Reflektionen über die Rolle des Zeithorizonts im Denken

Einführung

Die folgende Abhandlung soll die Rolle und die Wirkungen des Zeithorizonts in unserem Denken sichtbar werden lassen. Es geht mir nicht nur darum, eine Sammlung von Perspektiven oder eine Aneinanderreihung von Beobachtungen zu liefern, sondern auch die Tragweite dieses Themas aufzuzeigen. Damit kann uns bewußt werden, welche elementare Rolle der Zeithorizont in unserem Denken spielt.

Der Charakter dieser Abhandlung ist der des „Aufzeigens“ oder „Hinweisens“ – ähnlich wie man mit dem Finger auf ein bestimmtes Objekt zeigt (Ostensiv-Referenz), um zu verdeutlichen, was gemeint ist. Der Finger deutet auf das Phänomen – er weist den Beobachter nur auf die Richtung hin, in welcher Gegend er etwas erkennen kann. Darum ist es wichtig nicht auf den Finger zu achten, sondern den Blick in Richtung des Phänomens zu wenden, auf welches der Finger aufmerksam machen will.

Hier geht es – in Heideggers Worten – um ein „Entbergen“ (sinngemäß „etwas aus dem Verborgenen hervorholen“) eines elementaren Aspektes des Denkens, dem wir uns auf eine Weise nähern wollen, wie er sich von der Sache her selbst zeigt. Sicher ist der Zeithorizont nur eine Perspektive, die das Phänomen des Denkens nicht vollständig beschreiben kann. Eine Perspektive zeigt nie das Ganze, aber dafür zeigt sie den gezeigten Ausschnitt detaillierter.

Diese Abhandlung ist inspiriert worden von zwei Büchern von Martin Heidegger, die mich zum Nachdenken brachten. Namentlich – „Sein und Zeit“ – und – „Was heißt Denken?“ Inspiriert insofern, als ich beim Lesen von Heidegger erstmals ein völlig neues Denken kennenlernen durfte, das meine eigene Reflektion und Selbstverständnis – also die Frage „Was Denken heißt?“ – völlig verändert hat.

Nachdem ich mich einmal von seinen Ansätzen faszinieren ließ, kamen immer mehr Anregungen hinzu, wie man die Frage „Was heißt Denken?“ mit einer Fülle anderer Perspektiven ergänzen kann, von denen jede einzelne mächtig genug ist, das Phänomen des Denkens in einem völlig neuem Licht erstrahlen zu lassen.

So spricht der Meister selbst …

„Das bedenklichste in unserer bedenklichen Zeit ist, daß wir noch nicht denken! … In das, was Denken heißt, gelangen wir, wenn wir selber denken. Damit ein solcher Versuch glückt, müssen wir bereit sein, das Denken zu lernen. Sobald wir uns auf dieses Lernen einlassen, haben wir auch schon zugestanden, daß wir das Denken nicht vermögen.“ (Heidegger – „Was heißt Denken?“)

Was ist ein Zeithorizont?

Bevor wir uns der Frage: „Welche Rolle der Zeithorizont im Denken spielt?“ zuwenden können, sollten wir zuerst verstehen, was mit dem Begriff des Zeithorizonts gemeint ist. Verwenden wir hierfür ein Bild und stellen wir uns einen Menschen in einer Landschaft vor.

Je nachdem, wie die Landschaft beschaffen ist, beschränkt sie das Blickfeld des Betrachters. Auf einem Hügel oder einem Berg, mag die Sicht kilometerweit in die Ferne reichen, in einem Wald oder einer Stadt jedoch nur wenige Meter betragen. Dies zeigt, daß der Horizont keine vorher definierbare Grenze ausweist, sondern durch den Standort des Betrachters bestimmt wird.

Eine räumliche Metapher versinnbildlicht hier nur den Begriff des „Horizontes“ – doch wie können wir uns einen zeitlichen Horizont vorstellen? Um den zeitlichen Horizont darstellen zu können, knüpfe ich an unser „vulgäres“ Zeitverständnis an, welches drei Dimensionen umfaßt – Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft.

