Philosophische Theorien: „Was ist Realität“?

Wir wollen uns dem Phänomen der „Realität“ nähern, wissen aber nicht wo’s langgeht. Das ist kein persönliches Unvermögen. Die Situation ist eher mit einer Expedition ins Unbekannte vergleichbar, an der jeder selbst teilnehmen muss.

Ein kurzer Blick auf den Anfang der Reise

Die Evolution brachte die Welt hervor mitsamt den lebenden Wesen, und schließlich auch den Menschen mit seinem großartigen Denkwerkzeug. Im Gegensatz zum Tierhirn hat das Menschenhirn die Eigenart, Segmente aus der Umwelt im Rahmen einer Ordnungsskala, die von Null bis Unendlich reicht abzubilden und mit dem eigenen sinnlich dominierten Wesen abzugleichen.

Was ist Realität?

Somit konnte allmählich ein naturnahes Wesen auf geistigem Niveau entstehen: der innere Mensch – die Persönlichkeit. Zunächst war es der präpersonale archaische Mensch. Bei ihm war die Skala nur schwach belegt. Aber er konnte bereits die Umwelt bewusst aus der eigenen Perspektive in brauchbar und unbrauchbar, in Gut und Schlecht sortieren.

Daraus wurde nach zahllosen Generationen ein weit gefächertes Abbild von der Umwelt. Hiermit verfügte ein reifer Mensch über einen wesentlichen Vorteil im Überlebenskampf. Das setzte allmählich Kapazitäten frei, die den Realitätsmaßstab über die Grenzen der unmittelbaren Umwelt und der einfachen Existenzsicherung hinaus erweiterten.

Die Ahnung von einer geheimnisvollen Unbegrenztheit förderte den Glauben, dass die Vorfahren mit ihrer Weisheit nicht ganz verschwunden sein konnten. Irgendwo müssen sie sich unsichtbar in der Nähe aufhalten, sodass sie um Hilfe angerufen werden können.

Um sie geneigt zu machen und bei Laune zu halten, müssen Opfergaben, in Verbindung mit rituellen Handlungen, dargebracht werden. Aus Dankbarkeit und Furcht werden die jenseitigen Helfer mit feierlichen Veranstaltungen geehrt.

Die jenseitige Welt füllte sich mit guten und bösen, mächtigen und schlichten Geistern. Alles, was in der real wahrgenommenen Welt als wahr angenommen wurde, hatte sein Gegenstück in der unsichtbaren Welt, sodass der realen erlebten Welt eine nicht erlebte Gegenwelt gegenüberstand.

Diese fiktive Spiegelwelt verdoppelte den Maßstab der „Realität“. Hier traten erstmals gravierende Störungen in der Orientierung auf: Sinnliche Erfahrungswerte und pure Instinkte als alleinige Orientierungshilfe reichten nicht mehr. Als Notprogramm wurde der Verstand eingeschaltet.

Damit gelangte man in den Bereich des mythischen Zeitalters. Das ist gekennzeichnet durch eine die Welt dominierende Götterwelt mit einem Obergott an der Spitze. Der Mensch, der jetzt mit personalem Selbstbewusstsein, aber defektem Orientierungsvermögen ausgestattet war, kam in die Zeitzone der höheren Kulturen. Auf dieser mystischen Ebene entstanden Religionen. Alle Religionen gaben vor, als autorisierte Reiseleiter Orientierungssuchende sicher ans Ziel bringen zu können.

Frühe Stationen des intellektuellen Ringens

Mit den Religionen wuchs das mentale Bewusstsein. Seit der Antike wird unter Einsatz des zur Hochform entwickelten Geistes nach der „wahren Realität“ – dem Wesentlichen – gesucht. Dass die Welt, wie man sie aus Erfahrung kennt, über alles Wahrnehmbare hinausgeht, war dafür die intellektuelle Basis. Hiermit begann der geschichtliche Weg der Geistes- und Naturwissenschaften.

Zur Einführung will ich im Folgenden einige bekannte Philosophen aufzählen und kurz deren Ansätze darstellen, wie sie versucht haben das Phänomen „Realität“ zu beschreiben.

Platon (428-472 v. Chr.)

Die Materie allein existiert nicht, zur Wirklichkeit wird sie erst durch die zeitlosen Ideen, die sich in ihr manifestieren. (Dieser „Idealismus“ findet in der modernen Naturwissenschaft neue Bedeutung).

Aristoteles (384-322 v. Chr.) – ein Schüler Platons

Realität ist, was als Wirkung aus einer realen Ursache hervorgegangen ist. (Dies aber verlangt eine erste „absolute Realität“ – die bis heute nicht gefunden wurde).

René Descartes (1596-1650)

Er teilt die Realität in zwei fundamental voneinander getrennte Bereiche: den des Geistes (das denkende Ding) und den der Materie (das ausgedehnte Ding). Für beides war Gott der gemeinsame Bezugspunkt. Entsprechend der „Cartesianischen Trennung“ entwickelte sich die Wissenschaft in Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, allerdings in zunehmendem Maße ohne Bezugnahme zu Gott.

