Kunststil Performance: Was ist eine Performance (Buchrezension)?

Dieser Artikel ist eine ausführliche Rezension des Buches „Ästhetik des Performativen“ der Autorin Erika Fischer-Lichte. Hier wird die Entwicklung vom klassischen Theater bis hin zu modernen Formen der Performance nachgezeichnet.

Es werden wichtige Elemente einer Performance detailliert analysiert und in einen übersichtlichen Zusammenhang gebracht. Das Buch beschäftigt sich mit der relativ jungen Entwicklung – der Performance – die aus dem klassischen Theater entstand. Als Einstimmung auf das Thema „Performance“ sei zunächst ein kleiner geschichtlicher Zusammenhang gegeben, der die Entwicklung vom Theater hin zur Performance näher erläutert.

Geschichtlicher Wandel im Denken – vom Theater zur Performance

Im 18. Jahrhundert hat sich die Vorstellung: das Theater diene als moralische Anstalt und Aufführungsort „textueller“ Kunst, durchgesetzt. Im 19. Jahrhundert schien der Kunstcharakter des Theaters ausschließlich durch seinen Bezug auf dramatische bzw. literarische Kunstwerke beschränkt zu sein. Goethe formulierte den Gedanken, dass es die Aufführung sei, dem der Kunstcharakter zugesprochen werden müsse. Der Kunstcharakter einer Aufführung war im 19. Jahrhundert durch den ihr zugrunde liegenden Text beglaubigt. Daher war das Theater lange Zeit Gegenstand der Literaturwissenschaften.

antikes Theater und PerformanceDoch gab es später immer wieder Versuche, die Definition des Theaters zu erweitern, z. B. von Herrmann, der es als „Spiel Aller für Alle“ beschrieb. Es gibt Regeln, die zwischen den Beteiligten (Akteuren und Zuschauern) ausgehandelt werden, sodass die Aufführung durch die Interaktion zwischen den Akteuren und Zuschauern hervorgebracht wird. In diesem Sinne steht das interaktive Theater der Performance dem klassischen „Guckkastentheater“ als neuartige Entwicklung gegenüber.

Ebenfalls fällt die festgelegte Positionierung – Publikum gegenüber den Schauspielern – weg und kann in der Performance völlig frei definiert werden. Der Ablauf eines Theaterstückes hingegen sollte nach der klassischen Auffassung des 18. bis 19. Jahrhunderts planbar bzw. vorhersagbar sein. Man setzte auf die Disziplinierung des Zuschauers. Theatergesetze wurden erfunden, um „Fehlverhalten“ zu unterbinden. Die Erfindung der Gasbeleuchtung wurde genutzt, um die größte Störquelle zu beseitigen, die Sichtbarkeit des Zuschauers. Die Feedback-Schleife zwischen Akteur und Zuschauer sollte unterbrochen werden.

Zum Beginn des 20. Jahrhunderts kam mit der Rolle des Regisseurs auch die Rolle des Publikums stärker in den Blick, d. h. die Regie erstreckte sich ausdrücklich auf das Zuschauerverhalten. Die Feedback-Schleife sollte organisiert und gesteuert werden. Die Aufgabe der Theaterführung wurde als „die Formung des Zuschauers in eine bestimmte Richtung (Gestimmtheit)“ definiert.

Mit der performativen Wende in den 60ern ging eine veränderte Grundhaltung gegenüber der Kontingenz einher. Sie wurde als Bedingung der Möglichkeit von Aufführungen akzeptiert und begrüßt. Dabei verschob sich das Interesse an einer möglichen Kontrolle des Zuschauers hin zu einem besonderen Modus der Autopoiesis: Interaktionen zwischen den Beteiligten einer Aufführung.

Damit richtete sich das Interesse explizit auf die Feedback-Schleife als selbstbezügliches autopoietisches System mit prinzipiell offenem Ausgang, welches sich durch Inszenierungsstrategien weder unterbrechen noch gezielt steuern lässt.

Wurzel des Theaters – Ritual und Mythos

Ein weiterer wichtiger Anknüpfungspunkt bei der Entstehung der Performance waren Überlegungen zur Aufführung von Ritualen und Mythen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nahm man an, dass der Mythos das Primäre war, welches vom Ritual nur „bebildert, illustriert und aufgeführt“ wird. Später brachte William Robertson Smith die These auf, dass der Mythos lediglich der Deutung des Rituals diene und daher sekundär sei.

Der Mythos wird aus dem Ritual hergeleitet und nicht umgekehrt. Rituale haben einen festgelegten Ablauf, während deren Mythos veränderlich ist. Rituale sind Sache der religiösen Pflicht. Der Glaube am Mythos steht im Belieben des Menschen. Ein Ritual verbindet die Beteiligten zu einer Gruppe bzw. Gemeinschaft und schafft soziale (oder auch politische) Bindungen.

