Willensfreiheit: Erkenntnisse zur Leib-Seele-Einheit

Sind wir Menschen durch unsere Biologie determiniert? Lassen die menschlichen Gene Willensfreiheit überhaupt zu oder reagieren wir nur nach einem unbekannten Schaltplan? In diesem Artikel erfahren Sie, wie man durch die biologischen Erkenntnisse unser Wesen als Mensch neu beschreiben kann.

Was ist Willensfreiheit?

Die alte Frage: „Was ist der Mensch – das Ergebnis seiner Gene, seiner Umwelt oder gar seiner Willensfreiheit?“ – hat neuerdings Antwort erhalten auch von Seiten der Naturwissenschaft. Spannend berichtet darüber Joachim Bauer, Professor für Psycho-Neuro-Immunologie (1). Wer bisher glaubte, der Mensch sei eine von seinen Genen gesteuerte Maschine, muss umlernen.

Willensfreiheit

Wo bliebe die Willensfreiheit und Möglichkeit zur Selbstgestaltung des Menschen, wenn die Gene die alleinige Macht über ihn hätten und ihn bis ins Letzte determinierten, d.h. vorherbestimmten? Doch wissen wir auch seit langem, dass unser Erbgut nicht wegzuleugnen ist und wir ihm zumindest bis zu einem gewissen Grade ausgeliefert sind, uns nichts übrig bleibt, als uns mit dem uns Gegebenen abzufinden.

Dennoch gehen wir in unseren Moralbewertungen und Rechtsgepflogenheiten davon aus, dass der Mensch für die Art seines Handelns verantwortlich ist, also die Freiheit hat, sein Leben und sich selbst nach eigenen Vorstellungen von Ethik zu gestalten und auf Einflüsse aus der Umwelt zu antworten.

Wir nehmen also auch Willensfreiheit an. Erbgut, Umwelteinflüsse und Willensfreiheit halten wir für gegeben. Wie aber sind sie miteinander zu vereinbaren? Was spielt sich biologisch ab? Denn auch freies Seelenleben ist ohne Erscheinung, ohne Biologie, vor allem ohne Gehirn, nicht möglich. Ist unser Gehirn abgeschaltet, sind wir tot, die Seele ist erloschen.

So sagt auch Bauer: „Verhalten findet nicht im körperlosen Raum statt, sondern ist immer zugleich auch Biologie … sämtliche biologischen Prozesse (basieren) auf der Aktivität von Genen“. Aber, und nun kommt das Überraschende: „Tatsächlich könnte ein lebendes System nicht auf Signale reagieren, wenn es die Gene nicht auch könnten. Entgegen einer zum Teil immer noch verbreiteten Ansicht fahren Gene nicht auf Autopilot, sondern werden in ihrer Aktivität durch Signale reguliert. Diese können ihren Ursprung in der Zelle selbst, außerhalb der Zelle oder in der Umwelt haben.“ (2)

Die Gene und der Wille

Jeder Mensch verfügt über einen Satz von rund 35 000 Genen in jeder seiner Zellen. Die Gene sind an einem 2 Meter langen, verknäulten Faden aufgereiht, der DNS (Desoxyribonucleinsäure) – für uns unvorstellbar bei der Winzigkeit einer Zelle. Im Elektronenmikroskop ist diese Gen-Perlenkette sichtbar in ihren Abschnitten, in die sie aufgeteilt ist: den Chromosomen. Die Gene enthalten je einen Bauplan zur Herstellung eines Proteins (Eiweißstoffe) aus Aminosäuren („Baustein“ eines Eiweißstoffes). 20 unterschiedliche Aminosäuren werden in einer Reihenfolge aneinandergereiht, die dem jeweiligen Individuum eigen ist.

Ob und in welchem Umfang die Proteine tatsächlich erzeugt werden, hängt von mehreren Bedingungen ab. Einerseits werden in den Zellen jedes Organs nur ganz bestimmte, organspezifische Gene zum Tätigwerden freigegeben, und andererseits können die freigegebenen Gene in ihrer Wirkungsstärke hoch- oder heruntergefahren werden.

