Wahrheitsfrage: Was ist das Wesen der Wahrheit?

Was ist Wahrheit? Diese Frage hat sich der Mensch immer wieder gestellt. Einige glauben bereits im „Besitz“ der Wahrheit zu sein und deren Auslegung verwalten zu können. Andere sind an der Beantwortung der Frage verzweifelt, haben resigniert und aufgegeben sie zu suchen. Einerseits gab es Kriege, Mord und Totschlag im „Namen der Wahrheit“, andererseits hätte sich die Menschheit ohne der Suche nach einer Antwort auf diese Frage niemals weiterentwickeln können. Wahrheit ist das Fundament vieler Subsysteme der Gesellschaft – Religion und Wissenschaften hätten ohne sie niemals entstehen können. Doch haben wir die Frage nach der Wahrheit wirklich beantwortet oder sehen wir uns noch immer einem großen Rätsel gegenüber?

Da es die Menschheit offensichtlich niemals geschafft hat eine gemeinsame Antwort zu finden, stellen wir uns diese Frage erneut und versuchen das Wesen der Wahrheit zu verstehen.

„Was ist Wahrheit?“

WahrheitZuerst versuchen wir uns verschiedene Wahrheitsvorstellungen anzusehen, um uns genauer vor Augen zu führen, worüber wir sprechen wollen. Es wird von manchen behauptet, es gäbe verschiedene Wahrheiten, denn jeder Mensch hat seine eigene Wahrheit. Damit wäre Wahrheit rein subjektiv – dem Gusto jedes Einzelnen überlassen. Ich behaupte, dies ist nur bedingt richtig. Es gibt auch eine Wahrheit – eine objektive oder tatsächliche Wahrheit, die über das reine subjektive Verständnis hinausgeht. Dennoch entsprechen beide Wahrheitsvorstellungen unserem Erleben. Dazu ein Beispiel: Eine Person kann durchaus ihre subjektive Wahrheit verkünden, obwohl das Gesagte keiner objektiven Wahrheit entspricht. Sie orientiert sich primär an ihrer „eigenen Wahrheit“ – egal ob zutreffend oder nicht – dies kann durchaus authentisch geschehen.

Dies mag etwas verzwickt klingen, ist jedoch recht einfach. Ähnlich wie wir unterschiedliche Begriffe für „Wahrheit“ verwenden, trifft das ebenso auf den Begriff von „Wirklichkeit“ oder „Realität“ zu. Auch hier wird aus dem subjektiven Erleben von Wirklichkeit geschlossen, daß es verschiedene Wirklichkeiten gibt oder die Wirklichkeit eine Angelegenheit des Subjekts sein müsse. Diese Schlußfolgerung halte ich nur für bedingt richtig, auch wenn hier Mißverständnisse wieder vorprogrammiert sind. Es mag im subjektiven Erleben tatsächlich verschiedene Wirklichkeiten geben, da – wie der Name schon besagt – alle subjektiven Wirklichkeiten wirken.

Dennoch will ich zwischen verschiedenen Wirklichkeiten unterscheiden. Wir müssen unterscheiden zwischen einer subjektiven und einer empirischen Wirklichkeit, d.h. einer Wirklichkeit, die wir Menschen über die Sinnesorgane wahrnehmen können. Diese kann mit technischen Geräten oder Laborversuchen gemessen, aufgezeichnet und berechnet werden. Diesen Wirklichkeitsbegriff finden wir heute in den Schulwissenschaften wieder, da er eindeutig belegt, überprüft oder verifiziert werden kann. Im Bereich der subjektiven Wirklichkeiten gibt es ein Zwischenphänomen, daß man „alternative Wirklichkeiten“ nennen könnte und meist im Bereich der religiösen Erfahrung angesiedelt wird. Alternative Wirklichkeiten können beispielsweise von Schamanen – oder anderweitig medial begabten oder geschulten Personen – wahrgenommen werden. Doch sind diese alternativen Wirklichkeiten keine rein subjektiven Erlebnisse, da verschiedene Phänomene erkannt und systematisiert werden können, d.h. die Wahrnehmung dieser Wirklichkeiten von Personen mit ähnlicher Schulung und Wahrnehmungsfähigkeit intersubjektiv verifiziert – oder zumindest – klassifiziert werden können.

