Hilfe bei Schulproblemen: Vom Legastheniker zur Leseratte

Es ist schon erstaunlich, wieviel man in den Medien über schulische Probleme bei Kindern lesen kann. Aber kaum jemand spricht davon, wie sie praktisch zu lösen sind. In diesem Interview von Peter Schipek mit Prof. Dr. Dr. Reinhard Werth geht es um einen solchen Ansatz: Wie wird ein Legastheniker zur Leseratte? Unmöglich? Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen:

Hilfe für Legastheniker„Kevins Mutter war überglücklich: „Jetzt wandere ich schon seit drei Jahren mit dem Jungen von einer Therapie zur nächsten, und nichts hat geholfen. Bei Ihnen liest er schon nach einer Stunde. Wie kann das sein?“
(„Die Wurzeln der Legasthenie“ – Prof. Dr. Dr. Reinhard Werth in Gehirn&Geist 7-8/2008)

Mit diesem Zitat soll bekräftigt werden, dass es tatsächlich Hilfe für Legastheniker gibt – aber nicht jede Therapie funktioniert bei den betroffenen Kindern.

Damit will ich Eltern Mut machen, sich zu informieren, welche Therapie die Richtige für ihr Kind ist. In dem folgenden Interview arbeite ich mit Prof. Dr. Dr. Reinhard Werth heraus, welche Ursachen zur Legasthenie führen und wie man diese erfolgreich behandeln kann.

Viel Spaß beim Lesen des Interviews!

Peter Schipek Herr Dr. Werth – Ihr Artikel „Die Wurzeln der Legasthenie“ im Magazin Gehirn&Geist macht nicht nur Kevins Mutter Hoffnung.

Sie haben eine Legasthenie-Software entwickelt, die durch ihre nachweislichen Erfolge für Aufsehen in der Fachwelt sorgt. Ein Behandlungsprogramm, mit dem legasthenischen Kindern erstaunlich schnell geholfen werden kann. Können Sie uns dieses Behandlungsprogramm etwas näher beschreiben?

Reinhard Werth Wenn Sie mit Ihrem Auto in die Werkstatt fahren, erwarten Sie, dass die Ursache des Problems erkannt und beseitigt wird. Geschieht dies, ist das Auto unmittelbar und nicht erst in einem Jahr fahrbereit. Wenn jemand Leseprobleme hat, gilt es in gleicher Weise, die Ursachen zu erkennen und durch eine entsprechende Veränderung der Lesestrategie zu kompensieren.

Dann liest das Kind (Jugendliche oder Erwachsene) sofort und nicht erst nächstes Jahr. Dies folgt logisch aus der hier verwendeten Methode und hat sich in zwei unabhängigen Studien bestätigt. Die Programme ermöglichen es, die Ursachen der Legasthenie bei jedem Probanden mit Leseproblemen zu diagnostizieren.

Sind die Ursachen erkannt, so ist es meist nur begrenzt möglich, diese Defizite durch ein entsprechendes Training zu beheben. Deshalb erlernt das Kind eine Lesestrategie, die seine Schwächen kompensiert. Sobald die Lesestrategie richtig befolgt wird, reduzieren die Lesefehler sich drastisch.

Peter Schipek „Die Wurzeln der Legasthenie“ – Was sind denn die Ursachen der Legasthenie?
Reinhard Werth Was als „Legasthenie“ bezeichnet wird, sind Lesestörungen mit ganz unterschiedlichen Ursachen.

Zu diesen Ursachen gehören z.B. eine verminderte Fähigkeit zum Simultanerkennen von Buchstaben, ein verkleinertes visuelles Aufmerksamkeitsfeld, eine verlängerte benötigte Fixationszeit des Sehsystems, verstärkte Maskierungseffekte, eine verlängerte benötigte Abrufzeit von Lautfolgen aus dem Gedächtnis, zu große Blicksprünge, ein vermindertes Kurzzeitgedächtnis für Buchstaben und Wörter und noch einige mehr.

Peter Schipek Hat Legasthenie mit mangelnder Intelligenz zu tun? Sind „legasthenische“ Kinder minderbegabt?
Reinhard Werth Lesestörungen sind unabhängig von anderen kognitiven Leistungen. Diese Leistungen sind „dissoziiert“. Das bedeutet, dass eine normale oder über der Norm liegende „Intelligenz“ bestehen kann trotz erheblicher Leseprobleme.
Peter Schipek Sind Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens immer durch Legasthenie bedingt?
Reinhard Werth Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens haben vielfältige Ursachen. Es kann eine oder es können mehrere der oben genannten Leistungsdefizite bestehen, es kann aber auch sein, dass Kinder ein hinreichendes Leistungsspektrum besitzen, dieses aber nicht einsetzen, weil sie keine Motivation zum Lesen haben, weil sie Schule und Lernen ablehnen.

Die kann auf der Grundlage psychischer Störungen aber auch durch ungeeigneten Erziehungsstil und ungeeignete Didaktik hervorgerufen werden.

Peter Schipek Eltern beobachten und kennen ihre Kinder am Besten. Sie sind jedoch oft unsicher, wie sie ihre Beobachtungen einschätzen sollen. Wie erkennen Eltern, ob ihr Kind an Legasthenie leidet – was sind die typischen Merkmale?
Reinhard Werth Es gibt nicht eine eigenständige Erkrankung, die als „Legasthenie“ bezeichnet wird, sondern es handelt sich dabei um Leseprobleme unterschiedlicher Ursachen.