Nur ein Teil der Gene, die innerhalb einer Zelle freigegeben sind, sind dauernd und ohne Schwankungen aktiv. Sie halten die Grundausstattung der Zelle aufrecht. „Ein großer, sehr bedeutender Teil der Gene einer jeden Zelle wird jedoch reguliert.“ (3)

Die Gesamtheit der 35 000 Gene, das Genom, ist bei allen Menschen zu 99,9 % gleich. „Der Bauplan für ein Protein ist eine unveränderliche, im „Text“ des zuständigen Gens enthaltene Erbinformation. Dieser Bauplan wird weitervererbt.“ (4) Von den Genen her also unterscheiden wir uns fast gar nicht. Und doch ist jeder Mensch eine einzigartige Besonderheit.

Wie ist das biologisch möglich? Außer den 0,1 % der Gene, die uns voneinander trennen, können es die Gene selbst nicht sein, die unsere Persönlichkeit ausmachen. Es ist – neben der Reihenfolge der Aminosäuren im Protein eines Individuums – das Ausmaß, in welchem die Gene angeregt oder stillgelegt werden. Und dies „ist größtenteils nicht genetisch vererbbar.“ (5)

Der erwähnte Anteil von 0,1 % des vererbbaren DNS-Textes beinhaltet „ethnische“, sprich rassische, „und konstitutionelle Unterschiede“, Abweichungen innerhalb einer Bevölkerung z. B. in Stoffwechselfunktionen und „außerordentlich seltene“ „echte Erbkrankheiten“ (wie z. B. die Bluterkrankheit), die auf einer Mutation beruhen, welche zur Veränderung eines Proteins, daraus zu einer Störung des Stoffwechsels und daraus zu einer Krankheit führt.

„Lediglich ein bis zwei Prozent aller menschlichen Erkrankungen sind durch eine genetische Mutation bedingt … Das Geheimnis der Gesundheit liegt, was die große Mehrheit aller Krankheiten betrifft, nicht im Text der Gene, sondern in der Regulation ihrer Aktivität.“ (6)

Zwischen den Genen befinden sich auf der „Perlenkette“ DNS die Anreger und Hemmer für die Gene, im Wissenschafts-Englisch Promoter bzw. Enhancer genannt. Sie können die ihnen auf dem DNS-Faden nachfolgenden Gene an- oder abschalten. Diese beiden Arten von Gen-Regulatoren werden ihrerseits gesteuert durch Substanzen, die sich bei ihnen anlagern können.

„Diese Substanzen können aus der Zelle, aus dem Organismus außerhalb der Zelle oder aus der Umwelt kommen … Nach Anlagerung dieser Substanzen an den Promoter oder an den Enhancer verändert sich die Gen-Aktivität, das heißt, das Gen wird jetzt entweder stärker oder weniger stark als zuvor abgelesen.“ (7) Diese Substanzen übersetzen also Signale von „außen“ in Gen-Aktivität, sie heißen daher Transkriptionsfaktoren. Bei den beschriebenen Vorgängen kommt es zu äußerst feinen Abstimmungen der Substanzen untereinander und zu sehr feiner Regulation der Gen-Aktivität.

Gehirn, Nerven, Hormone

„Den größten Einfluss auf die Regulation von Genen haben nicht stoffliche Signale jedoch im Gehirn: Mit den Nervenzell-Systemen der fünf Sinne wahrgenommene, zwischenmenschliche Situationen werden vom Gehirn fortlaufend in biologische Signale verwandelt, die ihrerseits massive Effekte auf die Bereitstellung von Transkriptionsfaktoren haben. Dies erklärt, warum seelische Erlebnisse innerhalb kürzester Zeit zahlreiche Gene aktivieren oder abschalten können. Die Zeit von der Aktivierung eines Gens bis zur Fertigstellung des Proteins kann im Bereich weniger Minuten liegen.“ (8)

Nervensystem; Nerven, Hormone

Seelische Erlebnisse also sind die stärksten Ursachen zur Gen-Regulation. Dabei bewertet die Seele – unbewusst, unterbewusst oder bewusst – die über die Sinne eingegangenen Reize und aktiviert ihrer Bewertung entsprechend ein „Orchester“ von Genen. Das „Gen-Orchester“, das auf Reize antwortet, die als angenehm bewertet wurden, ist ein andersgeartetes als ein „Gen-Orchester“, das auf Reize antwortet, die als Gefahr eingeschätzt wurden.

