Afrika: Freiheitskampf der „Wüstenblume“ Waris Dirie

„Ich gebe zu, daß wir ihn hoch achten müßten, wenn er Gesetze des Friedens hinterlassen hätte“, schreibt Voltaire an Friedrich den Großen über den geschichtlichen Mohammed.

Sahara in Afrika„Doch daß ein Kamelhändler in seinem Nest Aufruhr entfacht, daß er seinen Mitbürgern Glauben machen will, daß er sich mit dem Erzengel Gabriel unterhielte; daß er sich damit brüstet, in den Himmel entrückt worden zu sein und dort einen Teil jenes unverdaulichen Buches empfangen zu haben, das bei jeder Seite den gesunden Menschenverstand erbeben läßt, daß er um diesem Werke Respekt zu verschaffen, sein Vaterland mit Feuer und Eisen überzieht, daß er Väter erwürgt, Töchter fortschleift, daß er den Geschlagenen die freie Wahl zwischen Tod und seinem Glauben läßt:

Das ist mit Sicherheit etwas, das kein Mensch entschuldigen kann, es sei denn, … der Aberglaube hat ihm jedes natürliche Licht erstickt.“

Der Religionsgründer Mohammed war erfolgreich wie kein anderer mit der Erfindung, Einführung und Verbreitung seines Glaubenssystems. Heute gibt es 1,4 Milliarden Moslems auf der Erde, und ihre Zahl wächst ununterbrochen, so auch auf dem schwarzen Kontinent. Im arabischen Norden Afrikas wird der Islam in seiner orthodoxen Tradition gepflegt, im Afrika südlich der Sahara vermischt er sich mit Elementen der angestammten sogenannten Naturreligionen.

Der Islam bleibt – wie das Christentum – Fremdreligion, nicht nur, aber auch für Afrika. Mit ursprünglicher „kollektiver Identität“ hat er nichts gemein. Er wurde den Völkern aufgezwungen. Wenn ein gewisser, bekanntermaßen rechtskonservativ denkender Franzose unserer Zeit tatsächlich meinen sollte, daß erst „mit den Menschenrechten … den Völkern die kulturelle Angleichung aufgezwungen“ werde, womit die „Auslöschung der ,kollektiven Identität’“ drohe, so befände er sich mit Ideologen und Religionsfanatikern auf gleicher Ebene, aber nicht unbedingt bei der Wirklichkeit geschichtlichen Werdeganges und menschlicher innerseelischer Grundbelange, die unabhängig von Traditionen jedem Menschen eingeboren sind.

Der Islam ist eine überstaatliche Ideologie, die auf Volkskulturen keine Rücksicht nimmt und in ihrer Starrheit keinen Raum gibt für eigenständige Lebensgestaltung.

„Die Welt ist ein Maskentanz. Wenn du sie verstehen willst, kannst du nicht auf einer Stelle stehen bleiben“, zitiert der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe ein Sprichwort seiner Heimat und deutet es mit seinen eigenen Worten: „Die Welt ist im ständigen Fluß, und wir, als Bewohner der Welt, müssen lernen, uns anzupassen, uns zu verändern, uns zu bewegen.

So ist das ganze Konzept der Mobilität der Ibo-Kultur in diesem Sprichwort eingeschlossen. Selbst alte Bräuche – Bräuche, die wunderbar sind – können zu gewissen Zeiten nicht mehr sinnvoll sein. Wir müssen in jedem Augenblick bereit sein, etwas Neues auszuprobieren. Das ist ein fundamentaler Gedanke der Ibo-Kultur, die Idee des Wandels. Du weißt, ,kein Zustand ist von Dauer’.“

Markt in AfrikaHier wirbt ein einzelner Freigeist für das gleiche, was die Minangkabau auf Sumatra meinen, wenn sie von ihrer Jahrtausende alten matriarchal-demokratischen Ordnung, ihrem „Adat“, sagen, es „verwittere“ nicht, obwohl es sich den jeweils auftretenden Herausforderungen zu stellen und anzupassen weiß, ohne seinen Wesenskern zu verlieren, und er wirbt für das gleiche, wovon die Somalierin Waris Dirie spricht, die aus ihrem Land geflohen und nun in Wien und Kapstadt zu Hause ist: „Ich trage mein Afrika in mir. Es ist ein modernes Afrika, eine kraftvolle Mischung aus Tradition und Erneuerung.“