Welche Funktion hat der Schauspieler?

Schauspieler und PerformanceDie Funktion eines Schauspielers bestand aus früherer Sicht, bis Ende des 18. Jahrhunderts, im Spielen einer Rolle. Der Schauspieler verkörpert seine Rolle. Worum geht es? Der Schauspieler sollte nicht mehr länger spielen, wie es ihm seine Spielfreude, sein Improvisationstalent, sein Witz, sein Genie oder seine Eitelkeit vorgaben. Seine Aufgabe sollte darauf beschränkt werden, die Bedeutungen, die der Autor vorgab, dem Publikum zu vermitteln. Ein guter Schauspieler bringt diese Vorgaben mit seinem Körper zum Ausdruck. Damit rückte die Idee der Darstellung in den Vordergrund.

Für den Zuschauer sollte der Schauspieler ein „semiotischer“ und kein „leiblicher“ Körper sein, damit die Illusion des Theaters aufrechterhalten werden konnte. Die Sprache wurde als Medium gesehen, die Bedeutung möglichst unverfälscht zu vermitteln. Die Rolle des Körpers wurde eher als untergeordnet, vielleicht sogar als störend betrachtet.

Simmel (1923) widersprach dieser Auffassung und sagte, dass der reine Text nur das literarisch Erfassbare eines Menschen, aber ihn niemals als Ganzes wiedergeben kann. Es fehlen Mimik, Gestik, Tonfall etc., die wir von lebendigen Menschen kennen. Sprachliche Zeichen lassen sich nicht auf körperliche Zeichen übertragen. Wie der Schauspieler seine Rolle verkörpert, ist somit kontingent.

Neudefinition von Emergenz und Bedeutung

Im herkömmlichen Theater galt der primäre Blick der Bedeutung eines Stücks, die vom Text her vorgegeben war. Die Aufgabe der Aufführung war lediglich, die entnommene Bedeutung mit theatralen Mitteln auszudrücken und dem Publikum zu vermitteln.

Die Aufgabe der Akteure bestand darin, die richtigen Bedeutungen angemessen auszudrücken. Die andere Richtung – beispielsweise durch die Vertreter der historischen Avantgarde repräsentiert – verlangte im Gegenzug, die Bedeutung ganz aus dem Theater zu entfernen.

Italienische Futuristen wollten das Theater in ein Haus der Schockwirkungen, des Rekords und der körperlichen Tollheit verwandeln. In der Sowjetunion gab es Ansätze, das Theater durch den Rekurs auf den Zirkus zu verändern. Die historische Avantgarde wollte durch eine Reduktion des Theaters der reinen Materialität auf die Bedeutungsbildung vom Akteur hin zum Zuschauer verschieben. Ihre Wirkungsästhetik verlangt daher den Verzicht auf jegliche Bedeutungskonstitution durch die Akteure.

Was heißt Performance?

Nach diesem Ausflug in die Geschichte des Theaters kann man die Entwicklungslinien oder Grundideen, die zur Performance führten, leichter nachvollziehen. Doch noch haben wir nur offene Fragen aufgeworfen, ohne zu klären, was der Begriff der Performance eigentlich bedeutet.

Performance leitet sich vom Verb „to perform“ – vollziehen – ab, d.h., man vollzieht Handlungen. Eine Performance realisiert sich in der Aufführung und in den Aktivitäten und dynamischen Prozessen beider Parteien (Zuschauer/Darsteller).

Die Aktivität eines Beteiligten (Zuschauers) soll nicht lediglich als kognitive Tätigkeit verstanden werden, sondern als „leiblicher Prozess“. Dieser Prozess wird durch die Teilnahme an der Aufführung in Gang gesetzt. Die Emergenz ist wichtiger als das, was geschieht, bzw. dessen Bedeutung. Daher ist der Ablauf einer Performance niemals vollständig vorhersag- oder planbar.

Die Aufführung ist immer ein soziales Ereignis. In ihr geht es – wie verborgen auch immer – um die Aushandlung oder Festlegung von Positionen, Beziehungen und damit um Machtverhältnisse. Hier sind Ästhetik, Soziales und Politisches untrennbar miteinander verknüpft. Diese Verknüpfung ist durch die leibliche Ko-Präsenz von Zuschauern und Akteuren garantiert. Der Rollenwechsel – der Akteur kann zum Zuschauer werden und umgekehrt – bringt die scheinbare Dichotomie von Ästhetik und Politik zum Kollabieren. Beide Seiten können sich manipulieren.