Bei der Bewertung „Gefahr“ werden die Gene der Alarmzentren (hauptsächlich im Hirnstamm sowie im Hypothalamus) aktiviert, deren Proteine die Bereitstellung von Alarmbotenstoffen bewirken, die nun ihrerseits im ganzen Körper Veränderungen einschließlich der Aktivierung weiterer Gene hervorrufen. Diese Dominokette reicht bis hin zur Ausschüttung des Stresshormons Cortisol durch die Nebenniere und braucht zu ihrem Aufbau nur wenige Minuten.

Dagegen aktivieren angenehme, anregende Umweltbedingungen – wie gegenseitiges Verstehen in Gesprächen mit anderen Menschen, Lob, Anerkennung, reizvolle Aufgabenstellung – Gene im Gehirn, deren Proteine die Funktion von Nervenzellen steigern und die Zahl ihrer Verknüpfungen erhöhen.

„Allerneueste Untersuchungen ergaben sogar Hinweise dafür, dass sich unter dem Einfluss positiver Umweltsituationen und aufgrund der dadurch gesteigerten Produktion von Nervenwachstumsfaktoren auch die Zahl der Nervenzellen vermehren kann (was die bisherige Lehrmeinung, dass sich Nervenzellen nicht vermehren können, infrage stellt). … Positive Umweltreize haben sich für Nervenzellen als ein Überlebensfaktor herausgestellt, da sie zur Aktivierung zahlreicher Gene führen, welche die Nervenzellfunktionen verbessern.“ (9)

Wir sehen:

  • Das Gehirn verwandelt jeden seelischen Vorgang in einen biologischen, was wiederum auf die Seele zurückwirkt.
  • Die Lehre von der maschinenartigen Wirkungsweise des Körpers ausschließlich aufgrund einseitiger Befehle von Genen hat sich endgültig als falsch erwiesen.
  • Nervenzellen im Gehirn können sich verstärken und möglicherweise vermehren.
  • Gene, Seele und Umwelt wirken zusammen. Daraus gestaltet sich die Persönlichkeit.

Der Mensch ist eine Leib-Seele-Einheit. Das hatte die Psychiaterin Mathilde von Kemnitz (Ludendorff) bereits im Ersten Weltkrieg erkannt. Sie konnte gelähmten Menschen allein über die Behandlung ihrer Seele zur Wiedergewinnung ihrer Beweglichkeit verhelfen. Wenige Jahre danach erschaute sie das Weltall als von göttlichen Willenskräften zielgerichtet erschaffen, durchdrungen und gestaltet.

Ohne das Wesen der Dinge wären die Dinge nicht. Jetzt scheint die Zeit gekommen zu sein, dass die Naturwissenschaft sich anschickt, auch die Seele der Natur zu berücksichtigen. Die Medizin wird ihr auf breiter Front folgen und Pioniere der Leib-Seele-Heilkunst nicht länger im Regen stehen lassen oder gar als Ketzer verfolgen.

Die Spiegelneuronen

Der Entdecker der Spiegelneuronen ist Giacomo Rizzolatti, Chef des Physiologischen Instituts der Universität Parma. In Tierversuchen mittelst bildgebender Technik (Kernspintomographie und Positronen-Emissions-Tomografie (PET)) offenbarte sich ihm, wie bestimmte Nervenzellen in bestimmten Bereichen der Hirnrinde „feuern“, sobald das Tier eine Handlung plant.

(Anmerkung: Die Tiere wurden unter schmerzfreien Bedingungen untersucht, wird berichtet. Dass sie jedoch in völlig natur- und artwidrigen Umständen gehalten wurden und werden, ist dennoch bedauernswert. Unsere Freude über das gewonnene Wissen ist somit keine reine Freude.)

