Spiegelneuronen: Wie unser Gehirn „Mitgefühl““ lernt …“

Kennen Sie das Sprichwort "Lachen steckt an"? Hier würden Hirnforscher neuerdings hinzufügen "Schmerz auch!" Eltern kennen Situationen, in denen ihr Kind hinfällt und sie selbst mitfühlen oder sogar den Schmerz mitempfinden. Oder wenn Sie beobachten, wie sich Ihr Partner mit einem Hammer auf den Daumen schlägt – schmerzt Sie das auch?

lachende KinderWarum können wir mitfühlen – uns vorstellen, was in einem anderen Menschen vorgeht? Die Erklärung liegt in den Gehirnzellen mit dem Drang zur Imitation – den sogenannten Spiegelneuronen. Diese speziellen Nervenzellen in unserem Gehirn leisten Erstaunliches: Sie werden nicht nur aktiv, wenn wir etwas erleben.

Sie werden auch dann aktiv, wenn wir miterleben, wie ein Mitmensch etwas erlebt. Spiegelneurone sind somit die neurobiologische Basis für unser Mitfühlen.

Entdeckt wurden diese Nervenzellen 1991 in einem Versuchslabor im italienischen Parma. Der Neurologe Vittorio Gallese wollte damals nur testen, wie das Gehirn eines Affen arbeitet, wenn das Tier nach einer Erdnuss greift. Mit Elektroden zapfte er einzelne Hirnzellen an und untersuchte ihre Reaktion. Zu Galleses Überraschung feuerten bestimmte Neuronen im Affenhirn nicht nur dann, wenn der Makake zugriff – sondern auch, als der Forscher die Hand nach der Erdnuss ausstreckte.

Damit Spiegelzellen voll funktionsfähig werden, müssen sie während der Kindheit trainiert werden. Schon sehr früh beginnen Babys Gestik und Mimik der Eltern zu imitieren. Dieses Lernen durch Nachmachen scheint eine wichtige Station des lebenslangen Lernens zu sein. Besonders bei Babys und Kleinkindern ist das offenkundig: Sie ahmen nach, was sie sehen und wollen das tun, was andere tun.

Aber auch in der Medizin finden Forscher Beispiele für das Lernen durch Nachahmen. So können Schlaganfallpatienten mit Lähmungen an den Extremitäten durch Beobachten von Arm- oder Beinbewegungen die verlorenen Fertigkeiten ganz offensichtlich schneller wieder erlernen.

Um dieses Phänomen im Gehirn näher zu durchleuchten führte Peter Schipek (von Lernwelt.at) ein Interview mit Frau Dr. Katja Gaschler. Frau Dr. Gaschler ist
stellvertretende Chefredakteurin von "Gehirn & Geist". Sie hat sich ausführlich mit dem Phänomen der Spiegelneuronen befasst.

Viel Spaß beim Lesen!

Peter Schipek: Frau Dr. Gaschler – die Themen von „Gehirn & Geist“ wie Hirnforschung, Lernen und Psychologie gehen uns ja alle an. Sie gehören zum Gehirn & Geist-Team der ersten Stunde. Für eine promovierte Biologin ist das Gehirn sicher eines der interessantesten Organe.

Was bewegt Sie das Magazin „Gehirn & Geist“ als stellv. Chefredakteurin mitzugestalten und welche Themen faszinieren Sie am meisten?

Dr. Katja Gaschler: Was mich an „Gehirn&Geist“ von Anfang an begeistert hat, war die Idee, in diesem Magazin die verschiedensten Fachrichtungen, die sich mit dem menschlichen Verhalten beschäftigen, zusammen zu bringen. Zu diesen Disziplinen zählen natürlich die Psychologie, Philosophie, Pädagogik und Sozialwissenschaften, aber auch die Neurowissenschaften, die Medizin, die Genetik und die Molekularbiologie.