Die klare Trennung zwischen Subjekt (Zuschauer) und Objekt (Theaterstück oder Schauspieler) soll aufgehoben werden, bzw. oszillieren. Der Zuschauer wird zum Akteur – er wird ein Teil der Aufführung. Allerdings ergibt sich dadurch auch die Möglichkeit, dass Zuschauer sich weigern teilzunehmen, d. h. auf ihren Status des „Zuschauers“ beharren, was einen seltsamen performativen Widerspruch ergibt. Denn durch ihre Weigerung werden sie ebenfalls Teil des Schauspiels, was sie eigentlich zu verhindern suchen.

Die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern soll als Basis der Gemeinschaftsbildung zwischen beiden fungieren. Bei der Bildung einer Gemeinschaft geht es darum, die ehemaligen Zuschauer an Erfahrungen zu beteiligen und so entsprechende Veränderungsprozesse zu initiieren. Die Gemeinschaft entsteht durch gemeinsames Handeln und Erleben. Je nach Art der Performance (den Bedingungen, die für „Zuschauer“ gesetzt werden) können diese die Gemeinschaft als real, fiktiv oder inszeniert erleben. Die Grenzen zwischen künstlerischer Aktion und sozialem Ereignis sind fließend. Diese Art der Gemeinschaftsbildung ist von vornherein temporär und zerfällt, sobald die Aufführung endet.

Kunst was ist PerformanceDie gegenseitige Berührung kann eine Bildung einer Gemeinschaft initiieren oder festigen. Die Berührung war im ursprünglichen Theater nicht gewollt, da man befürchtete, dass sie die Illusion des Spiels gefährdet. Die Berührung zwischen Akteur und Zuschauer birgt die „Gefahr“, das Reale in die Fiktion einbrechen zu lassen. Dagegen setzt das reine Schauen den Fokus auf die Fiktion (Rolle der Akteure) und richtet sich nicht auf die Person des Akteurs. Berührung kann so die Dichotomie von Öffentlichkeit und Privatheit zum Kollabieren bringen.

Der Blick fängt die sichtbaren Dinge ein, er tastet sie ab und vereint sich mit ihnen. Insofern haben bzw. können auch Blicke eine intime Note haben. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass jedes Sichtbare aus dem Berührbaren resultiert, dass jedes taktile Sein aus der Beobachtung stammt und dass es ein Übergreifen und Überschreiten nicht nur zwischen dem Berührten und dem Berührenden gibt. Dieses intime Verhältnis offenbart sich zwischen dem Berührbaren und Sichtbaren. Derselbe Leib sieht und berührt. Deshalb gehören Sichtbares und Berührbares derselben Welt an. Teilweise benutzt die Autorin den Begriff „Berühren“ auch als Metapher – z. B. wie Abramovics Gewaltorgien Zuschauer „berühren“ – im Sinne der Erzeugung von Intensitäten oder Gefühlen.

Der Zuschauer soll mit in das „Ereignis“ der Performance einbezogen werden. Und mehr noch: Er soll in einen Zustand der Liminalität (Schwellenerfahrung) geführt werden, d. h. die Performance als lebendige Erfahrung begreifen.

Der Begriff der Liminalität wurde von dem Ethnologen Victor Turner geprägt und beschreibt den Schwellenzustand, in dem sich Individuen oder Gruppen befinden, nachdem sie sich rituell von der herrschenden Sozialordnung gelöst haben oder ihren sozialen Status wechseln.

Turner unterscheidet bei den Übergangsriten drei Phasen:

  • die Trennungs-,
  • die Schwellen-
  • und die Angliederungsphase.

Als Beispiel dafür kann die Konfirmation oder Jugendweihe angeführt werden. Um den Zuschauer an diese Schwellenerfahrung heranzuführen, waren verschiedene Faktoren der Aufführung neu zu bedenken oder neu zu definieren.

Hermeneutische Ästhetik versus Performance!?

Hermeneutische Ästhetik zielt darauf ab, ein Kunstwerk zu verstehen, während es in einer Performance kein festgelegtes Ziel des Verstehens gibt. Eine Performance ist zwar deutbar, aber die Kontingenz der Deutung ist schon im Ereignischarakter (und dessen Variabilität und Einmaligkeit) angelegt. Im Gegenteil kann es bei der Performance sogar gewollt sein, dass die Beteiligten ihre Erfahrung nicht vor Ort durch Reflexion erschließen können.