In einem Brief an ihre Mutter fragt sie sich, „was bliebe“, wenn „man das, was im Leben scheinbar wichtig ist, mit der Hand einfach wegschieben könnte, was bliebe dennoch immer so, wie es war? Die Liebe einer Tochter zu ihrer Mutter. Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind. Nichts auf der Welt ist so stark wie dieses Band.“

Das aber könne niemals bedeuten, daß das heimatliche Leben in altüberlieferten grausamen Bräuchen erstarrt. In ihrem Buch „Brief an meine Mutter“ (Quellenangabe 1) schildert sie die schmerzvollen Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter, zwischen dem unnachsichtigen Festhalten an alten Traditionen und dem Aufbruch zu eigenständiger Lebensgestaltung.

Der Freiheitskampf der „Wüstenblume“ Waris Dirie

Dem Nomadenmädchen Waris – zu Deutsch „Wüstenblume“ – wurden im Alter von 5 Jahren in ihrer somalischen Heimat ohne Betäubung mit primitivsten Werkzeugen die Genitalien verstümmelt, ein nicht zu überbietendes Schmerzensereignis und unüberwindbares, lebenslanges Trauma für Leib und Seele! Eine weitere himmelschreiende Menschenrechtsverletzung ihr gegenüber war die väterliche Absicht, sie ungefragt mit 13 Jahren an einen Greis zu verheiraten. Dies alles geschah im Namen Allahs und des Propheten Mohammed.

„Halb totgeprügelt vom jähzornigen Vater“ ergriff „Wüstenblume“ – gerade einmal 14 Jahre alt – die Flucht „mit nichts als den Kleidern auf dem Leib“, einsam und allein in die Wüste hinein. „Eine gnädige Welle spülte mich nach London, eine günstige Woge trug mich nach oben. Aus Waris, der Wüstenblume, wurde Waris das Topmodel, die UN-Sonderbotschafterin, die Kämpferin gegen das Unrecht der Genitalverstümmelung, die Erfolgsautorin. Viele Millionen Menschen haben die Bücher über mein Leben gelesen.“

Sie gründete die „Waris Dirie Foundation“, die in aller Welt die Folter der Genitalverstümmelung bekämpft, denn längst ist sie überall Praxis, selbst in westlichen Ländern.

afrikanische Frau„Zeitungen, Zeitschriften, Radio, Fernsehen, Internet – ich gab Interviews, hielt Vorträge, wurde zu Konferenzen eingeladen. Ich wurde geehrt und mit Auszeichnungen bedacht. Ich traf viele interessante, mächtige und bedeutende Menschen aus aller Welt, vom ehemaligen Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, bis zur Musiklegende Paul McCartney, vom früheren UN-Generalsekretär Kofi Annan bis zum Bestsellerautor Paulo Coelho. Sie alle begannen, mich in meinem Kampf zu unterstützen, einige wurden zu Freunden.“

Auch wenn dieser weltweite Einsatz alle ihre Kräfte bis zur Erschöpfung beansprucht und „Anfeindungen gegen mich und meine Arbeit … für mich fast Alltag“ sind, „ich machte es gern. Vielleicht war es auch das Gefühl, erstmals in meinem Leben etwas Bedeutendes, Wichtiges für andere tun zu können, das mich so lange durchhalten ließ.“ „Ich bin eine Nomadin. Aber ich ziehe nicht aus freien Stücken durch die Welt.“

Sie fühlt sich Ihresgleichen, den gequälten Menschen ihrer Heimat, verpflichtet, denen sie nicht anders als vom Ausland aus helfen kann. „Laut Schätzungen der UNO werden jedes Jahr drei Millionen Mädchen in Afrika verstümmelt. Das bedeutet, daß allein am heutigen Tag 8000 Mädchen Opfer dieses Verbrechens werden“, erklärt Waris Dirie ihrer Zuhörerschaft im Kenyatta-Center in Nairobi im September 2004. Doch liegen ihr Ihresgleichen auf allen Erdteilen in gleicher Weise am Herzen.

Ihr großes Vorbild wurde Lech Walesa, der Führer der Solidarność. „In meinem Land sind Tausende von Menschen einfach verschwunden, von den kommunistischen Machthabern eingesperrt, gefoltert und umgebracht worden. Die freie Meinungsäußerung war verboten. Die Menschen lebten in Angst“, erklärte ihr Walesa gelegentlich eines Treffens.