All diese Forschungsdisziplinen haben im Laufe der Zeit ihre eigenen wirksamen Methoden und Herangehensweisen an das Thema menschlichens Verhalten entwickelt. Insofern finde ich es ganz selbstverständlich, dass wir bei „Gehirn&Geist“ Phänomene, wie zum Beispiel „Mitgefühl“ oder „soziales Verhalten“ aus den verschiedensten Blickwinkeln heraus beleuchten.

Dabei geht es überhaupt nicht darum, Gefühle oder den Geist auf eine bloße Hirnfunktion zu reduzieren, wie Neurowissenschaftlern immer wieder vorgeworfen wird. Die „biologischen“ Disziplinen liefern jedoch einen wertvollen Beitrag zum Verständnis des Ganzen.

Peter Schipek: In einem Artikel beschrieben Sie die so genannten Spiegelneuronen und mit welchen Mechanismen sie uns dazu veranlassen, Mitgefühl zu empfinden. Was können wir uns unter Spiegelneuronen und deren Mechanismen vorstellen?
Dr. Katja Gaschler: Vielleicht erkläre ich am besten an einem Beispiel, was Wissenschaftler unter dem Begriff „Spiegelneurone“ verstehen. Angenommen ich würde Sie jetzt aufmerksam beobachten und würde sehen, wie Sie Ihre Hand ausstrecken, nach einem Weihnachtsplätzchen greifen und genüsslich hinein beißen.

Selbst wenn ich bewegungslos da sitze und Ihnen zuschaue, werden bei mir bestimmte Nervenzellen im motorischen Cortex aktiv, also in einem Hirnbereich, der meine Bewegungen steuert. Es handelt sich dabei um einen Teil jener Nervenzellen, die auch feuern würden, wenn ich selbst nach dem leckeren Plätzchen greifen dürfte. Das soll heißen: Meine Nervenzellen „spiegeln“ das Verhalten, das ich bei Ihnen beobachte.

Ein solches Experiment hat man bei Menschen zwar noch nicht durchgeführt, da man Menschen nur in Ausnahmefällen Elektroden ins Gehirn stecken darf. Aber zumindest bei Makaken, einer Affengattung, verhält es sich fast genau so. Das haben Versuche einer italienischen Arbeitsgruppe in Parma gezeigt.

Die Forscher wollten eigentlich untersuchen, wie die Äffchen ihre Bewegungen kontrollieren, etwa wenn sie nach einem Bananenstückchen greifen und hatten ihnen dazu Elektroden in ein bestimmtes Areal des prämotorischen Cortex implantiert. Dort werden Bewegungen nämlich angestoßen. Nun war es aber so, dass diese angezapften Zellen bei einem der Äffchen schon vor dem eigentlichen Versuch zu feuern begannen, obwohl sich der Tier gar nicht bewegte!

Was war geschehen? Der Affe hatte beobachtet, wie ein Versuchsleiter nach etwas zu essen griff!

Inzwischen geht man davon aus, dass solche Spiegelphänomene nicht nur in motorischen Arealen, sondern zum Beispiel auch in Hirnbereichen, die mit der Gefühlsverarbeitung zu tun haben, ablaufen. Ein Beispiel: Wenn Sie dabei wären, wie mir der Arzt die Spritze für die Grippeimpfung in den Arm rammt, dann würden sich bei Ihnen – ausgelöst durch das bloße Zuschauen –
ein Teil der eigenen Schmerzareale im Gehirn regen.

Peter Schipek: Lassen sich Phänomene wie Mitgefühl oder Mitleid als Ergebnisse der Wirkung von Spiegelneuronen verstehen?
Dr. Katja Gaschler: Ich denke schon, dass interne Simulationsprozesse für das Empfinden von Mitgefühl sehr wichtig sind. Aber ich glaube auch, dass das Spiegeln auf jeden Fall nur einen Teil solch komplexer Phänomene erklären kann. Wenn ich beispielsweise einen Mann in verschlissener Kleidung am Wegrand sitzen sehe, mag mein Mitleid angestoßen werden, weil ich automatisch seinen Gefühlszustand simuliere.