Die Trennung der hermeneutischen Ästhetik zwischen Subjekt und Objekt soll in der Performance aufgehoben werden. Der Künstler schafft in der hermeneutischen Ästhetik ein von ihm ablösbares, fixierbares und tradierbares Objekt. Es ist die Voraussetzung, dass ein beliebiger Rezipient es zum Objekt seiner Wahrnehmung und Interpretation machen kann. Die Performance lebt von ihrer Einmaligkeit bzw. von „hic et nunc“. Sie ist daher nicht in derselben Form wiederholbar.

In der Performance gibt es keine festgelegte Subjekt-Objekt-Relation (Darsteller – Zuschauer). Ein Oszillieren dieser beiden Seiten ist gewollt (Zuschauer wird zum Darsteller und umgekehrt). In der hermeneutischen Ästhetik (bzw. semiotischen Ästhetik) gilt das Werk als Zeichen, welches erklärt und gedeutet werden soll. Jedes Element wird zum Signifikanten, dem sich Bedeutungen zusprechen lassen.

Die Performance hingegen ist kein Objekt (statisches Werk) sondern ein Ereignis. Die Deutung einer Performance liegt im Ereignis selbst bzw. in den Wirkungen, die es beim Zuschauer/ Akteur auslöst: seinem Erleben des Ereignisses. So wird für den „Zuschauer“ der Besuch einer Aufführung häufig gleichzeitig zu einer Teilnahme derselben, indem er durch seine pure Anwesenheit zum Mitakteur wird. In der Performance wird oft versucht, intensive Emotionen bei den Beteiligten durch Tabubrüche (beispielsweise durch nackte Akteure – oder Akteure, die sich unkonventionell oder provokativ verhalten) zu erzeugen. Damit soll die Passivität des Zuschauers (als unbeteiligter Rezipient) gebrochen werden.

Letztlich ist jedoch festzuhalten, dass das klassische Theater die gleichen Bedingungen – in puncto Ereignishaftigkeit – erfüllt, wie eine Performance. Auch das klassische Theater mit seinen Rollen und fiktiven Welten ist ein Ereignis und „nicht nur“ ein literarisches Werk. Die Ereignishaftigkeit im klassischen Theater zeigte sich beispielsweise in der Katharsis, nämlich darin, intensive Gefühle beim Zuschauer zu erzeugen.

Rolle der Körperlichkeit in der Performance

Performer Kunststil PerformanceDas „Material“ des Künstlers ist sein Körper. Der Schauspieler hat die Fähigkeit seinen Körper zu manipulieren und instrumentalisieren, während dieser doch gleichzeitig sein Leib bleibt.

Bei der Verkörperung kommt es darauf an, wie der Schauspieler durch seinen Körper der Rolle einen Ausdruck gibt. Hierzu zählen Gestik, Mimik, Tonfall, welche gleichberechtigt neben dem Text einem Stück einen bestimmten Charakter verleihen. Im 18. Jahrhundert war mit Verkörperung gemeint, dass der Schauspieler seinen sinnlichen Leib, soweit möglich, in einen „semiotischen Körper“ transformieren soll. Die Bedeutungen, die der Dichter im Text zum Ausdruck gebracht hatte, sollten im Leib des Schauspielers einen neuen wahrnehmbaren Zeichen-Körper finden, in dem möglichst alles ausgelöscht war, was von der intendierten Bedeutung abwich.

Nach neuerem Verständnis der Performance ist der menschliche Körper nicht ein Material wie andere Materialien, beliebig bearbeitbar und formbar, sondern ein lebendiger Organismus, der sich beständig im Werden befindet, im Prozess einer permanenten Transformation. Für ihn kann es kein Ist-Zustand geben. Er kennt Sein nur als Werden, als Prozess, als Veränderung.

Der Schauspieler/Performer transformiert seinen Leib nicht in ein Werk, sondern vollzieht vielmehr Prozesse der Verkörperung. In diesen Prozessen wird der Leib ein anderer. Er transformiert sich, schafft sich neu und ereignet sich damit in der Aufführung. Mit dieser Idee wurde das Theater bzw. die Aufführung zu einer eigenständigen Kunstform und fungierte nicht mehr nur als Abziehbild eines Textes des Autors (Literaturtheater).

Der Materialcharakter des Akteurs steht bei der Performance im Vordergrund. Der Impuls, den ein Schauspieler mit seinem Körper erzeugt, soll eine Resonanz beim Zuschauer auslösen und damit neue Bedeutungen generieren.

Welche Rolle spielt die Körperlichkeit in der Performance?