Diese Ausdehnung der Zeit ist jedem von uns aus dem alltäglichen Verständnis geläufig. Analog des Landschaftsbeispiels kann man sagen, daß es beim Zeithorizont um ein „Überblicken“ oder „Über-Sehen“ eines „Zeitraumes“ geht. Dieser Horizont entsteht, indem Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges bewußt in den Blick genommen wird.

Als Metapher: Es ist die Größe der zeitlichen Lichtung, in der wir stehen und in der wir durch die Zeit sehen können. Der Zeithorizont spielt beispielsweise bei unseren Entscheidungen eine wichtige Rolle. Dies zeigt sich beispielhaft in der Frage, welchen Zeitraum unsere Entscheidungen einschließen – sprich – ob wir nur kurzfristig zu Denken vermögen (im Hier-und-Jetzt leben) oder eine langfristige Perspektive (Lebensperspektive) im Blick haben.

Die Geschichte des Menschen als Zeithorizont …

Jedes Dasein hat eine eigene Geschichte und einen Anfang, in dem es – in Heideggers Worten – „geworfen“ wurde. Geschichte ist hier in einem zweifachen Sinne zu verstehen. Zum Einen als „persönliche“ und zum anderen als „kulturelle Geschichte“. „Geworfen“ ist das Dasein deshalb, da es sich die Umstände und den Rahmen seiner eigenen Existenz nicht frei aussuchen konnte. Wir werden in eine bereits bestehende Kultur geboren und auf eine bestimmte Art erzogen – z.B. wie es dem Ideal unserer Eltern entspricht.

Der Blick in die Vergangenheit offenbart uns, wie wir zu dem wurden, der wir sind. Nach Heidegger erschließt sich uns unsere „Geworfenheit“ als unsere Befindlichkeit. Sie bringt zum Ausdruck, „wovor wir geworfen wurden“ bzw. daß wir an unser „Geworfensein in die Welt“ überlassen sind. Überlassen in dem Sinne, daß wir an unserer eigenen Geworfenheit nichts zu ändern vermögen – sie bestimmt den Ausgang und Fortgang unseres eignenen „In-der-Welt-Seins“.

Wieweit wir in die Vergangenheit zu blicken vermögen, bestimmt eine Grenze unseres Zeithorizontes – eine Grenze, die sozusagen hinter uns liegt.

Was uns unser „Vor-Blick“ erschließt, nennen wir Zukunft. Darin erschließen wir ein mögliches Wohin unseres Daseins – die Möglichkeiten des eigenen Seinkönnens. Zudem kann es uns offenbaren, „worumwillen“ wir leben – beinhaltet also die Möglichkeit einen Sinn im Dasein zu finden bzw. ihm diesen zu geben. In unserer Metapher bestimmt die Zukunft unseren Vor-Blick auf den Zeithorizont.

Die Ausdehnung unseres Zeithorizontes ist somit durch das „Im-Blick-haben“ unser eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestimmt.

Wie wir Zeithorizonte in unserem Denken setzen …

Beziehen wir den Horizont auf das Denken, so ist außerdem zu sagen, daß je nachdem, an was wir denken, der im Blick gehaltene Zeithorizont sehr unterschiedlich ausgedehnt sein kann. Je nachdem, wie schwerwiegend eine zu treffende Entscheidung ist, berücksichtigen wir unterschiedliche Zeithorizonte beim Bedenken einer Sache.

Bei der Auswahl eines Mittagessens mag es genügen, den Verlauf des weiteren Tagesgeschehens mit im Blick zu haben, während die Wahl eines Partners möglicherweise eine Entscheidung auf „Lebenszeit“ ist.

Doch inwiefern ist eine solche Setzung des Zeithorizonts für das Denken relevant?

Halten wir zunächst fest, daß das Denken sich als Prozeß immer in der Zeit abspielt.