Aber es kommen oft noch zusätzliche Gedanken hinzu: Wo er nachts wohl unterkommt? Ob er denn keine Angehörigen oder Freunde hat – was für eine schreckliche Vorstellung …

Solche mentalen Prozesse gehen über das einfache Spiegeln hinaus. Außerdem kann es ja auch genügen, wenn man nur vom Unglück anderer erfährt, etwa darüber liest -auch dann empfindet man Mitleid.

Das Spiegeln wiederum läuft nicht zwangsläufig automatisch ab: Eine Studie hat kürzlich gezeigt, dass sich der Vorgang durchaus unterdrücken lässt. Ärzte, die viel Akupunktur betreiben, können sich beispielsweise von dem Anblick einer Nadel, die ins Fleisch sticht, sehr gut distanzieren: Ihr Gehirn spiegelt den Schmerz des Patienten dann nicht mehr wieder.

Peter Schipek: Mitgefühl ist uns nicht angeboren, sondern muss erlernt werden. Wie können wir soziales Verhalten am besten erlernen?
Dr. Katja Gaschler: Also, ein Stückweit ist uns das Mitgefühl vielleicht schon angeboren. Wenn beispielsweise ein Säugling andere Babys weinen hört, dann fängt er oft ebenfalls an zu weinen. Aber Sie haben schon Recht, das ist wohl nur der Anfang – die Anlage – zum Mitgefühl. Erst mit zunehmendem Lebensalter erlangen Kinder die Fähigkeit, sich in andere Menschen gedanklich hineinzuversetzen und ihre Gefühle und Absichten zu verstehen.

Und das funktioniert nur, wenn sie schon als Säugling und Kleinkind Zuwendung bekommen und erleben, wie ihr eigenes Verhalten gespiegelt wird. Wenn beispielsweise ein Baby lächelt, dann lächelt ein Erwachsener ganz automatisch zurück, wenn das Baby weint, machen Mama und Papa ein besorgtes Gesicht.

So lernt das Kind intuitiv das Verhalten und die Mimik anderer zu verstehen und schließlich zu berücksichtigen – mit anderen Worten, es lernt, sich sozial zu verhalten.

Peter Schipek: Das heißt, Werte kann man nicht einfach „vermitteln“ oder gar „eintrichtern“.
Dr. Katja Gaschler: Nein, das genügt mit Sicherheit nicht. Aus entwicklungspsychologischen Untersuchungen wissen wir, dass bei Kindern
der Gehorsam gegenüber einer Autorität eine Rolle spielt, wenn es darum geht, sich gemäß den Normen einer Gesellschaft zu verhalten.

Wenn also etwa die Mutter sagt: „Jungs tragen keinen Nagellack“, dann übernimmt der kleine Sohn diese Konvention – Mama weiß schließlich, was richtig ist. Aber Kinder haben auch schon sehr früh, schon im Kleinkindalter, ein gutes Gefühl für moralische Verfehlungen. So wissen sie etwa intuitiv, dass es nicht richtig ist, anderen Kindern wehzutun.

Wenn jetzt eine Autoritätsperson daherkommt und sagt, „In der Parkschule gilt die Regel, dass man Kinder schlagen darf. Ist es in Ordnung, wenn Max den Peter schlägt?“ Dann sagen schon Kleinkinder mit fünf Jahren, „Nein, schlagen tut weh, das ist nicht gut“.

Peter Schipek: Spiegelneuronen geraten in Schwingung, wenn wir andere Menschen beobachten, wenn wir Emotionen wahrnehmen, Gesichter sehen usw. Lernen wir durch diese Zellen auch andere Fähigkeiten, durch Nachahmung?
Dr. Katja Gaschler: Bisher am besten untersucht ist das Lernen von Bewegungen durch Spiegeln. Der Neurologe Ferdinand Binkofski hat dazu in Lübeck Erfahrungen bei der Rehabilitation von Schlaganfallpatienten gesammelt.