  • Umkehrung des Verhältnisses von Darsteller und Rolle
  • Hervorhebung und Ausstellung des individuellen Darstellers
  • Betonung von Verletzlichkeit, Gebrechlichkeit, Unzulänglichkeit des Körpers des Darstellers
  • Cross Casting (Frau spielt männliche Rolle – mehrdeutige Rollen General/Schönheitskönigin – Fixierbilder: Umspringen der Wahrnehmung – Umspringen: Leib/ Rolle)

Es kann auch bei der Performance (Verkörperung) um die „reine Wirkung“ eines Körpers gehen (Bewegungen, Rhythmik etc.). Bei Selbst-Verstümmelungs-Performances ist der Körper der Prozess bzw. stellt ihn dar.

Ein weiterer Aspekt der Körperlichkeit ist die Präsenz der Beteiligten. Präsenz entsteht durch die Gegenwärtigkeit des Leibes eines Akteurs/Beobachters. Nackte Körper lösen Begierden aus. Präsenz wird von der Autorin auch im Sinne von Charisma verstanden, z. B. bei Gründgens, der scheinbar den gesamten Raum des Theaters beherrschte, wenn er die Bühne betrat. Präsenz ist keine expressive, sondern eine performative Qualität, eine intensive Erfahrung von Gegenwart.

Manche behaupten, dass Präsenz ein Element von Glückserlebnissen darstellt – ein Bedürfnis, wo wir die Gegenwart vollends spüren wollen und in ihr aufgehen – sie sich nachträglich und nachhaltig als Ereignis einprägt. Der Gegenbegriff könnte Repräsentation sein, bei der ein Schauspieler möglichst vollständig einen semiotischen Körper (Rolle) verkörpern will. Der Unterschied der Wirkung ist folgender: Präsenz produziert ein eindringliches gegenwärtiges Ereignis, während Repräsentation eine Fiktion erschafft. Ein „als ob“ wird als fiktive Welt geschaffen.

Bei der Präsenz soll der Leib des Darstellers „Energien erzeugen“ und an das „Publikum“ weitergeben. Unerwartetes Handeln kann Präsenz intensivieren. Damit will man eine Reaktion beim Zuschauer erzeugen. Sie soll die Körper-Geist-Differenz aufheben, einen „embodied mind“ erzeugen. Auch Objekte können mit ihrer Präsenz einen Raum prägen oder beeinflussen.

Fischer-Lichte nennt drei Abstufungen von leiblicher Präsenz:

Das schwache Konzept von Präsenz

Neben der Gegenwärtigkeit der dargestellten Ereignisse dient im schwachen Konzept der Präsenz, der Körper des Darstellers als Quelle für die Wirkung der Aufführung. Es wird beispielsweise unterstellt, dass der Körper des Darstellers auf das jeweilig andere Geschlecht eine erotische Wirkung ausübt und den Zuschauer verführt.

Das starke Konzept von Präsenz

Die Beherrschung des Raumes durch den Akteur und die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf ihn wird als das starke Konzept von Präsenz bezeichnet. Der Zuschauer spürt die Präsenz eines Schauspielers – oder besser – sie ergreift ihn blitzartig, als ein Strom der Magie, der ihm unvorhergesehen erscheint, nicht in seiner Gewalt begreiflich und ihn dennoch ganz ergreifend – eine intensive Erfahrung der Gegenwart.

Das radikale Konzept von Präsenz

Wenn ein Schauspieler seinen phänomenalen Leib als einen energetischen hervorbringt und so Präsenz erzeugt, dann tritt er dadurch als „embodied mind“ in Erscheinung, d. h. als ein Wesen, bei dem Körper und Geist/Bewusstsein sich überhaupt nicht voneinander separieren lassen, sondern eins mit dem anderen immer schon gegeben ist.

In der Präsenz des Darstellers erfährt der Zuschauer den Darsteller und zugleich sich selbst als „embodied mind“, als dauernd Werdenden. Die zirkulierende Energie wird von ihm als transformatorische Kraft – und in diesem Sinne als Lebenskraft – wahrgenommen.

Die Magie der Präsenz besteht also in der besonderen Fähigkeit des Darstellers, Energie in einer Weise zu erzeugen, dass sie für den Zuschauer spürbar im Raum zirkuliert und ihn leiblich erfasst. Diese Energie ist Kraft, die vom Darsteller ausgeht.

Insofern sie den Zuschauer dazu animiert, selbst Energie hervorzubringen, empfindet dieser den Darsteller als Kraftquelle, eine Kraftquelle, die plötzlich und unerwartet entspringt, sich zwischen Darsteller und Zuschauer ergießt und beide zu transformieren vermag.

Eine Ästhetik des Performativen ist in diesem Sinne eine Ästhetik der Präsenz, nicht nur der Präsenz-Effekte (wie in Kinofilmen) bzw. keine Ästhetik des „Scheins“.

