Scripted Reality: Pseudo-Dokus schaden TV-Zuschauern

Am 21. November fand der Welttag des Fernsehens statt. Der Begriff »Fernsehen« beinhaltet die Metapher, auch »in die Ferne zu sehen«.

Niveau Fernsehsendungen SoapsProgramme und Sendungen können demnach den eigenen Horizont in vielerlei Hinsicht erweitern. Leider wird dieser Punkt am deutschen Fernsehnachmittag immer regelmäßiger vernachlässigt.

Fremde Menschen streiten in der Öffentlichkeit, dass nur so die Fetzen fliegen.

Sogenannte Pseudo-Dokus werden in Millionen von Wohnzimmern übertragen, angeblich mit erfolgreicher Resonanz. Doch was steckt hinter diesem gewollt amateurhaften Format?

Was sind »Scripted Realities«?

Nachdem nachmittägliche Talkshows (auch »Daily Talks« genannt) in den 1990ern regelrecht wie Pilze aus dem Erdboden schossen und nach der Jahrtausendwende zunehmend an Interesse der Öffentlichkeit verloren haben, mussten sich pfiffige Fernsehredakteure ein neues Quoten-Wunder ausdenken. Dabei galt natürlich die Regel: wenig Kosten, viel Umsatz.

Die »Scripted Realities« waren geboren. Sie bedienen sich ganz einfacher Methoden: Es wird dem Zuschauer eine reale Geschichte mit realen Menschen vorgegaukelt. Bei diesen Pseudo-Dokus handelt es sich jedoch stets um vorgeschriebene Drehbücher, die von Laiendarstellern vor der Kamera ebenso laienhaft umgesetzt werden.

Natürlich behaupten die Macher nicht, sie seien zu 100% aus dem Leben dokumentiert, gehen allerdings auch nur dezent mit dem Gegenteil um. Irreführenderweise werden solche Sendungen nämlich oft als Doku-Soaps bezeichnet. Man muss sich schon den Abspann genau ansehen, um einen Vermerk wie »Die Geschichten sind frei erfunden« entdecken zu können.

Eine Dokumentation oder Doku-Soap benötigt diesen Vermerk nicht, denn sie beschreibt im strengen Sinne eine echte Doku-Reihe, die z. B. eine Person durch einen Teilabschnitt ihres Lebens begleitet, ohne dass sich das Produktionsteam in den Inhalt einmischt, sprich eine wahre begleitende Dokumentation.

Bekannte Pseudo-Dokus und ihr simpler Aufbau

Im deutschen Fernsehen wimmelt es nur so von »Scripted Reality«-Sendungen. Als ein paar Beispiele seien »Mitten im Leben!«, »Verdachtsfälle« und »Familien im Brennpunkt« von RTL erwähnt. SAT.1 strahlt die Lebensberatungsshow »Zwei bei Kallwass« und die beiden Gerichtsshows »Richterin Barbara Salesch« und »Richter Alexander Hold« aus.

PRO 7 knüpft mit »We are Family!« an das bewährte Konzept an, auf VOX kommt es in »mieten, kaufen, wohnen« meist zu einer lustigen Begegnung zwischen Immobilienmakler und Klientel. Den Vogel schießt RTL 2 mit ihren »X-Diaries« ab, in denen am Nachmittag u.a. Seitensprünge, Alkoholkonsum und exzessive Partys in Urlaubsgebieten propagiert werden.

Doku_soaps würdeloses FernsehenDas Konzept einer »Scripted Reality« ist schnell erklärt: Mit geringster technischer Ausstattung (im Vergleich zu seriösen TV-Programmen) filmt das Produktionsteam meist in einem Durchgang ein Drehbuch ab.

Jede Folge beinhaltet lediglich einen Konflikt wie »Arbeitslose Eltern verprügeln schwangere Teenie-Tochter«, der im Verlauf der Sendezeit mit angeblicher Umgangs- oder besser gesagt Gossensprache ausgeschlachtet wird.

Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle erwähnt, dass die Sendung »Richterin Barbara Salesch« zu Beginn echte Fälle behandelte. Da dieses Format langfristig aber nur einstellige Quoten erzielte, beruft man sich seit Oktober 2000 auf erfundene Geschichten, die nun mehr als dreimal so erfolgreich sind. Von solchen Sendungen gibt es mehrere im deutschen Privatfernsehen.

Eine andere Unterkategorie von Pseudo-Dokus lässt das Produktionsteam zwar nicht oder nur minimal in die Handlung eingreifen, allerdings wird vor der Produktion die gesamte Folge durchgeplant und besprochen (z.B. »We are Family!«).

Pseudo-Dokus bergen Risikos und Gefahren

Die Selbstdarstellung ist mittlerweile, auch dank dem Überangebot an Casting-Shows (teilweise ebenfalls »gescripted«), auf ihrem Zenit angelangt. Unter diesem Gesichtspunkt verbirgt sich eine große Gefahr der Pseudo-Dokus darin, dass sich viele dazu animiert oder gar provoziert fühlen, ihr Privatleben der Öffentlichkeit aufzwingen zu müssen.

Kritiker argumentieren oft, dass dieses Format lediglich dem Voyeurismus des Zuschauers diene. Psychologisch kann es den Effekt haben, die natürliche Schamgrenze des Menschen so herabzusetzen, dass im schlimmsten Fall, aufgrund fehlender emotionaler Verpflichtungen sich selbst und seinen Mitmenschen gegenüber, mit einer Identitätskrise und Egomanie zu rechnen ist.

Medienwissenschaftler sprechen vom Affektfernsehen, was bedeutet, dass sich der Zuschauer immer mehr mit den (semi-) fiktiven Figuren identifiziert. Die Formate provozieren bewusst und müssen, um ständig neuen Stoff bieten zu können, gesellschaftliche Tabus brechen, ob das im Interesse der Gesellschaft steht oder nicht. Denn das Format lebt von künstlich konstruierten Konflikten.

Die Inhalte der Sendungen können rein theoretisch realistischer Natur sein, keine Frage, sind es aber in über 90% der Fälle eben nicht zwingend (siehe z.B. »Familien im Brennpunkt«). Die Fülle und Intensität der behandelten Konflikte werden künstlich so aufgepeppt, dass es den Zuschauer total vereinnahmen soll. Wahrscheinlich weiß sogar die Mehrheit des Zielpublikums, dass die Geschichten frei erfunden sind …

Unterhaltungswert von »Scripted Realities« ist kritisch zu betrachten

Soaps Big brother… warum schauen dann aber anscheinend so viele diese Pseudo-Dokus dennoch an? Den »Scripted Realities« fehlt es regelrecht an Inhalt, an einer Struktur und am pädagogischen Wert. Selbst der Unterhaltungsfaktor ist in Anbetracht des weiteren TV-Angebots kritisch zu betrachten. Was macht den Reiz aus?

Vielleicht liegt ein Grund darin, dass durch das Betrachten der fiktiven Situationen und des Umgangs der Betroffenen mit ihren Konflikten die eigenen Probleme weniger problematisch erscheinen.

Der Zuschauer vergleicht sich also unbewusst mit fiktiven Figuren und beginnt, sich selbst aufgrund einer verzerrt wahrgenommenen Realität zu vernachlässigen.

Böse Zungen sprechen bei »Scripted Reality«-Sendungen sogar vom sogenannten »Hartz-4- Fernsehen«. Der Begriff kommt zustande, weil jene Sendungen meist Konflikte aus der Unterschicht behandeln.

Erstaunlich ist aber Beobachtungen zufolge, dass sich die sogenannte Unterschicht in der Regel von diesen Formaten überhaupt nicht angesprochen, ja eher diskriminiert fühlt.

Ob die verantwortlichen TV-Redakteure absichtlich diese Zwietracht säen, sei dahingestellt. Fakt ist, dass Laiendarsteller und simpel konstruierte Geschichten weniger Geld kosten, als ausgebildete und bewährte Schauspieler und Autoren. Fernsehen ist schließlich enorm teuer.

Der Streit der Kritiker

Es gibt aber auch Verfechter des neuen Pseudo-Doku-Formats. Vor allem Medienanhänger, Redakteure und sonstige indirekt am Erfolg solcher Formate Beteiligte argumentieren mittlerweile gegen echte Dokumentationen und für die erfundenen Formate.