„Als ich meinen Kampf als einfacher Elektriker und Gewerkschaftsmitglied in der Werft von Danzig begonnen habe, wußte ich, daß ich damit das Ende der kommunistischen Diktatoren einleiten werde … Man hat meine Familie bedroht und mich eingesperrt, aber ich war stärker, weil ich an meine Aufgabe geglaubt habe“, machte er ihr Mut und erzählte seinen Lebensweg. „Auf den ersten Blick klang alles so einfach und logisch … Heute denke ich: Was muß Lech Walesa für einen ungeheuren Willen und Lebensmut gehabt haben, um das alles durchzustehen.“

„Ich weiß, Waris, daß du mit deiner Mission, deinem persönlichen Kampf gegen Genitalverstümmelung erfolgreich sein wirst, daß du diesem schrecklichen Unrecht und dem Leid, das Millionen von Mädchen angetan wird, ein Ende setzen wirst. Du bist sehr stark, und du wirst deinen Kampf gewinnen! Wer sich berufen fühlt, gibt niemals auf und kann alles schaffen.“

„Von diesem Augenblick an … waren alle Zweifel wie weggeblasen. Von da an war ich felsenfest überzeugt davon, daß mein Kampf gegen Genitalverstümmelung richtig und wichtig ist. Wann immer mich der Mut verläßt, denke ich seither an Lech Walesa, seinen Kampf und seinen Sieg. Das verleiht mir Flügel.“

Über künstlich aufgerichtete Schranken zwischen den Geschlechtern, den Völkern, den Rassen, den Religionen hinweg einte die beiden Freiheitskämpfer ihr Eintreten für das, was allen Menschen gleichermaßen eingeboren ist: die Menschenwürde, das Streben nach Selbstbestimmung und Meinungsfreiheit, kurz: Lech Walesa und Waris Dirie einte ihr Kampf für die Menschenrechte, die allen Menschen zustehen. Dieser Grundrechte des Menschen ist sich jede Menschenseele gewiß, die wach genug geblieben ist, die eigene Würde in sich und damit auch im Andern wahrzunehmen.

Der Widerstreit zwischen Althergebrachtem und neuem Aufbruch

Somalia ist ein islamisch geprägtes Land. Wie andere afrikanische Länder war es 1960 mit großen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft in die Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft aufgebrochen. „Es wurde eine ,Freiheit mit gesenktem Kopf’, wie Kenias großer Romancier Ngugi Wa Thiongo schrieb.

Leidtragende waren besonders auch Frauen, die der Kameruner Experte für Entwicklungshilfe und frühere Weltbankberater Daniel Etounga-Manguelle, das mißachtete Rückgrat unserer Gesellschaften’ genannt hat. Bis heute haben sie, die schätzungsweise drei Viertel der gesamten Wirtschaftsleistung erbringen, nur selten Zugang zu Bankkonten, Kredit und Eigentum – ein Trauerspiel. "Bleibt Afrika also durch übermächtige Traditionen an seine Vergangenheit gekettet?" fragt Rainer Tetzlaff, emeritierter Professor für Internationale Politik an der Universität Hamburg. (Quellenangabe 2)

Somalia gehört zu den afrikanischen Ländern, die zu „Staatsruinen“ geworden sind. „Aus dem legitimen Gewaltmonopol des Staates … wird die illegitime Herrschaft privater ,war lords’ und ethnischer Milizenführer … Die erschreckenden Bilder von den mit Kalaschnikows behängten Clan-Milizen bei der Auflösung Somalias … stehen uns vor Augen.“ (Quellenangabe 3)

Das kennzeichnet den Bürgerkrieg in Somalia: Sippen halten wie Pech und Schwefel zusammen und bekämpfen erbittert andere Sippen, Clans andere Clans.

Somalia„Somalia ist noch immer ein gefährliches Land ohne Gesetz und ohne Regierung“, schreibt Waris Dirie. „Blutsverwandtschaft ist die Grundlage Somalias, Mama, das hast du mich gelehrt. Deine Familie, dein Subclan, dein Clan – das ist alles, was du hast. Der Clan regelt deine Stellung innerhalb der Familie. Der Clan bestimmt, mit wem du verfeindet bist und wen du als Freund ansehen sollst.