Räumlichkeit in der Performance

Performance GeschichteDer Raum wird durch die Aufführung hervorgebracht. Einerseits ist damit der geometrische Raum gemeint, aber er kann auch als ein „performativer Raum“ verstanden werden. Theaterräume sind paradigmatisch als performative Räume gedacht. Der performative Raum eröffnet Möglichkeiten der Wahrnehmung. Er legt als Aufführungsraum das Verhältnis zwischen Akteur und Zuschauer, Bewegung und Wahrnehmung fest. Er organisiert und strukturiert diese Möglichkeiten.

In einer Performance will man jedoch nicht mehr nur das alte „Guckkastentheater“, sondern den performativen Raum neu bestimmen und eine klare Abgrenzung (zwischen Zuschauer und Akteuren) vermeiden oder einfach mit anderen/ungewohnten Raumaufteilungen spielen. Seit den sechziger Jahren wurden auch andere Räume – Fabriken, Schlachthäuser, Markthallen – als performative Räume genutzt. Jeder Raum hält unterschiedliche Möglichkeiten zur Aushandlung der Beziehung zwischen Akteuren und Zuschauern bereit.

Die Autorin nennt drei Methoden, um die Performativität eines Raumes zu intensivieren:

1. Die Verwendung eines fast leeren Raumes mit variablen Arrangement, der beliebige Bewegungen von Akteuren und Zuschauern zulässt.
2. Experimentelle Arrangements, die bisher unbekannte Beziehungen zwischen den Beteiligten ermöglichen.
3. Verwendung vorgegebener und sonst anderweitig genutzter Räume (Fabrik), deren spezifische Möglichkeiten erforscht werden.

Jeder Raum – Bunker, Fabrik, Theater – hat von sich aus eine bestimmte Atmosphäre. Auch beim klassischen Theater soll für die Aufführung eine spezifische Atmosphäre geschaffen werden. Beim performativen Raum ist der Gesamteindruck eines Raumes gemeint, der beim Betrachter erzeugt wird. Atmosphären sind dem performativen Raum zu eigen, nicht dem geometrischen.

Böhme beschreibt sie als „Sphären der Anwesenheit“, welche leiblich erspürt werden können und zwischen Subjekten und Dingen entstehen. Der Atmosphäre eines Raumes kommt ein ähnlich hoher Stellenwert zu, wie Präsenz bei der Verkörperung. Einer Atmosphäre wird man emphatisch gegenwärtig. Neben der geometrischen Gestaltung und Ausstattung eines Raumes spielen auch Gerüche eine Rolle. Ebenso kann man Licht, Lichteffekte und Geräusche zur Schaffung einer spezifischen Atmosphäre nutzen.

Lautlichkeit in der Performance

Lautlichkeit ist paradigmatisch für die Flüchtigkeit von Aufführungen. Lautlichkeit ist prädestiniert, psychologische und affektive Reaktionen auszulösen. Schon das Theater war nie nur ein „Schauraum“ sondern immer gleichzeitig ein „Hörraum“. Lautlichkeit entsteht nicht nur durch Sprache, sondern auch durch Musik, Geräusche, Geräuschimitationen oder Soundeffekte. Musik hat eine dramaturgische Funktion, die darauf abzielt, den Zuschauer von einer Gemütsbewegung in eine andere zu führen.

Im 18 Jahrhundert wurden nur solche Sounds als Hör-Raum des Theaters begriffen, die von den Darstellern, Musikern und Technikern bewusst hervorgebracht wurden. Zuschauer-Geräusche galten damals als störend oder unerwünscht. Bei der Klavierperformance von John Cage wurde jedoch kein Ton des Klaviers angeschlagen, sondern nur mit Umgebungsgeräuschen und dem Auf- und Zuklappen des Klavierdeckels gearbeitet. Hier wurde also mit Geräuschen gearbeitet, die sonst so weit wie möglich vermieden werden sollten. Lautlichkeit erzeugt immer auch Räumlichkeit, ein bekanntes Phänomen für Musiker, die beispielsweise durch Effektgeräte (z. B. einem Hall) ihre Musik in einem „künstlichen Raum“ erklingen lassen.

Stimmlichkeit bringt neben der Räumlichkeit auch Körperlichkeit hervor. In ihr entstehen alle drei Arten von Materialität: Körperlichkeit, Räumlichkeit und Lautlichkeit. In vielen Aufführungen wird die Stimme nur als Sprache oder Gesang hörbar. Damit soll sie Bedeutungen hervorheben oder durch Betonung den Sinn eines Satzes unterstreichen. Es lassen sich auch performative Brüche gestalten, in dem Wort und Gestik Unterschiedliches ausdrücken, wobei die Interpretation oder Erfahrung des Rezipienten naheliegt, dass man mit Worten leichter Lügen kann, als mit dem Körper und so ein scheinbarer Widerspruch konstruiert wird.