Spiegelneuronen

Das Beispiel „Ein Affe greift nach einer Nuss, die auf einem Tablett liegt“ zeigte, wie die dafür zuständige Nervenzelle feuerte, und zwar auch dann, wenn der Affe in völligem Dunkel saß und nach der Nuss griff, die ihm vorher bei Licht gezeigt worden war. Ja, sie feuerte sogar, wenn der Affe die gleiche Handlung bei seinem Gegenüber nur beobachtete. „Man braucht einen Moment, um zu begreifen, was das bedeutete. Es war eine neurobiologische Sensation.“ (10)

Diese Entdeckung ist deshalb eine Sensation, weil wir jetzt zu wissen beginnen, wie das intuitive Erfassen der Seele des Anderen biologisch abläuft: Spiegelneuronen in unserm eigenen Gehirn werden beim Miterleben der Handlungen eines Gegenübers in derselben Weise aktiviert, wie sie aktiviert werden würden, wenn wir jene Handlungen selbst ausführten. Die Spiegelung geschieht nicht nur gleichartig und -zeitig, sondern auch unwillkürlich und ohne jedes Nachdenken.

Beim Menschen genügt es zu hören, wie von einer Handlung gesprochen wird, um die Spiegelneuronen in Resonanz treten zu lassen. (11) Die handlungssteuernden Nervenzellen funken schon bei bloßen Vorstellungen. Sie liegen bezeichnenderweise in einem Hirnbereich, das auch Sprache steuert. Allein schon durch Sprache können wir einander Handlungen vorstellbar machen.

Wirkung von Spiegelneuronen

Die Spiegelneuronen ermöglichen uns somit, unsere Umwelt, vor allem Menschen, zu verstehen, und zwar gerade in ihren verborgenen Feinheiten. Wir haben z. B. in Gegenwart eines Menschen ein „ungutes Gefühl“, wir ahnen intuitiv, ohne es beweisen zu können, was von diesem Menschen ausgeht. Mit einem geliebten, mit uns innigst verbundenen Menschen spiegeln wir uns derart, dass unsere Gedanken jeweils vom anderen bereits mitgedacht werden, ehe wir sie aussprechen.

Das ist in des Wortes wahrster Bedeutung der Gleichklang der Seelen, denn wie bei einem Musikinstrument schwingende Saiten andere Saiten zum Mitschwingen bringen, sodass der Klang der tatsächlich angeschlagenen Saiten voller ertönt, so regt das Denken des einen das des andern an.

Schon der 24jährige Schiller weiß von der Anregung zu berichten, die ein Geist dem andern sein kann: „Mühsam und wirklich oft wider allen Danks muss ich eine Laune, eine dichterische Stimmung hervorarbeiten, die mich in zehn Minuten bei einem guten denkenden Freunde sonst anwandelt; oft auch bei einem vortrefflichen Buch oder im offenen Himmel. Es scheint, Gedanken lassen sich nur durch Gedanken locken …“ (12)

Arme Menschen, die solche Geistesanregung nicht erlebt haben, weil sie in „Gesprächen“ nur Monologe halten, sich selbst darstellen können, ihnen die Antennen für die Spiegelung fehlen. Sie nerven ihr Gegenüber, weil sie diesem eine einseitige Dauerspiegelung zumuten, ohne zur Gegengabe bereit zu sein. Bei wirklichen Gesprächen, die ihren Namen verdienen, findet gegenseitige Spiegelung statt, ein Geben und Nehmen, ein gemeinsames Vortasten zum Erkennen, beglückend für alle Beteiligten.

Der arrogante Selbstdarsteller aber bringt die Beteiligten in Anspannung und Missstimmung, setzt sie herab, was nachweislich „die Signalrate der Spiegelneuronen massiv“ vermindert. (13) Gute Gespräche ermöglichen ausgiebige Spiegelung, reiche Intuition. Von unseren Altvorderen heißt es, sie hätten solche Gespräche als „Gottmehren“ bezeichnet.

Somit vergehen sich autistische Selbstdarsteller in ihrer Blindheit für den anderen gegen den Sinn des Lebens, der im Bewusstwerden des Wesens der Dinge besteht. Wer den andern nicht wahrnimmt und spiegelt und somit nicht versteht, verarmt nicht nur in seinem Gottesbewusstsein, er entwickelt auch kein Mitgefühl. Denn seine Nervenzellnetze geraten nicht in Resonanz, ja, sterben wegen Nichtgebrauchs ab.