Man sollte ja meinen, dass die Kontrolle von Arm und Bein nach einem Schlaganfall am besten durch fleißiges Üben wieder erlangt wird. Binkowskis Patienten jedoch lernten schneller etwa ihren Arm wieder zielgerichtet zu bewegen, wenn sie zuvor die Bewegung in einem Video studieren konnten.

Es scheint so, als seien auch hier Spiegelmechanismen am Werk.

Peter Schipek: Wenn wir durch Nachahmung lernen – welche Auswirkungen haben dann Medien, also Filme oder Spiele auf uns?
Dr. Katja Gaschler: Wenn es sich um gewalthaltige Filme oder Spiele handelt, hat das ziemlich gruselige Effekte. Schon vor Jahren haben Untersuchungen gezeigt, dass solche Computerspiele bei Schülern zumindest kurzfristig die Sensibilität für das Leid anderer verringern und die Aggressionsbereitschaft erhöhen. Auch hemmen schockierende Bilder das Abspeichern von Lerninhalten.

Dass Ballerspiele Konzentration und Koordination trainieren können, kann ich zwar nachvollziehen, aber das ist dann nur ein schwacher Trost. Es gibt schließlich auch Computerspiele ohne Gewalt, die ebenfalls konzentrationsfördernde Effekte haben. Wertvoller als alle virtuellen Aktivitäten ist mit Sicherheit das Ausüben einer Sportart! Zu Recht warnen viele Psychologen und Psychiater vor erhöhtem Medienkonsum. Dabei gilt: Je jünger die Kinder, desto weniger sollte konsumiert werden.

Erst kürzlich hat eine Studie an über 1000 Babys gezeigt, dass Baby-DVDs und Babyfernsehen die Sprachentwicklung der Kleinen verzögern. Wenn dagegen die Eltern täglich vorlesen, hat das nachweislich einen positiven Effekt. Forscher an der Stanford University fanden zudem heraus, dass Grundschüler, die ihren Konsum an Fernsehen und Computerspielen nach einem Medientraining drastisch verringert hatten, ein halbes Jahr später weniger aggressiv waren und sich außerdem besser fühlten.

Hieraus kann man tatsächlich eine pädagogische Empfehlung ableiten: Mit der Erziehung zu einem richtigen Umgang mit Medien kann man gar nicht früh genug beginnen.

Peter Schipek: Wir lernen dank unserer Spiegelneuronen, also durch Vorbilder. Welche Bedeutung haben diese Erkenntnisse für das Lernen in der Schule, bzw. für die Ausbildung von Lehrern?
Dr. Katja Gaschler: Es ist schwierig, aus solchen Ergebnissen der Grundlagenforschung konkrete Handlungsanweisungen für Schule oder Lehrer abzuleiten. Dass Lehrer Vorbilder sein sollten, wissen wir schließlich nicht erst seit gestern. Und dass eine Lehrerin, die gelangweilt vor der Klasse steht, bei ihren Schülern ebenfalls nur Langeweile erzeugen wird, liegt auf der Hand – auch dazu brauchen wir nicht das Wissen um Spiegelneurone.

Ich gehe aber davon aus, dass Ergebnisse aus der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung in den nächsten Jahren vermehrt anwendungsorientierte, schulbezogene Forschungen anstoßen werden.

Peter Schipek: Frau Dr. Gaschler – herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

Lesen Sie dazu die kostenfreie Leseprobe aus „Gehirn&Geist“ – Ausgabe Nr.10 / Oktober 2006 „Spiegelneurone – Die Entdeckung des Anderen“ von Dr. Katja Gaschler. Dr. Katja Gaschler ist stellvertretende Chefredakteurin des Magazins „Gehirn&Geist“, studierte Biologie an der Universität Tübingen sowie an der Université de Paris Sud in Orsay.

Sie hat zahlreiche Artikel zu aktuellen Forschungsthemen rund um Psyche und Gehirn publiziert, u.a.: „Spieglein, Spieglein im Gehirn – Woher ich weiß, wie du dich fühlst“ – in „Braintertainment“ (Verlag Schattauer)

Peter Schipek