Der Clan legt fest, was du verkaufen darfst und an wen. Der Clan ordnet an, was du kaufen sollst und von wem. Der Clan ist deine Zukunft und Gegenwart, er fühlt für dich, er handelt für dich, er denkt für dich. Er ist deine Seele und deine Identität. Der Clan kann dich beschützen, aber er kann auch dein Gefängnis sein. Ich mußte ausbrechen.“

Auch der Vater hatte ihr klargemacht: „Das ist das Gesetz deiner Familie: Deine Blutsbrüder und du gegen deine Halbbrüder! Deine Brüder, Halbbrüder und du gegen deine Vettern! Deine Sippe gegen andere Sippen! Dein Clan gegen andere Clans!“ Waris Dirie wollte sich mit solchen Regeln nicht abfinden. Dies altüberlieferte Zerrbild von „Familie“ macht auch die Oberflächlichkeit von Parolen deutlich, mit denen einige Gesellschaftsgruppen in Deutschland sich für „die Familie“ stark machen.

Familie im guten Sinne gelingt, wenn sie echten Rückhalt bietet und die Entfaltung der Einzelpersönlichkeiten in ihr fördert. Familie, die gelingt, kann lebenslang tiefe Gemütswerte in den Seelen der Angehörigen verankern. Doch auch in Deutschland kann die Familie zur Falle, zur Hölle werden. Jährlich fliehen 40 000 Frauen in die Frauenhäuser, um Schutz vor Familienangehörigen zu suchen.

„In Somalia ist der eigene Clan, die eigene Familie, das eigene Blut das Wichtigste im Leben. Die Abstammungslinie ist heilig. Jedes Kind lernt seinen Stammbaum auswendig. Auch ich mußte als kleines Kind meine Vorväter aufzählen lernen – achthundert Jahre zurück bis zum Anfang des großen Clans der Darod väterlicherseits und zum Anfang des Clans der Hawiye mütterlicherseits.“

„Ich respektiere dieses Clansystem, aber ich will damit nicht leben müssen. Ich will nicht Teil davon sein.“ Offenbar waren die Namen aus 800 Jahren für sie nicht mit Leben erfüllt, sprachen das Gemüt nicht an. Was sollten sie ihr also bedeuten, zumal die Aufzählung die Mütter übergeht wie in der Bibel die Herbetung der Vorväter Josephs, des Ziehvaters Jesu? Totes Formelwissen, weiter nichts, und so erfahren wir denn auch: „Mama, du hast uns Kindern kaum je etwas von deiner Familie erzählt.“

Mutter in AfrikaWaris Dirie hat allen Grund zu träumen „von einem neuen, freien Afrika, das sich seiner Tradition bewußt ist, aber sich von allen Sitten verabschiedet, die Leiden verursachen, unglücklich machen, Menschen daran hindern, sich zu entfalten.“ In dieser starken Persönlichkeit hat sich der Mut Bahn gebrochen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen (Kant).

Dies bemerkt die Mutter sogar aus der Ferne. Ihre Tochter ist für sie zur „Europäerin“ geworden, „die jede Tradition vergessen hat. Eine Schande, wie ich lebe, was ich mache, wie ich mich kleide. Aber Mama, ich kann nicht länger schweigen. Ich kämpfe stellvertretend für die Tausende von kleinen Mädchen, die ihre Stimmen nicht gegen dieses Unrecht, das ihnen angetan wird, erheben können. Dieses Verbrechen muß aufhören … Ich kämpfe nicht gegen dich, ich kämpfe nicht gegen religiöse Überzeugungen, ich kämpfe gegen ein Verbrechen. Ja, ich werde von religiösen Fanatikern bedroht. Man wirft mir vor, meine Kultur zu verraten, gegen meine Landsleute zu hetzen, gegen die Tradition zu sein.“

Doch das Verbrechen der Genitalverstümmelungen ist eingebettet in ein Geflecht von traditionellen Ansichten. So hatte die Mutter ihre kleine Tochter Waris eigenhändig zur Beschneiderin gebracht. Das Verbrechen am weiblichen Geschlecht muß perfiderweise von Frauen begangen werden. So will es die heilige Tradition.