Immanuel Kant (1724-1804)

Kant bezeichnet die Außenwelt mit dem Begriff „Ding an sich“. Die sogenannte intelligible Welt ist a priori im Menschen drin. Es bedarf der menschlichen Begriffsbildung, um eine Realität im Bewusstsein entstehen zu lassen. Weil das Streben nach einer unbegrenzten Erweiterung der Erkenntnis in der Natur des Menschen liegt, entstanden Ideen wie Gott, Freiheit und Seele als absolute Begriffe, die ohne empirische Basis von der Vernunft gebildet werden.

Als Orientierungshilfe bot er den kategorischen Imperativ an: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“. Volkstümlich: „Was du nicht willst, das man Dir tu‘, das füg‘ auch keinem anderen zu“.

Deutscher Idealismus (Klassik und Romantik)

In der Vorstellung des Deutschen Idealismus (Klassik und Romantik) ist die Realität ein System des Geistes und der Natur als Einheit. Die Wirklichkeit ist bei dieser Anschauung auf ein absolutes Prinzip zurückzuführen wie zum Beispiel das Ich, die Natur oder den Weltgeist. Diese Denkweise konnte aber bei der rasanten Entwicklung der Naturwissenschaften nicht aufrechterhalten werden.

Der Realitätsbegriff heute

In der Gegenwart ist Realität zum allgemeinen Realitätsproblem geworden. Die Philosophie ist zerstritten, die Religionen nicht überzeugend, und bei der Naturwissenschaft versagen am Urgrund der Welt die traditionellen Realitätsmodelle. Der Welle-Teilchen-Dualismus der Quantenphysik zeigt im Experiment, dass weder Materie noch elektromagnetische Felder aus unteilbaren Körpern bzw. räumlich konzentrierten Energieportionen bestehen.

Die Strahlung bzw. das Feld erscheint lediglich punktförmig auf dem Bildschirm. Die Superstring-Theorie (aussichtsreichste Theorie auf dem Weg zur Weltformel) spricht von winzigen Schleifen, auch von Schleifenfragmenten.

Je nach Verwendungsweise hat der Realitätsbegriff unterschiedliche Inhalte.

Materialismus

Der Materialismus führt alle Vorgänge und Phänomene der Welt auf Materie und deren Verhältnisse und Gesetzmäßigkeiten zurück. Realität ist das, was sinnlich erfahren werden kann, alles andere bleibt außen vor.

Konstruktivismus

Der Konstruktivismus geht davon aus, dass ein erkannter Gegenstand vom Betrachter selbst durch den Vorgang des Erkennens konstruiert wird. Bildlich gesprochen kann man sagen: Diese Art der Realitätsbeschreibung ergibt Landkarten, zeigt aber nicht die Landschaft.

Schwacher Realismus

Der schwache Realismus geht davon aus, dass es zwar eine Realität gibt, diese aber nur in gewisser Beziehung zum wahrnehmenden Subjekt steht. Dieser Tatbestand lässt keine Rückschlüsse auf die Welt an sich zu. Für den Menschen existiert dann nur, was für ihn erkennbar ist. Jeder andere Rückschluss wird als Metaphysik von der Realität ausgeschlossen.

„Objektive Realität“

In der objektiven Realität werden auch soziale, ästhetische oder historische Gegebenheiten einbezogen, also abstrakte Strukturen, die vom Denken abhängen. Hierbei stellt sich die Frage, ob auch abstrakte wissenschaftliche Gegenständlichkeiten wie beispielsweise Mathematik und Logik real sind.

Pragmatismus

Im Pragmatismus gilt: Real ist, was nicht fiktiv ist. Insofern haben Naturgesetze Realität. Für Charles S. Peirce (1839-1914), der den Pragmatismus stark beeinflusst, haben auch Gesetze der Logik und Mathematik Realität. Im weitesten Sinne ist für ihn Realität das, was unabhängig von unserem Denken ist.

„Das Nicht-Analysierbare, das Nicht-Intellektuelle fließt in kontinuierlichem Strom durch unser Leben: Es ist die Gesamtheit unseres Bewusstseins, es wird in seiner Kontinuität durch eine real wirksame Kraft zustande gebracht, die hinter dem Bewusstsein steht“.

In einer bewusstseinsunabhängigen Realität werden Phänomene wie Farbigkeit, Qualität, Raum, Zeit, Gestalt von der Begriffsbestimmung ausgeschlossen, weil jedes Lebewesen entsprechend seiner arteigenen Weise die Welt anders wahrnimmt.

Kritischer Realismus

Der kritische Realismus geht von einem Erkenntnisfortschritt aus, der sich den Verhältnissen in der Außenwelt nähert. Als offener Weg kann es ein Weg zur wahren Realität sein.

Diesem Weg nah verwandt, ist der semantische Realismus.

Semantischer Realismus

Der semantische Realismus unterstellt, dass es eine von uns unabhängige Realität gibt, die von der Außenwelt mittels bestätigter Forschungsergebnisse so weit erschlossen werden kann, dass eine Beschreibung der vollständigen Realität möglich sein kann.