„Dauerhafte Dysbalancen … sind ein häufiger Ausgangspunkt für seelische Störungen und begünstigen körperliche Erkrankungen.“ (14) Absichtlicher Entzug von Spiegelung wird modern als „Mobbing“ bezeichnet. Eine solche soziale Isolierung bedeutet für den Betroffenen Lebensgefahr.

Nicht nur wird die Ausschüttung lebenswichtiger Botenstoffe (Hormone) stark vermindert, darunter die körpereigenen Opioide Dopamin und Oxytocin, sondern der Ausgegrenzte gerät in Angst und Stress, und damit ist die Dominokette (s. o.) in Gang gesetzt, die bis zur Überflutung des Blutes mit Cortisol führt. Bei Naturvölkern kennt man den sogenannten Voodoo-Tod. Hat ein Stammesmitglied ein heiliges Verbot (Tabu) übertreten, wird es vollständig aus der Gemeinschaft ausgeschlossen; es stirbt daran innerhalb kurzer Zeit.

Noch viel schlimmer wirkt sich mangelnde Spiegelung beim Säugling aus. Der Säugling kommt mit einer Grundausstattung von Nervenzellen und schon einigen Vernetzungen auf die Welt und ist dringend darauf angewiesen zu spiegeln. Wird ihm das durch abweisende, sich abwendende, in ihrer Mimik unlebendige Erwachsene verweigert, kommt es bei ihm nicht zur Bildung von Nervenzell-Netzen, die ihrerseits spiegeln könnten. So ist erklärlich, weshalb aus einer liebesarmen Familie Kinder hervorgehen, die selbst zur Hinwendung und Liebe, zur Spiegelung des andern nicht fähig sind.

Die dazu notwendigen Netze sind nicht entstanden, die Nerven abgestorben. „Use it or loose it“, heißt es in der Neurologie, d. h. entweder man nutzt seine Gehirnzellen, oder man verliert sie. „Spiegelaktionen entwickeln sich nicht von allein, sie brauchen immer den Partner“ (15), und zwar beim Kind den lebendigen Partner, nicht den Bildschirm. Denn dieser kann ja mit dem Kind keine Spiegelungen austauschen.

Bedeutung Spiegelneuronen

Daraus ergibt sich, und die Erfahrung lehrt es auch, dass es in unseren Schulen nicht so sehr auf die Systeme ankommt, die wir panikartig immer wieder umstellen zu müssen glauben (Stichwort: PISA), als vielmehr auf die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden. Lehrende, die ihnen anvertrauten Lernenden mitzunehmen wissen durch Vormachen, Zeigen, Sinne-Ansprechen, Selbst-Tun und Selbst-Erfahren, deren Unterricht daher für alle spannend ist, ein gemeinsames Schreiten zur Erkenntnis, erreichen einen Bildungsstand bei den ihnen Anvertrauten, der befriedigt und haften bleibt.

Aber gerade diese zwischenmenschlichen Arbeitsbedingungen sind heute weitgehend kaum noch erreichbar, weil viele Jugendliche durch Mangel an Zuwendung und Erziehung, durch Mangel an Spiegelung in ihrer Kindheit nicht mehr fähig sind, sich dem Andern zuzuwenden, und sogar täglich und stündlich darauf aus sind, ihre Lehrer „fertigzumachen“, indem sie das Aufkommen zwischenmenschlicher Verbindungen im Unterricht von vorn herein zerstörend behindern.

Dies zeigt Wirkung, und so schaukelt sich eine Stimmung auf, in der ein geistiger Austausch nicht mehr stattfinden kann. Da scheitert auch die beste Lehrkraft.

Dass es allerdings seit je unfähige Lehrende gibt, die sich durch unlebendige, abstrakte Sprechweise und unanschaulichen Unterricht auszeichnen, dass sie die Kinder und Jugendlichen von oben herab „schulmeistern“, verschlimmert die Lage noch. Spiegelung findet hier nicht statt.