Die allermeisten muslimischen Frauen aber scheinen – auf Grund ihrer Kindheitssuggestionen – die Sitten und Gebräuche als gottgegeben nicht zu hinterfragen, es scheint, als könnten sie sich nichts anderes vorstellen und als seien sie nicht fähig, auf den Gedanken zu kommen, solche Praktiken abzulehnen. Jedes Mädchen, so meinen sie, muß „gemacht werden“. Wird sie nicht „gemacht“, so ist sie „unrein“ und „wertlos“, weil sie als „Unbeschnittene“ an keinen Mann verkaufbar ist, der Familie also kein Geld einbringt.

„Das Schlimmste, was einer deiner Töchter passieren kann, ist, keinen Mann zu finden. ,Unbeschnitten’, das ist ein schlimmes Schimpfwort in Somalia. Man spricht nicht mit solchen Frauen … sie sind Außenseiterinnen.“

Waris fleht ihre Mutter an: „Denk doch daran, wie viele Kinder du selbst bei der Geburt verloren hast, wie viele Töchter in unserer Familie und in unserem Clan die Verstümmelung ihrer Genitalien nicht überlebt haben, weil sie verblutet sind. Oder denk daran, wie viele unfruchtbar geworden sind.“

Waris hatte es in der dumpfen Enge und Bedrohlichkeit ihrer Heimat nicht ausgehalten. Im „Westen“ lernte sie die freiere Lebensart kennen, konnte vergleichen und wußte nun ganz klar: „… die Lebensbedingungen für Frauen in Afrika sind menschenunwürdig.“ Dabei sind es die Frauen, „die unsere Gesellschaft am Laufen halten, die sich um Nahrung und die Kinder kümmern und die versuchen, die gesellschaftliche Eintracht zu erhalten. Dennoch verwehrt unsere Gesellschaft ihnen so gut wie alle Rechte.“

Die Mutter erkrankt und braucht dringend Hilfe. Unter äußersten Schwierigkeiten gelingt es Waris, sie zu sich nach Wien zu holen, um sie von dortigen Ärzten behandeln zu lassen. Sie wird geheilt. Doch kein Dank, kein Verstehen stellt sich ein. Mutter und Tochter finden in ihren Weltanschauungen nicht zueinander. Der von der Mutter verkörperte Wille zur Beharrung widersteht schroff dem Willen zum Wandel, den die Tochter versinnbildlicht.

„Wir Frauen müssen uns fügen. Alles andere ist Allah nicht wohlgefällig.“ Das genügt der Mutter, die aus ihrer alten Welt nicht herausfinden kann und will. Dagegen ist die Tochter machtlos. Ihre Mutter hatte sich schon abgewandt, ehe Waris ihren Gedanken hätte äußern können:

„Das kann nicht Allahs Wille sein. Wir Menschen sind es, die der Welt eine Ordnung geben. Wir treffen die Einteilung nach Kasten, Religionen, Einkommensschichten, Hautfarben – und auch nach Geschlechtern. Niemand sonst, nur wir.“

Waris muß die bittere Wahrheit zur Kenntnis nehmen: „Afrika hat so viele starke Frauen, sie könnten der Stolz des Kontinents sein. Aber statt dessen werden sie benachteiligt, unterdrückt und gedemütigt. Ein unseliger Mix aus falsch verstandener Tradition und Religion muß als Begründung dafür herhalten. Und was tun Frauen wie meine Mutter?

Sie steigen nicht auf die Barrikaden, um dagegen anzukämpfen, sondern sie verteidigen dieses ungerechte System auch noch.“ Und das angesichts der afrikanischen Weisheit: „Kein Kamel der Welt läuft ein zweites Mal zu einem Wasserloch, das versiegt ist.“

Schließlich kommt es, wie es kommen muß. „Alle Schmerzen und Leiden sollen wir erdulden, allein weil es eine kranke Tradition vorschreibt“, wagt die innerlich freigewordene Waris auszusprechen und bekommt prompt zur Antwort: „Du solltest dich hüten, unsere Sitten und Bräuche als krank zu bezeichnen. Ich sehe schon, du hast dich weit von uns entfernt, ganz weit. Du denkst nicht mehr wie ein Somali, und du fühlst nicht mehr wie ein Somali. Du bist kein Kind der Wüste mehr.“

Diese bitteren Worte treffen tief ins Herz der Heimatlosen: „Es vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht nach der Wüste sehne, nach meiner Familie, nach dir. Aber ich habe inzwischen so viele Mädchen und Frauen getroffen, die Opfer dieser sinnlosen Verstümmelung wurden … Ich habe jeden Tag Schmerzen. Einmal im Monat, während meiner Periode, sind die Schmerzen so stark, daß ich nicht einmal mehr aus dem Bett aufstehen kann … Es ist, als ob dir jemand ein Messer in den Bauch rammen würde.