Gegenwärtige Stationen auf dem Weg zur Realität

Heute herrscht vorwiegend die Ansicht, dass die aus der Antike gewachsene religiös– mystische– Bewusstseinsebene ihr Ende erreicht hat. Die mentale Bewusstseinsebene beherrscht jetzt das Feld.

Wir erleben heute, dass die Ausprägung und Fortentwicklung der mentalen Fähigkeiten die Menschheit an eine Grenze führte, die sie vermöge ihres wissenschaftlichen und technischen Verstandes nicht überschreiten kann.

Damit ist die forschende Menschheit an einem Punkt angekommen, der sie zwingt, die in allen Menschen schlummernden Potenzen so weit wie möglich freizusetzen. Dispositionen wie erweitertes Geschichtsbewusstsein, Demokratie und Toleranz sind dazu gute Voraussetzungen.

Erstmals kann der Anfang der Schöpfung nachgewiesen werden. Man weiß jetzt, dass Energie die Grundlage der Materie ist, und wie sich Materie verhält. Man weiß auch, wie man lebende Substanzen manipuliert. Aber man weiß nicht, was Leben ist, auch nicht, was die Welt ist und warum sie ist.

Solange man darüber nichts weiß, geht die Expedition auf der Suche nach der Realität weiter. Immer deutlicher wird: Auf naturwissenschaftlichem Weg allein geht es nicht. Ohne die Phänomene „Leben“ und „menschliches Wesen“ einzubeziehen, wird man kaum zu einem befriedigenden Ergebnis kommen können.

Um sich dem komplexen Problem erfolgreich zu nähern, wäre eine Kombination denkbar, die aus wissenschaftlichen Erkenntnissen, dem gesunden Menschenverstand und einfachen Modellen besteht.

Entsprechend äußert sich Charles. S. Peirce „Ein moderner Physiker wird bei der Prüfung der Werke Galileis erstaunt sein, wie wenig Experimente mit der Aufstellung der Grundlagen der Mechanik zu tun hatten. Er (Galilei) beruft sich hauptsächlich auf den gesunden Menschenverstand, stets nahm er an, dass sich die wahre Theorie als einfach und natürlich erweisen wird.“

Prämissen auf der Suche nach Realität

Prämisse 1: Wir haben das Privileg, als einzige Wesen der Erde die Extreme des Seins: das Nichts und das Alles denken zu können. Tiere sind auf Teilbereiche der Natur spezialisiert. Darum sind sie mehr oder weniger unflexibel.

Prämisse 2: Leben gäbe es nicht, wenn es potenziell nicht von Anfang an in der Welt gewesen wäre.

Prämisse 3: Leben ist reflexiv, dynamisch und speicherfähig. Daraus ergibt sich für Lebewesen die Möglichkeit, ihre spezielle Umwelt als kleinen Ausschnitt von einer umfassenden Realität zu speichern und mit individuellen Lebenserfahrungen zu erweitern.

Prämisse 4: Organismen sind zentrierte und zugleich offene Systeme. Auf verschränkten Bahnen fließen ihre Lebenskräfte, in verschränkter Weise sind sie auch mit der Welt verbunden. Dieses quasi schleifenförmige System gäbe es nicht, wenn es nicht als Keim im Schöpfungsanfang gewesen wäre.

Prämisse 5: Die physikalische, biologische und geistige Welt sind unbestreitbar Realitäten und somit Teile einer höheren Realität.

Offene Fragen

Warum ist trotz dieser Fakten die Realität immer noch nicht zweifelsfrei erkannt? Könnte es sein, dass sich die Menschheit auf ihrem Weg zur Realität in der Richtung geirrt hat?

Hätte sie vielleicht anstatt hauptsächlich in die physisch-rationale Welt mehr in die geistig-seelische gehen sollen? Wahrscheinlicher ist, dass sie durch die materielle Welt hindurchgehen muss, um zuerst zu sich selbst zu kommen und dann zur brauchbaren Beschreibung von Realität gelangen kann.

Nach allem was man heute weiß, ist die Realität eine Idee vom gesamten Sein. Zweifellos ist unsere Existenz ein Teil dieser ungreifbaren Realität. Wäre dann die seit Menschengedenken gesuchte wahre Realität nur ein fleischloses Symbol des absoluten Seins?

Wäre dann die Aufgabe unseres Erdendaseins die, dass wir uns um realitätsnahe Verhaltensweisen bemühen sollten, damit wir im eigenen Interesse diesem Symbol Substanz und Leben geben?

Fragen über Fragen …

Vielleicht haben Sie in diesem Artikel mit einer „festen“ Antwort gerechnet, die ich Ihnen in dieser Weise nicht liefern möchte. Denn die Frage nach der Realität ist bis heute ein großes Geheimnis, das noch nicht gelüftet ist. Aber wer sich auf das Abenteuer einlässt, beginnt eine Reise in die tiefsten Geheimnisse unseres Seins und der Welt.

Viel Spaß beim Erforschen der Realität!

Heinz Altmann