Kleine Einführung in die Philosophie des Erasmus von Rotterdam

Desiderius Erasmus von Rotterdam (1469?-1536) war der uneheliche Sohn eines Pfarrers. Nach dem frühen Tod der Eltern schickte die Verwandtschaft den Jungen in eine Klosterschule. 1488 wurde er Mönch, 1492 Priester. Lesen Sie hier eine kleine Einführung in seine philosophischen Ansichten.

„Aber Erasmus verstand die große Lebenskunst, alles, was ihm drückend war, auf sachte und unauffällige Weise von sich abzutun und in jedem Kleid und unter jedem Zwang sich seine innere Freiheit zu wahren. Von zwei Päpsten hat er unter den geschicktesten Vorwänden die Dispens erlangt, das Priesterkleid tragen zu müssen, vom Fastenzwang befreit er sich durch ein Gesundheitszertifikat und in die Klosterzucht ist er trotz allen Bitten, Mahnungen, ja Drohungen seiner Vorgesetzten nicht für einen Tag mehr zurückgekehrt“ (Zweig 33).

Desiderius Erasmus von RotterdamAb 1495 studierte Erasmus Theologie in Paris, 1506 promovierte er in Turin. Stefan Zweig wirft ihm vor, daß er sich von den Reichstagen in Worms (Reichsacht über Luther) und Augsburg (endgültige Trennung von Katholiken und Protestanten) fernhielt. „Er will mit keiner Partei sein: das ehrt seine innere Unabhängigkeit. Aber leider, er will es sich auch gleichzeitig mit keiner Partei verderben; dies nimmt seiner durchaus richtigen Haltung die Würde“ (Zweig 157).

Das Lob der Medizin bringt die Feststellung des Erasmus, „daß ein gut Teil unserer Geistesverfassung von dem Zustand des Körpers abhängt“ (S. 10). Er hält es für unbillig, aus dem Versagen einzelner Ärzte zu schließen, daß die ganze Heilkunst nichts tauge. „Kein Beruf ist so heilig, daß er nicht auch eine Anzahl Frevler ernährt“ (S. 23).

In Das Lob der Torheit schlüpft Erasmus in das Gewand des Hofnarren, um Dinge (z.B. Kirchenkritik, Pazifismus) sagen zu können, die ihn sonst auf den Scheiterhaufen gebracht hätten. So sichert er sich am Ende des Werks extra ab: „Sollte ich in meinen Worten zu bissig oder geschwätzig gewesen sein, bedenkt immer, daß ich als Torheit und Frau zu euch gesprochen habe“ (S. 111).

Vom freien Willen ist der Versuch einer Synthese der Bibelstellen für und gegen die Willensfreiheit. Das Ergebnis: „Mir sagt die Meinung derer zu, die einiges dem freien Willen, doch das meiste der Gnade zuschreiben“ (S. 104).

In der Schutzschrift (Hyperaspistes) gegen Martin Luthers Buch „Vom unfreien Willen“ bekennt sich Erasmus zur katholischen Kirche, die lehre, „daß im Menschen das Vermögen eines freien Willens liege, das mit der in uns wirkenden Gnade wirkt, doch so, daß es selber das Heil nicht erlangen kann, wenn die Gnade fehlt“ (S. 46).

Die Auswahl der Vertrauten Gespräche enthält „Der Abt und die gelehrte Frau“, „Altmännergespräch oder Das Fuhrwerk“ und „Die Soldatenbeichte“. Im ersten Gespräch versteht Magdalia unter Bildung, „daß der Mensch nur glücklich ist aufgrund seiner inneren Güter, und daß Reichtum, angesehene Stellung und Herkunft den Menschen weder glücklicher noch besser machen“ (S. 7).

Am ergiebigsten und schönsten zu lesen sind die Briefe des Erasmus. Einige Kostproben:

  •  „… die Wahrheit steht höher als die Freundschaft, besonders wenn es um die Hl. Schrift geht“ (S. 130).
  •  „… unter Philosophie verstehe ich nicht Disputieren über die Prinzipien, die erste Materie, die Bewegung oder das Unbegrenzte, sondern Befreiung von falschen, allgemein verbreiteten Ansichten und schlimmen Leidenschaften, Wegleitung, nach dem Vorbild der ewigen Gottheit richtig zu regieren“ (S. 134f).
  • Erasmus, der die Klöster für schlimmer als Bordelle hielt, kritisiert die „Brüder vom gemeinsamen Leben“ für ihre rüden Erziehungsmethoden: „Ihr Hauptgrundsatz ist: sehen sie einen Knaben von edlerer und aufgeweckterer Geisteshaltung – es sind wohl die glücklichsten Geister – so zerbrechen und bodigen sie ihn durch Schläge, Drohungen, Schelten und sonst allerlei Künste, sie nennen das ‚kirre machen‘, und machen ihn tauglich für das mönchische Leben“ (S. 144).
  •  „Einst galt als Ketzer, wer von den Evangelien, den Glaubensartikeln, oder ihnen an Autorität Gleichwertigem abwich. Heute wird, wer irgendwie von Thomas von Aquino abweicht, Ketzer genannt; ja, wenn er von einem erdichteten Argument abweicht, das gestern irgendein Sophist in den Schulen ersann. Was nicht beliebt, was man nicht versteht, ist Ketzerei“ (S. 267).

© Gunthard Rudolf Heller, 2017

Literaturverzeichnis

ERASMUS VON ROTTERDAM, Desiderius: Vortrag zum Lobe der Heilkunst, Lateinisch/Deutsch, Übersetzung von Eduard Bornemann, Darmstadt 1960

  •  Das Lob der Torheit – Encomium moriae, übersetzt und herausgegeben von Anton J. Gail, Stuttgart 2006
  • Vom freien Willen, übersetzt von Otto Schumacher, Göttingen 71998
  • Schutzschrift (Hyperaspistes) gegen Martin Luthers Buch „Vom unfreien Willen“
  • Erstes Buch, aus dem Lateinischen übersetzt von Oskar Johannes Mehl, Leipzig 1986
  • Colloquia familiaria – Vertraute Gespräche, Lateinisch/Deutsch, ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Herbert Rädle, Stuttgart 2001
  • Briefe, verdeutscht und herausgegeben von Walther Köhler, Wiesbaden 1947

GAIL, Anton J.: Erasmus von Rotterdam in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, Reinbek bei Hamburg 1974

HELLER, Gunthard: Der Streit zwischen Luther und Erasmus über die Willensfreiheit (2015) (in meiner Kulturgruppe auf Facebook veröffentlicht)

KINDLERS NEUES LITERATUR-LEXIKON, hg. v. Walter Jens, 21 Bände, München 1996

LEXIKON DER PHILOSOPHISCHEN WERKE, hg. v. Franco Volpi und Julian Nida-Rümelin, Stuttgart 1988

MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, 25 Bände, Mannheim/Wien/Zürich 91980/81

ZWEIG, Stefan: Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam, Frankfurt am Main 1980

Gunthard Heller