Da Wirklichkeiten – also das was auf uns wirkt – immer zwischen dem empirisch bzw. subjektiv Beobachtbaren schwanken, sind die Übergänge zwischen diesen Beiden fließend. Dies auch dann, wenn uns selbst die Zusammenhänge oder Kausalbedingungen der subjektiven und objektiven Wirklichkeitskonstruktion nicht immer bewußt ist.

Dieses Verschwimmen von Wirklichkeiten beeinflußt auch unseren Realitätsbegriff. Hier wird behauptet, es gäbe verschiedene Realitäten, was ich nur für bedingt wahr halte. Unter einer objektiven Realität mag man jene verstehen, die ein geistig gesunder Mensch unter normalen Umständen wahrnehmen kann. Natürlich gibt es ebenso subjektive Realitäten, die wir im Drogenrausch, Fieberphantasien oder bei geistigen Störungen für „real“ halten. Es mag auch sein, daß manche Menschen in einer völlig subjektiven Realität leben, die sie sich selbst im Kopf zusammengezimmert haben. Letztere Realität kann aber nur von derjenigen Person erlebt werden, die sie geschaffen hat – sie existiert nur in ihrem eigenen Hirn.

WahrheitsfrageWas hat dies mit einer objektiven Wahrheit zu tun? Unter einer objektiven Wahrheit will ich das verstehen, was ist und was war. Selbst Zukünftiges kann wahr sein, auch wenn wir Menschen uns in dieser Hinsicht immer Spekulationen hingeben müssen, was künftig sein könnte. Doch um das zu verstehen, müssen wir uns von einem großen Mißverständnis befreien, nämlich dem, daß jeder Mensch nur seine persönliche, oder subjektive Wahrheit hat. Damit kommt für mich eine teils bewußte oder häufig auch unbewußte Weigerung zutage, sich mit anderen Sichtweisen oder Wahrheitsbegriffen konfrontieren zu wollen. Wenn man nur seiner subjektiven Wahrheit folgen müßte, kann man sich leicht jeglicher Verantwortung bzw. der Beschäftigung mit den Wirkungen des eigenen Handelns entledigen. Wahrheit wird mit Wahrnehmung verwechselt.

Sicher ist unsere Wahrnehmung der Welt teilweise sehr unterschiedlich. Die Fähigkeit der Wahrnehmung von Wirklichkeit kann kulturell geprägt sein, von unserer Bildung und unserem eigenen geistigen Horizont oder auch von unseren Prägungen und Konditionierungen abhängen. Diese Einflüsse bleiben nicht ohne Wirkung auf unser Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit, daher kann eine Betrachtung von verschiedenen Blickwinkeln die Sache bereichern.

Sowohl unser Verständnis von Wahrheit, als auch unsere Wahrnehmung werden somit nicht unerheblich von unserer „Inselrealität“ geprägt. Grundlegend will ich jedoch feststellen, daß eine objektive Wahrheit völlig unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung sein muß. Die Annahme – die Wahrheit ändere sich kontinuierlich – beruht meines Erachtens auf Gedankengängen, die nicht wirklich zuende gedacht wurden. Denn sowohl die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sind objektiv wahr.

Anders sieht es mit der Wirklichkeit aus. Wirklichkeit hat immer einen zeitlichen Bezug. Was wir im Hier und Jetzt als Wirklichkeit erfahren, war in der Vergangenheit anders und wird sich auch künftig verändern. Wirklichkeit ändert sich in der Tat ständig. Der Übergang zwischen den Wirklichkeiten geschieht kontinuierlich, d.h. die Vergangenheit hat einen Einfluß auf die Gegenwart und das Gegenwärtige auf die Zukunft. Die Wahrheit kann jedoch – wenn sie einen objektiven Anspruch erhebt – nicht zeitlich begrenzt sein. Der Philosoph Heidegger spricht sogar von einem Zustand zwischen Sein und Nicht-Sein. Dies scheint mir jedoch mehr für Philosophen oder Metaphysiker relevant zu sein, weshalb ich es nur am Rande erwähnen will.