  • Es hat eine Geschichte (Vergangenheit), in der wir zu dem wurden, was wir sind. Wenn ich hier von Geschichte spreche, meine ich sowohl die „Denkgeschichte einer Kultur“, welche die Möglichkeiten (oder auch vorbestimmte Ausrichtungen/ Werturteile) des Denkens bereitstellt, als auch unsere persönliche Geschichte, die auf unseren Erfahrungen fußt und zu bestimmten Denkgewohnheiten geführt hat.
  • Es hat eine Gegenwart, in der wir stehen, entscheiden und handeln.
  • Und es hat eine Zukunft, die wir vorausdenken, um uns selbst zu entwerfen – Pläne für ein künftiges „Seinkönnen“ schmieden können.

SanduhrAlle drei Aspekte des Zeithorizonts wirken auf unser Denken ein. Anders gesprochen, beeinflussen sich die drei Dimensionen der Zeit in unserem Denken immer gegenseitig. Dies gilt auch dann, wenn wir einer bestimmten Dimension den Vorrang einräumen, in dem wir beispielsweise hauptsächlich aus unseren Erfahrungen der Vergangenheit urteilen oder unser gegenwärtiges Verhalten an unseren Plänen ausrichten, die erst in der Zukunft real sein werden.

Das Vordenken in die Zukunft verändert aber nicht nur unserer gegenwärtiges Denken und Handeln, sondern ebenso unsere Vergangenheit. Wie kann ich mir diese „Verzahnung“ oder „gegenseitige Beeinflussung“ der drei Zeitdimensionen vorstellen?

Wenn ich daran denke, was ich im Laufe des Tages noch tun will (Zukunft), berücksichtige ich dabei sowohl meine Vergangenheit (beispielsweise als Erfahrungen/ konkrete Fähigkeiten) als auch die gegenwärtigen Möglichkeiten, die mir zur Verfügung stehen. Sobald ich meine Planung vorgedacht habe, vergegenwärtige ich mir meine gegenwärtigen Handlungsmöglichkeiten, die zu dem künftig angestrebten Ereignis führen werden und handle entsprechend.

In diesem „vergegenwärtigen“ meiner Handlungsmöglichkeiten fließen alle drei Zeitdimensionen zusammen und bilden eine Synthese. Mir ist klar, was ich bereits getan habe, was gerade getan werden muß und noch zu tun ist, wenn ich das künftige Ereignis erleben will. Diese Synthese von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kann man als ein „Verzahnt-Sein“ der drei Zeitdimensionen ansehen. Ohne dieses fließende Ineinanderübergehen der drei Dimensionen der Zeit wäre sinnvolles Handeln gar nicht denkbar.

Um die Auswirkungen des Zeithorizonts auf das Denken besser verstehen zu können, werden wir in Folge einige Beispiele besprechen, welche die Auswirkungen des Zeithorizonts auf das Denken veranschaulichen sollen.

Orientierung an einem kurzen Zeithorizont

Beobachten wir den Zeithorizont von Kindern. Kinder erleben die Welt zunächst in einem Zeithorizont, der sich sehr stark auf das Gegenwärtige – das Hier und Jetzt – bezieht. Wenn Kinder spielen, können sie vollends im „Hier und Jetzt“ des Spieles aufgehen – sich voll auf das Spiel einlassen. Triebe und Bedürfnisse werden in der Gegenwart ausgelebt.

Ein Sublimieren oder Aufschieben der momentanen Bedürfnisse ist schwierig und trifft bei Kindern auf Unverständnis. Das Denken des Kindes ist lustorientiert, d.h. es präferiert diejenigen Dinge, die der momentanen Luststeigerung dienen. Lust wird hauptsächlich in der Gegenwart befriedigt. Die Aufgabe – den Zeithorizont des Kindes auf ein Künftiges auszudehnen – übernehmen in der Erziehung die Eltern oder Lehrer.

Ein „kurzer“ Zeithorizont eignet sich zum Erlernen simpler Tätigkeiten, wie einfache motorische Koordinationen. Je komplexer ein Thema ist, desto länger wird der Zeithorizont der durchschritten werden muß, bis man zum „Erfolg“ – der Belohnung – gelangt. Um beispielsweise Mathematik zu lernen ist – je nach angestrebter Qualifikation – ein Zeithorizont von Jahren oder gar Jahrzehnten nötig, bis die angestrebten Fähigkeiten vollendet sind.