Handlungsbedarf besteht immer dann, wenn die Leseleistung soweit hinter dem Klassendurchschnitt zurückbleibt, dass die Schullaufbahn gefährdet ist, die Bewältigung schulischer Anforderungen durch die Leseprobleme deutlich erschwert wird und/oder die verminderte Leseleistung das Kind psychisch beeinträchtigt. Dies ist unabhängig davon, ob das Kind die Altersnorm erfüllt.

Peter Schipek Die Probleme verschwinden nicht von selbst. Lernstörungen müssen behandelt werden, denn sonst können sie drastische Folgen für das weitere Leben der Kinder haben. Was raten Sie Eltern, die unsicher sind?
Reinhard Werth Eine Behandlung „ins Blaue“, ohne die Ursachen der Leseproblematik diagnostiziert zu haben, macht wenig Sinn. Übt man nur Lesen, ohne die Ursachen zu kennen und gezielt auf diese einzuwirken, so kann sich zwar eine gewisse Verbesserung ergeben, die jedoch an ihre Grenzen stößt.

Es besteht die Gefahr, dass die ungeeigneten Lesestrategien, die die Ursachen nicht kompensieren, sich durch Leseübungen, ohne die Ursachen zu kennen, verfestigen und dann um so schwerer zu verändern sind.

Peter Schipek Einmal Legastheniker – immer Legastheniker? Kann man nur die Symptome verbessern, oder kann man diese Störung vollständig heilen?
Reinhard Werth Wenn man die Ursachen der Lesestörung kennt, kann man die Leistungsdefizite durch systematische Übung zu verbessern versuchen. Dies ist jedoch langwierig und stößt fast immer an biologische Grenzen.

Deshalb habe ich Programme entwickelt, mit denen man durch eine veränderte Lesestrategie die Leistungsschwächen ausgleichen (kompensieren) kann. Eine solche kompensatorische Lesestrategie lässt sich schon in einer Stunde erlernen und muss dann täglich geübt werden, um sich zu verfestigen und nicht verlernt zu werden.

Zwei unabhängige Studien haben gezeigt, dass dabei die Anzahl der Lesefehler schon in einer Sitzung um fast zwei Drittel abnimmt.

Peter Schipek „15 Minuten üben, verringerte die Fehlerzahl um 59 Prozent“ – ein Zitat aus Ihrem Artikel. Ist das nicht zu schön um wahr zu sein?
Reinhard Werth Das hängt nur davon ab, wie schnell ein Kind eine angemessene Lesestrategie erlernt und auf das Lesen eines normalen Textes überträgt. Die Studien haben gezeigt, wie schnell das in der Regel geht.

Dass man früher Monate und Jahre an den Lesestörungen herumtherapiert hat und der Erfolg dennoch zweifelhaft war, dürfte daran gelegen haben, dass keine Software zur Verfügung stand, mit der man die Ursachen der Lesestörung individuell diagnostizieren konnte und es kein Programm gab, mit dem die Kinder eine kompensatorische Lesestrategie erlernen konnten.

Dann lag es wohl auch an der verbreiteten Meinung, eine Therapie bestünde nur darin, ein Leistungsdefizit aufzutrainieren, bis das Defizit verschwindet und die kompensatorische Vorgehensweise nicht realisiert hat.

Peter Schipek Zurück zu Kevin: „Er benötigte nur wenige Wochen Trainingszeit, bis seine Legasthenie überwunden war. Heute ist er eine ausgesprochene Leseratte und verbringt manchmal Stunden auf dem Sofa mit einem spannenden Buch.“

Was können Eltern tun, damit ihre Kinder vom Legastheniker zur Leseratte werden? Wie können sich betroffene Eltern an Sie wenden?

Reinhard Werth Eltern können sich beim Kinderzentrum München bei Frau Dr. Klische anmelden. Frau Dr. Klische hat bei mir über Lesestörungen promoviert und führt Diagnostik und Therapie mit den von mir entwickelten Programmen in Kooperation mit mir durch.
Peter Schipek Herr Dr. Werth – herzlichen Dank für das interessante und ausführliche Gespräch.

Am Ende dieses Interviews will ich noch ein paar Worte zu meinem Interviewpartner sagen. Prof. Dr. Dr. Reinhard Werth ist habilitiert für Medizinische Psychologie und Wissenschaftstheorie. Er lehrt als Professor an der Universität München. Er ist als Neuropsychologe am dortigen Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin tätig.

Sein Hauptarbeitsgebiet ist die Weiterentwicklung von Diagnose- und Therapieverfahren von Leistungsdefiziten bei hirngeschädigten Kindern, sowie die Erforschung neurobiologischer Grundlagen des Bewusstseins.

Kontaktadresse für betroffene Eltern:

Kliniken des Bezirks Oberbayern – Kommunalunternehmen
Kinderzentrum München
Heiglhofstr. 63
81377 München
Email: info(at)kinderzentrum-muenchen.de
Internet: Kinderzentrum Muenchen

© Peter Schipek – www.lernwelt.at

Peter Schipek