Philosophische Reflexion: Der Wille und die Macht des Ja und Nein

Ja und Nein, diese zwei Wörtchen gehören zu den wichtigsten Grundlagen unserer Freiheit, sie schrieben Weltgeschichte. Auch heute prägen sie Gesellschaft und Politik, formen Menschenschicksale, bringen Glück und Unglück, sind verantwortlich für Fortschritt und Stillstand, Aufbau und Zerfall; und sie richten über Leben und Tod. Sie sind Gegensätze und Extreme wie Anfang und Ende, Alles und Nichts, Kleinstes und Größtes. Sie sind wie A und Z, und doch ganz anders.

Denn Ja und Nein sind Gegensätze geistiger Art und dennoch völlig neutral. Außerdem sind sie nicht wie alle anderen Extreme durch Abstufungen miteinander zu einer fiktiven oder realen Ganzheit verbunden, sondern zwischen ihnen steht lediglich als Relation das Wörtchen „vielleicht“.

Ihren Wert erhalten dieses Ja und Nein erst, wenn der Wille sie mit skalierten Einheiten in Verbindung bringt. Dann kann der Wille in positivem oder negativem Sinne in die Welt hineinwirken. – Nicht ohne Nebenwirkungen für die eigene Person.

Der Schlüssel ist da – wo ist das Schlüsselloch?

Aber vielleicht müsste man, um das Mysterium des Ja und Nein wirklich verstehen zu können, zuerst einmal versuchen die Welt zu verstehen. Die Vielfalt der Weltstrukturen und ihre unglaublich dichte Komplexität überfordert unser hochrangiges Primatengehirn (biologisch gesehen sind wir Tiere, wie unsere nahen Verwandten, die Menschenaffen). Dennoch, im Gegensatz zu Menschenaffen, sind wir in der Lage zu abstrahieren, wir können Kompliziertes vereinfachen.

Das geht, weil sich in allem mehr oder weniger der Ursprung spiegelt. Der Trick der Vereinfachung macht für uns die ungeheuerliche Größe und Vielfalt der Welt einigermaßen handlich. Wir können mit dieser Methode herausfinden, dass der Anfang der Welt, so paradox es auch unserer Vernunft erscheinen mag, einfach war. – Doch diese Einfachheit hat es in sich! Der Schöpfungsanfang war wie nichts, und doch war alles in ihm drin.

Mithilfe der Abstraktion können wir die Vermutung wagen, dass im Ursprung der Schöpfung das Ja und Nein als Urkeim vereint waren. – Das Ja steht für eine Kraft, die aus dem Ur-Chaos die Dinge der Welt hervorbringt, einschließlich dem Leben und der Vernunft. Das Nein hingegen wirkt wie ein Sog, der den Entwicklungen die Kraft entzieht. Doch im Gegeneinander der beiden Bestrebungen entsteht ein dynamischer Wechsel zwischen Sein und Nichtsein, der den Dingen Form gibt und ihnen auch ihre besondere Fähigkeiten verleiht.

Interessant bei der ganzen Sache ist, dass die Kraft des Seins (das Ja) im universalen Geschehen leicht überwiegt (der berühmte Physiker Stephen W. Hawking schreibt in seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Zeit“, Seite 178): „Wenn wir von der Keine-Grenzen-Bedingung ausgehen, so stellen wir fest, dass das Universum mit der kleinstmöglichen Nichteinheitlichkeit begonnen haben muss, die von der Unschärferelation zugelassen wird“). Daraus ist zu schließen: Es ist eine natürliche Folge, dass im universalen Geschehen aus Vergehen stets neues Werden hervorgeht.

Diese Erkenntnis ist zwar nicht alles. Aber immerhin, es unterstützt die Vermutung, dass der Ursprung der Schöpfung eher geistiger als materieller Art war. Noch etwas spricht für diese Vermutung: Wäre der Ursprung der Welt ausschließlich materiell gewesen, könnte dann die Schöpfung zielstrebig sein? Ohne immateriellen Antrieb wären aus dem Ur-Chaos bestimmt keine geordneten Strukturen hervorgekommen.

Da es aber Entwicklungen gibt (wie unsere eigene Existenz beweist), muss es auch ein Schöpfungsziel geben, das dem Anfang ähnlich ist, nämlich vorwiegend geistig. Uns allerdings erscheint das suspekt: Es passt ja nicht in unser physikalisches Weltbild hinein. Heute aber wäre Umdenken besonders nötig. Es könnte neue Dimensionen erschließen und den „rasenden Stillstand“, wie Paul Virilio, der französische Philosoph, es nennt, auflösen.

Sinn oder Unsinn?

Wir Laien sehen im praktischen Leben überall Kampf. Allzu oft siegt das Schlechte und die Guten sind die Dummen. Müssen wir uns also damit abfinden, dass unser Leben letztlich ein sinnloser Kampf sein wird? Wie aber verträgt sich das mit der Tatsache, dass die Schöpfung in ihrer langen Geschichte trotz permanenter Zerstörung immer komplexer werdende Strukturen hervorbrachte?

Obwohl, wenn man die kulturelle Entwicklung anschaut, könnte man sich fragen: Wenn Komplexitätssteigerung ein Merkmal der Schöpfung ist, warum geht es dann mit unserer Moralkultur immer weiter bergab? Unterliegen wir etwa als Erben des Urprinzips am Ende doch dem Nein? Wenn ja, ist dann unser Wille frei? Oder werden wir von dort unten, ohne es zu bemerken, vom Nein dermaßen gelenkt, dass wir ohne es zu wollen uns selbst vernichten?