In Performances wird auch mit Verfremdungseffekten – teils mithilfe von Technik – gearbeitet, um Möglichkeiten von Stimmen, Verzerrungen etc. auszuloten. Allerdings fungiert hier die Stimme oftmals mehr als „Klang-“ und nicht mehr als Bedeutungsträger, wie im klassischen Theater.

Strukturierung der Zeit in der Performance

Ein Aspekt der Zeitlichkeit ist die Dauer und zeitliche Strukturierung der Aufführung, also Länge der Aufführung und Pausen (Vorhang öffnet sich und fällt). Ein Beispiel sind die Time brackets: Hier wurden vom Regisseur nur Zeitspannen festgelegt, in denen Akteure etwas tun, jedoch nicht was sie tun sollen. Da verschiedene Aktionen in der gleichen Zeiteinheit abliefen, jedoch kein thematischer Zusammenhang bestand, war für den Zuschauer keine übergeordnete Idee oder Intention erkennbar. Jede Aktion stand nur für sich. Daraus entwickelten sich zusammenhangslose Zeit-Inseln mit einem eigenen Rhythmus, Tempo und Intensität.

Rhythmus

Der Rhythmus setzt die Körperlichkeit, Räumlichkeit und Lautlichkeit zueinander in ein bestimmtes Verhältnis. Er hat eine besondere Bedeutung für die Organisation und Strukturierung von Zeit. Er regelt die Abläufe von Szenen, das Sprechen, die Bewegung, etc. und entsteht durch Wiederholung und Abweichung.
Im Beispiel der Time Brackets zerreißen unterschiedliche Rhythmen die Einheit und schaffen so unterschiedliche Zeitinseln. Rhythmus ist der Zeitgeber für Erscheinen und Verschwinden der Materialitäten in einer Aufführung. Auch der menschliche Körper ist rhythmisch gestimmt (Herzschlag, Kreislauf etc.). Im Rhythmus werden die performative Hervorbringung von Materialität und Autopoiesis der Feedbackschleife für den Zuschauer wahrnehmbar aufeinander bezogen und füreinander produktiv gemacht.

Welche Rolle spielt die Bedeutung in einer Performance?

Performance AufführungBetrachte ich eine Aufführung unter dem Aspekt der Materialität, so suche ich nicht nach einer bestimmten Bedeutung, sondern lassen die einzelnen Aktionen als solche stehen. Eine Geste ist eine Geste, nichts weiter. Die Bedeutung entsteht im und als Akt der Wahrnehmung. Mit einer Darstellung – ohne semiotischen Körper – wird die Interpretation selbstreferentiell. Entweder erzeugt der Betrachter eine Bedeutung oder es gibt keine. Bewusste Wahrnehmung erzeugt immer Bedeutung. Sinnliche Eindrücke lassen sich von daher immer als Bedeutung wiedergeben.

Das Phänomen kann auch als Signifikant (Zeichenmittel) wahrgenommen werden, mit dem sich unterschiedliche Signifikate (Deutungen) verbinden lassen. Beiden Arten der Bedeutungserzeugung ist gemein, dass sie nicht auf der Basis eines intersubjektiv gültigen Codes bzw. einer konventionell begründeten Zuordnung vollzogen werden. Materialität, Signifikant und Signifikat fallen zusammen. Der Beteiligte assoziiert – er erzeugt Bedeutung durch seine eigene Erfahrung, Erlebtes oder Gelerntes.

Im klassischen Theater wird die Repräsentation einer fiktiven Welt (eines festgelegten Werkes) angestrebt, während bei einer Performance ein bestimmtes Verhältnis zwischen Zuschauer und Darsteller erzeugt werden soll.

Präsenz und Repräsentation

Beide Begriffe wurden lange Zeit als gegensätzlich verstanden. Präsenz wurde dabei als Unmittelbarkeit verstanden, als Erfahrung von Fülle und Ganzheit, als Authentizität. Repräsentation dagegen wurde als Macht und Kontrollinstanz gesehen. Sie wurde festgelegt und war starr in ihrer Bedeutung. Das erschien deshalb problematisch, da sie in ihrer Zeichenhaftigkeit nur einen Zugang zur Welt vorsah.

Da der Schauspieler durch sein leibliches In-der-Welt-sein erst eine Rolle entstehen lässt, können Präsenz und Repräsentation nicht eindeutig getrennt werden. Durch das Spielen einer Rolle bildet der Schauspieler nicht etwas Gegebenes nach, sondern erschafft erst durch seinen Akt etwas Einmaliges und Neues.