Aus der Fähigkeit, Gedanken und Verhaltensweisen zu spiegeln, ergibt sich andererseits auch die Erscheinung der Massenpsychosen. Hier ist Eigenständigkeit im Denken und Wollen gefragt und Mut, sich verderblichen Strömungen entgegenzustemmen. „Die Paradoxie liegt darin, dass eines der Grundphänomene des Menschseins und der Menschlichkeit, nämlich die Fähigkeit zur Resonanz, zugleich zur Entwicklung von Massenphänomenen führen kann, welche die Zerstörung der Menschlichkeit zur Folge haben.“ (16)

In der Erziehung sind also Voraussetzungen zu schaffen, die sowohl die seelische Entfaltung zu Liebe und Hinwendung zum Andern ermöglichen als auch die der Eigenständigkeit und des Mutes. Das bedeutet, dass der Mensch seine Spiegelneuronen einerseits vermehren und vernetzen, andererseits sein Frontalhirn entwickeln sollte, dessen Vorderlappen als Sitz der Selbststeuerung gilt. Hier entsteht die Fähigkeit, gedankenlose Nachahmung bei sich selbst zu kontrollieren.

Hier entwickeln wir durch Verantwortung für uns selbst und für die Entfaltung des Guten, Wahren und Schönen in der Welt unsere Richtkraft, unsere Wahlkraft und Gestaltungskraft. Kräfte, die uns zu dem Menschen werden lassen, den wir aus dem uns Gegebenen selbst gestalten. Oder wir unterlassen es. Zu jedweder Art unserer „Selbstschöpfung“ ist uns die Freiheit gegeben. (17)

Schlußbetrachtung: Ist der Wille frei?

Unsere Gene steuern uns zwar zu einem Teil, die Umwelt beeinflusst uns zu einem anderen Teil, ohne dass wir uns dessen immer bewusst sind, wir jedoch sind es vor allem, die Einflüsse aus der Umwelt in ihrer Wirkungsweise auswählen, in uns lenken und somit unsere Gene steuern können. Wir können und wollen eigenständig unsere Willenskräfte nach uns selbst, nach dem gottahnenden Ich in uns ausrichten.

Wenn es dann um uns einsam wird, unsere Sehnsucht nach Menschen, in denen wir unsere Gedanken und Gefühle spiegeln könnten, seltener erfüllt werden kann und besonders derjenige fehlt, mit dem einst innigste Zweisamkeit bestanden hat oder der vielleicht im ganzen Leben nicht zu finden war, dann zahlen wir einen hohen Preis.

Denn für die Gesunderhaltung unserer Seele und damit unseres Leibes sind wir auf die Spiegelung in anderen Menschen angewiesen. Doch um einer beliebigen Spiegelung willen von unseren Idealen zu lassen und im Mitläufertum zu verflachen, fällt uns schwer. Lieber wählen wir die Einsamkeit.

„Vieles kann der Mensch entbehren, nur den Menschen nicht“, fand auch Ludwig Börne. Aber Menschen, mit denen Spiegelung in allen Bereichen gelingen soll, müssen schon von gleichem Geiste beseelt sein. In solchem Falle gäbe es auch nur ein klares Nein auf die rhetorische Frage Ciceros:

„Gibt es etwas Beglückenderes, als Menschen zu kennen,
mit denen man sprechen kann wie mit sich selbst?“

Quellennachweise:

1. Joachim Bauer, „Das Gedächtnis des Körpers“, Piper 2004, und „Warum ich fühle, was du fühlst“, Hoffmann und Campe, 2005
2. Joachim Bauer, Warum ich fühle, was du fühlst, a. a. O., S. 156-157
3. Bauer, Das Gedächtnis des Körpers, a. a. O., S. 232
4. a. a. O., S. 228
5. a. a. O., S. 232
6. a. a. O., S. 234
7. a. a. O., S. 236
8. a. a. O., S. 237-240
9. a. a. O., S. 241
10. Bauer, Warum ich fühle, was du fühlst, a. a. O., S. 23
11. a. a. O., S. 24
12. angeführt in „Schillers Selbstcharakteristik“, herausgegeben von Hugo von Hofmannsthal, Insel 2005, S. 26
13. Bauer, Warum ich fühle, was du fühlst, a. a. O., S. 34
14. a. a. O., S. 57
15. a. a. O., S. 102
16. a. a. O., S. 150
17. siehe Mathilde Ludendorff, „Des Menschen Seele“ und „Selbstschöpfung“

Heidrun Beißwenger