Darauf kann aus zwei Gründen sowohl mit Ja als auch mit Nein geantwortet werden. Erstens: Die Macht des Lebenswillens sollte nicht unterschätzt werden, sie kann „Wunder“ vollbringen. Zweitens: Unser biologisches System erliegt eindeutig dem Nein. Dennoch, physikalische Kräfte, mit denen wir umgehen, wie zum Beispiel die Energie und die atomare Feinstruktur, enthalten bislang unverstandene Potenziale, die ein Leben nach dem Tod nicht ausschließen. Das würde dann bedeuten, dass wir mit unserem Ja und Nein in erster Linie für uns selber verantwortlich sind. Die Folge wäre, dass das Gericht in uns ist. Es würde entscheiden, wie es mit uns weitergeht.

Vielleicht ist es wie mit der Festplatte eines Computers: Die eingebrannten Daten bleiben. Prinzipiell können sie weiter verwendet werden. Unser Problem ist nur: Wir wissen nichts über die Lagerstätte dieser „Festplatten“ und nichts über ihre weiteren Verwendungsmöglichkeiten.

Ist unser Wille frei?

Wir meinen frei entscheiden zu können, doch ist unser Wille wirklich frei? Bereits im griechischen Altertum wurde die Vorstellung eines freien Willens angezweifelt. Heute noch streiten sich Philosophie und Neurowissenschaften um die Frage, ob der Mensch einen freien Willen hat. Sagen wir zu etwas nur deshalb ja, weil wir von den Genen und der Umwelt so geprägt sind? Und sagen wir nein, weil wir, ohne es zu wissen, gar nicht anders können? Ist vielleicht, was wir als freien Willen bezeichnen nur ein unbewusster Lebensdrang?

Damals wie heute kommt es bei dieser Frage auf den Standpunkt an. Entscheidend dabei ist, ob der Mensch nur in seiner Umgebung und Lebenssituation gesehen wird oder zugleich auch im Rahmen eines Weltganzen.

Im ersten Fall spielen bei der Entscheidung zu einem Ja oder Nein die Veranlagung, das Umfeld, die Lebensumstände, sowie Triebe, Gefühle, Ängste und Wünsche die maßgebende Rolle. Die Wissenschaft nennt es „bedingte Willensfreiheit“, weil die getroffene Wahl den Neigungen und Motiven der Person entspricht und somit ihren eigenen Willen repräsentiert. Die Frage ist dann, ob es zu dem tatsächlichen Wollen keine Alternative gibt. Schopenhauer sagt zu dieser merkwürdigen Lage: „Der Mensch kann tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er nicht will.“

Im zweiten Fall geht man von einem Willen aus, der von nichts abhängt. Nur dann könne sich ein Mensch in derselben Situation sowohl für das Eine als auch für das Andere frei entscheiden. In diesem Fall nennt es die Wissenschaft „unbedingte Willensfreiheit“. Das Problem allerdings, das die Wissenschaft hierbei hat, ist, dass der Wille, wenn er durch nichts bedingt ist, als zufällig und unmotiviert zu gelten hat. Somit unterläge er dem Zufall.

Gute Chancen

Unser eigentliches Problem, das wir bei der Frage nach dem freien Willen haben, ist: In der langen Geschichte der Menschheit konnte bislang nicht überzeugend geklärt werden, ob die Welt eine Ganzheit ist oder nicht. Solange das nicht klar ist, ist auch die Frage nach der Willensfreiheit nicht eindeutig zu beantworten. Die Chancen allerdings hier Klarheit zu schaffen sind heute besser denn je.

Aus dem Blickwinkel moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse betrachtet, wird deutlich, dass unsere Sicht der Dinge gründlich reformiert werden müsste. Wissenschaftliche Forschungen gehen inzwischen weit über unser Universum hinaus. Aber davon abgesehen, bereits der gesunde Menschenverstand sagt: Wenn unser Universum zeitlich und räumlich begrenzt ist, dann muss das universale Sein weit mehr sein als unser Universum.

An so einer unvorstellbaren Dimension scheiterten bisher alle Bemühungen um ein Verstehen der Welt. Doch nur auf dieser Basis könnte der Wille wirklich frei sein. Dann nämlich wären Ja und Nein nicht nur Richtungsgeber für Handlungen, sondern auch Ausdruck eines Lebens, das zwar wandelbar, aber entgegen allem Anschein unbegrenzt ist. Der Wille wäre dann nicht unbedingt in Sinnlichkeiten und Zwängen aller Art wie in einem Käfig gefangen, er hätte die Möglichkeit, sich wirklich frei entscheiden zu können.

Weil wir aber in dem Bewusstsein leben eines Tages sterben zu müssen, und wir auch keine sinnlichen Hinweise für ein Weiterleben nach dem Tod erhalten, fällt es uns schwer über die Grenzen unserer Wahrnehmungen hinaus zu denken, wenngleich wir sehr wohl imstande sind, weit darüber hinaus zu fühlen.

Zum Schluss ein Zitat von dem Philosophen Jean Gebser (1905- 1973) „Das Einfache ist in uns. Es ist Teilhabe am Unbekannten, aber evident. Es ist ein so überaus Umfassend-Ganzes, dass es weder unser übergescheites Kräftedenken noch unser dürftig-starkes Sehnen auch nur zu erahnen vermögen.“

Heinz Altmann