beißwenger