Frank Aures, Autor für TV Spielfilm, lehnt sich in seinem Artikel »Scripted Reality: Fast wie im richtigen Leben« weit aus dem Fenster, indem er schreibt:

»Zumindest aber kommt bei ihrer Herstellung niemand zu Schaden wie das bei vielen Doku-Soaps der Fall ist. Deren Real-Aufnahmen müssen nämlich auch einer Dramaturgie folgen, brauchen starke Charaktere, eine Auflösung und einen Konflikt. Und wenn sich der bei den Dreharbeiten nicht von allein ergibt, wird er eben vom Filmteam erzeugt. Mit echten Menschen, die sich dann, als Dummkopf oder Zicke inszeniert, tatsächlich streiten – und hinterher mit den Folgen leben müssen.« (Quelle: www.tvspielfilm.de; Stand: 9. Nov. 2010)

Hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Denn greift das Filmteam ein, ist es schon eine Pseudo-Doku und somit Betrug am Zuschauer, wenn das Produkt das Prädikat »Dokumentation« erhält.

Echte Dokumentarfilmer begleiten lediglich ihre Protagonisten und dürfen nicht ins Geschehen eingreifen. Dies ist den »Darstellern« auch von vorneherein bewusst. Die Grenzen zwischen Pseudo- und echten Dokus scheinen fließend zu verlaufen.

Gegen erfundene Geschichten im TV ist nichts auszusetzen, schließlich lebt die gesamte Unterhaltungsbranche überwiegend von frei erfundenen Geschichten. Kritisch sollte man sich nur die Frage stellen, warum wir diese Fülle an Pseudo-Realitäten benötigen und was sie bei längerem Genuss für unsere Psyche und die Gesellschaft bedeuten können. Aus Dokumentationen kann man lernen, aus Pseudo-Dokus lernt man zu verdummen.

Zukunft der »Scripted Realities« und dem Pseudo-Doku-Format

Ein Teil der TV-Welt ist an einem Punkt angelangt, von dem man denken könnte, es könne nicht mehr schlimmer werden. Wenn nicht gerade gekocht wird, werden regelmäßig Tabus gebrochen; irgendwann sollte doch auch hier die Grenze erreicht sein.

Und genau hier liegt die größte Gefahr der Pseudo-Dokus: Sobald das Format ausgelutscht ist und sich die Zuschauer anderen Themen zuwenden – und dieser Punkt wird definitiv irgendwann kommen –, bleibt sowohl das Publikum als auch das Produktionsteam gelangweilt und mental extrem beansprucht zurück. Es folgt eine mediale Depression, die nach neuen Herausforderungen verlangt.

Dies wird zurzeit mit einem Überangebot an Castingshows versucht wettzumachen. Somit tragen auch diese Formate zur hemmungslosen Selbstdarstellung bei. Das beste Beispiel wäre hier wohl »Das Supertalent« von RTL, wo sich fast regelmäßig Menschen ihrer Würde entledigen. Dass das Format der Pseudo-Dokus irgendwann ausgedient hat, steht außer Frage. Die Frage ist eher, wann dies geschehen wird.

Fazit: Was kann man gegen den TV-Schwachsinn tun?

Die FSF (Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen) überprüft TV-Sendungen auf ihre Jugendfreigabe. Ärger macht ihnen dabei immer wieder die enthemmte RTL-2-Sendung »X-Diaries«. Eine strengere Überprüfung aller Sendungen ist vor allem vor ihrer Freigabe dringend nötig. Sonst droht dem Fernsehen eine endgültige kulturelle Spaltung, die bereits seit einigen Jahren in vollem Gange ist.

Am effektivsten dürfte aber der Ratschlag von Peter Lustig sein: »Abschalten!«

Ich hoffe, dass Ihnen dieser Artikel gefallen hat und Sie so vielleicht selbst zu kritischerem Fernsehen angeregt werden. Denn auch heute finden sich noch viele sehenswerte und wertvolle Dokus – man muss sie nur finden!

Viel Spaß beim Lernen mit Dokus!

Thorsten Boose