Abschlussgedanken zur Performance

Das Theater, welches auf einem festen Handlungsablauf beruht und eine strikte Trennung zwischen Akteur und Zuschauer vorsieht, kann als Werk betrachtet werden. Es steht für sich und ist innerhalb bestimmter Grenzen wiederholbar. Eine Performance hingegen ist vom Ablauf nicht planbar – also immer eine Erstmaligkeit – und enthält zudem keine feste Bedeutung, sondern stellt lediglich ein punktuelles Ereignis dar, welches von den Beteiligten erlebt wird. Der „Genie-Kult“ (genialer Schauspieler, Autor) ist auf Werke beschränkt, da bei Performances alle Beteiligten Mit-Schöpfer des Ereignisses sind, d. h. keine klare Grenze gezogen werden kann, wer für eine gelungene Aufführung verantwortlich ist.

Dennoch handelt es sich – sowohl beim klassischen Theater, als auch bei einer Performance – um ein Ereignis. Man versuchte zwar lange Zeit beim klassischen Theater, die Aufführung zu kontrollieren. Es fiel jedoch bald auf, dass der Zuschauer über die Feedback-Schleife die Aufführung entscheidend mitgestaltet. Bei der Performance soll dem Zuschauer oder besser allen Beteiligten von Anfang an ihre Gestaltungsmacht bewusst werden.

Auch wenn die Künstler daran arbeiten die Grenzen zwischen Kunst und Leben, zwischen dem Ästhetischen und dem Sozialen, Politischen, Ethischen zu überschreiten, vermögen die von ihnen initiierten Aufführungen wohl auf die Autonomie der Kunst zu reflektieren, aber nicht aufzuheben.

Die Kunst sollte sich nach Fischer-Lichte unabhängig von außerkünstlerischen, gesellschaftlichen, ökonomischen Interessen und Zwängen als ein eigenständiger Bereich etablieren und sich nach eigenen Gesetzen und Regeln weiterentwickeln. Diese Autonomieästhetik steht im Dienste eines höheren Zwecks, der Vervollkommnung des Menschen.

Die Ästhetik des Performativen zielt darauf, Grenzen in Schwellen zu verwandeln und damit auf die Kunst des Übergangs, des Überquerens von Schwellen.

Die Aufführung ist in dieser Hinsicht als Leben selbst und als sein Modell zu begreifen:

  • als das Leben selbst, insofern sie die Lebenszeit der an ihr Beteiligten (Akteuren und Zuschauern) real verbraucht und ihnen Gelegenheit gibt, sich ständig neu hervorzubringen;
  • als ein Modell des Lebens, insofern sie die Prozesse in besonderer Intensität und Auffälligkeit vollzieht, sodass sich die Aufmerksamkeit aller an ihr Beteiligten auf sie richtet.

Es ist unser Leben, das in der Aufführung in Erscheinung tritt, gegenwärtig wird und vergeht. Was sich in Aufführungen ereignet, lässt sich zusammenfassend als eine Wiederverzauberung der Welt und eine Verwandlung der Beteiligten beschreiben. Diese Wiederverzauberung kann nicht durch einen Rückfall in das religiöse Weltbild des 17. Jahrhunderts erzeugt werden, sondern hat mit der Idee der Performance eine neue Qualitätsstufe erreicht.

In der heutigen Zeit ist ein neuer Zauber in Erscheinung getreten. Die Wissenschaft vermittelt die Überzeugung, dass die Welt von unsichtbaren Kräften durchzogen ist, die auf uns einwirken, ohne dass wir sie zu sehen oder zu hören vermögen, obwohl wir ihre Auswirkungen körperlich spüren können. Der Mensch vermag diese unsichtbaren Kräfte, welche die Welt durchwirken, letztendlich nicht in seine Gewalt bringen. Auch wenn er sie zu beherrschen und zu bestimmen sucht, wird er sich immer zugleich von ihnen beherrschen und bestimmen lassen müssen.

Indem die Ästhetik des Performativen die Grenzen der Aufklärung markiert, die zur Beherrschung der Welt dichotomischer Begriffspaare bedarf, indem sie den Menschen als „embodied mind“ in Erscheinung treten lässt, erweist sie sich als neue Aufklärung. Sie fordert den Menschen dazu auf, sich im Leben „aufzuführen“, wie es ehemals nur Schauspielern im Theater möglich war. Damit kann der einzelne Mensch sein eigenes Leben als Kunstwerk begreifen, das es Wert ist in Erscheinung zu treten.

Heiko Diadesopulus