Ich liege oft drei Tage im Bett, ich versperre die Tür, weil ich niemanden sehen kann in diesen Tagen. Ich muß für mich allein sein, allein mit meinen Qualen. Und das alles, weil einer sinnlosen Tradition Genüge getan werden muß. Das ist keine Tradition. Das ist Perversion.“

Afrikaner mit ZiebelsackUnd sie erinnert sich der „durchdringenden Schreie“ eines Mädchens bei der Verstümmelung, die sie auf einem Videoband miterlebt hat. „Und niemand ist da, der die Kleine in die Arme nimmt, tröstet, ihr hilft.“ Eine hierarchische, von religiösen Vorschriften gelenkte Gesellschaft braucht kein Herz und kann keines gebrauchen.

Das Herz rührt sich spontan, ihm können Gefühle nicht befohlen werden, ja Befehle lassen es verstummen. So verschließt sich eine solche Gesellschaft dem Leid der Mißhandelten und offenbart damit seine abgrundtiefe Gottlosigkeit, die auch die ganze Bigotterie ihres Glaubensalltags nicht zu übertünchen vermag.

„Der Fanatismus, zu dem die Menschen so viel Neigung haben, hat nicht allein dazu gedient, sie dümmer zu machen, er machte sie auch boshafter“, erkannte schon Voltaire.

Die junge Somalierin ist dieser Lebensart entflohen und nun gerade in der Anwesenheit der Mutter, die ihr doch eigentlich Geborgenheit bedeuten sollte, „unendlich einsam“, so einsam, wie alle Vorkämpfer und Vorkämpferinnen für den Aufbruch zur Freiheit immer gewesen sind. Wo hätte die leidgeprüfte junge Somalierin denn ihren Kampf aufnehmen können, wenn nicht außerhalb ihrer zutiefst im Wahn verstrickten Heimat, im Ausland also?

Nach den Demütigungen, die sie als Asylsuchende und Dunkelhäutige in Europa erlebt hat, darf sie sich nun von der eigenen Mutter vorwerfen lassen, ihre Heimat verraten zu haben.

Später – die Mutter ist längst nach Somalia zurückgekehrt – faßt Waris in ihrem Brief zusammen:

  • Ich kämpfe gegen weibliche Genitalverstümmelung, du befürwortest sie.
  • Ich bekämpfe die Ungerechtigkeit in der Welt, du akzeptierst sie.
  • Ich kämpfe für die Rechte der Frauen, du siehst eine Männergesellschaft als gottgegeben an.
  • Du willst, daß alles so bleibt, wie es ist, und nennst das Tradition. Ich will, daß nur das Gute Bestand hat, und nenne das Fortschritt.
  • Du liebst das Afrika, wie es ist. Ich glaube an ein Afrika der Zukunft. Mit starken, stolzen Menschen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.

Immer wieder hatte sie geträumt von ihrer Mutter, ihrer Heimat und „der endlosen Weite der somalischen Wüste“, als sie dann eines Tages – nach einer Zeit schwerer Niedergeschlagenheit und Verzweiflung – auf ihren Heimatkontinent zurückkehrte, zwar nicht nach Somalia, aber nach Südafrika. Von dort aus setzt sie ihren Freiheitskampf fort, diesen weltweiten Kampf für die Menschenrechte, der alle freiheitsstolzen Menschen eint, gleich welcher Rasse, welchem Volk, welchem Geschlecht sie angehören und wo sie ihre Heimat haben.

Bei ihrer Ankunft in Kapstadt, „beim Verlassen des Flughafens roch es nach Afrika. Dieser ganz spezielle Geruch, den man überall auf diesem Kontinent schnuppern kann. Ich kniete nieder, hob meine Hände zum Himmel und rief: „Mama Afrika, du hast mich wieder!“

Quellenangaben:

1. Waris Dirie, Brief an meine Mutter, Ulstein o.J., aber nach 2005
2. Rainer Tetzlaff, Die Idee des Wandels, Spiegel Special „Afrika – Das umkämpfte Paradies“
3. ebd.

Heidrun Beißwenger