Wie die Erfindung des Rades oder des Buchdrucks eine objektive Wahrheit ist, so könnte es auch die Besiedelung des Mars sein. Ein interessanter Zusammenhang hierbei: Wenn die Besiedelung des Mars irgendwann stattfindet, ist dies bereits eine objektive Wahrheit, ohne daß wir gegenwärtig davon wissen können. Gibt es eine solche objektive Wahrheit, so könnte man die subjektive Wahrheit nur als „persönliche Meinung“ deuten.

TischUm diesen Gedankengang weiter zu untermauern, werden wir uns ein einfaches Beispiel – einen Tisch – ansehen. Dabei ist es gleichgültig welchen Tisch wir betrachten: einen modernen Wohnzimmertisch, einen alten Eichentisch oder einen Designertisch (bei dem man nur mehr schwerlich seine Funktion erkennen kann). Wir werden diesen Tisch – vorausgesetzt wir leiden nicht unter Halluzinationen – als einen Tisch und nichts anderes wahrnehmen. Das diese Wahrnehmung nicht selbstverständlich ist, kann man an kulturellen Unterschieden feststellen. Für den einen dient er als Ablage oder Regal, für ein Kleinkind als Unterschlupf. Vielleicht mag es sogar Kulturen geben, die keine Verwendung dafür haben. Für einen Geheimdienstler oder Angehörigen einer konspirativen Gruppe wiederum könnte dieser Tisch ein „Briefkasten“ sein, unter dessen Tischplatte er geheime Nachrichten deponiert. Obwohl ihm natürlich klar ist, daß es sich bei diesem Möbelstück, um einen Tisch handelt, ist diese Tatsache für ihn belanglos und nur die Verwendung als Briefkasten von Bedeutung.

Alle diese Interpretationen des Phänomens „Tisch“ haben ihre Berechtigung. Die objektive Wahrheit beinhaltet die Gesamtheit all dieser Sichtweisen. Falls jemand diesen Tisch jedoch für einen Hubschrauber hält, können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, daß diese Person unter Halluzinationen leidet. Diese Halluzination mag ebenfalls ein Teil der objektiven Wahrheit sein, aber eben nur als Halluzination. Schließlich wird sich der Betreffende nur schwerlich mit dem Tisch vom Boden erheben und wegfliegen können. Aber selbst wenn das geschähe, müßten wir unser eigenes Verständnis von Wahrheit prüfen.

Immerhin legen Forschungen im Bereich der Kognition nahe, daß unser Gehirn die Wahrnehmungen erzeugt bzw. diese nicht aus einer „Welt“ stammen, die uns umgibt. Unsere Farbwahrnehmung beispielsweise wird nicht durch vorhandene Farben erzeugt, sondern das Nervensystem erzeugt – als autopoietisches System, welches operational geschlossen ist und selbstreferentiell agiert – sämtliche „Wahrnehmungen“ aus sich selbst. Vielleicht mögen wir dann fragen, welche Farbe dieses oder jenes „wirklich“ hat. Eine Frage, die sich nicht mehr mit aristotelischer Logik beantworten läßt.

Aber selbst wenn die Suche der Menschheit nach der objektiven Wahrheit nicht am Ziel angelangt ist und wir alle nur „halluzinieren“, so gäbe es die objektive Wahrheit dennoch. Auch würde mit jedem Gedanken ein neues Universum entstehen, würde die objektive Wahrheit letztlich all die unzähligen Universen umfassen.

Allerdings bin ich selbst nicht der Meinung, daß die gesamte Menschheit unter Halluzinationen leidet. Hätten wir nichts gefunden was funktioniert, wäre eine Entwicklung unmöglich gewesen. Allerdings besagt dies auch, daß die Frage nach „Wahrheit“ bis heute und künftig noch wichtig sein wird. Wer denkt, diese Frage schon beantwortet zu haben und seine subjektive Wahrheit als letztgültige oder objektive Wahrheit vertritt, zeigt nur, daß er nichts verstanden hat. Eine subjektive Wahrheit zu vertreten mag selbstherrlich oder arrogant, vielleicht sogar gefährlich sein. Aber erst wenn wir erkennen, daß wir diese Frage noch nicht endgültig beantwortet haben, können wir einer objektiven Wahrheit überhaupt näher kommen.

Der Wahrheit ist es völlig gleichgültig, ob man ihr glaubt.

Arto F.J. Lutz