Der Zeithorizont als selbst gesetztes Kontinuum …

ZaunBei Erwachsenen ist der – im Denken berücksichtigte – Zeithorizont nicht mehr so einfach zu ermitteln. Der Zeithorizont ist nicht konstant, sondern kann bei ein und derselben Person variieren. Ebenso kann eine Person – je nach Thema – verschiedene Zeithorizonte anlegen, die sie bei einer Planung oder Entscheidung im Blick hat. Um den Zeithorizont zu bestimmen, müssen alle drei Zeitlichkeiten berücksichtigt werden.

Der Zeithorizont unseres Denkens ist immer auf alle drei Dimensionen der Zeit verteilt. Dies ist auch dann der Fall, wenn der von uns im Denken berücksichtigte Horizont verschwindend gering sein mag – wir nur „von einem Tag zu nächsten leben. Insofern ist auch der Aufruf oder die Forderung ganz und gar im „Hier und Jetzt“ zu leben nicht möglich, da ein Mensch ohne Vergangenheit und Zukunft gar nicht existieren kann.

Erst seine Ausdehnung in der Zeitlichkeit erlaubt ihm eine Identität zu entwickeln, zu erhalten oder zu verändern. Ohne Vergangenheit könnten wir nichts wissen/lernen oder bereits Gelerntes anwenden – ohne Zukunft könnten wir nicht entscheiden, ob, wann und wofür wir das Gelernte anwenden.

Je stärker sich ein Zeithorizont auf das lediglich Gegenwärtige bezieht, desto geringer werden unsere Wahlmöglichkeiten für unser Seinkönnen. Ein Mensch, der nur das Gegenwärtige im Blick hat, vermag auch keinen Sinn im eigenen Tun und Lassen zu finden oder zu wählen – zumindest keinen, der einen weiter trägt, als die momentanen biologischen Bedürfnisse zu befriedigen.

Sinn fragt immer nach einem „Wozu?“ und bildet dadurch prinzipiell eine endlose Kette an Fragen und Antworten, die letztlich in die Unendlichkeit führen – hinein in einen infiniten Regreß. Dieses Problem ist uns aus dem „Münchhausentrilemma“ bekannt, was besagt, daß man Wahrheit nicht begründen kann, da jede Begründung immer hinterfragbar oder bezweifelbar ist. Ein Hinterfragen eines willkürlich gesetzten Grundes würde sich so immer in einer endlosen Kette von Zweifel und Begründungen enden, die niemals abgeschlossen werden kann.

Damit mag man ausschließen können, daß man niemals einen allgemeingültigen oder wahren Grund (oder Sinn im Leben) finden kann. Dies hindert uns jedoch nicht daran einen Sinn zu wählen bzw. uns für einen Sinn oder Selbstentwurf im Leben zu entscheiden. Dieser kann dann zwar nicht beanspruchen letztbegründet zu sein, aber dies mag auch in der Natur der Sache liegen, denn der Sinn für ein Individuum ist eine persönliche Sache und keine Angelegenheit, die auf die gesamte Menschheit verallgemeinert werden kann oder sollte.

Unsere Entscheidung schwebt somit über einem Abgrund, den wir selbst gewählt haben. Wir können dieser Entscheidung zwar keinen Wahrheitsanspruch abverlangen, aber wir können ihr selbst Bedeutung geben. Eine Bedeutung die sich zirkulär verstrebt – sozusagen ein freischwebendes Fundament an hermeneutischen Bedeutungsmustern erzeugt.

Unsere Wurzeln – der Horizont der Vergangenheit

„Wer die Geschichte nicht kennt, ist gezwungen sie zu wiederholen.“ (Goethe)

Was spricht Goethe mit diesem Gedanken an? Es sagt, daß Denken eine Geschichte hat. Die Geschichte unserer Kultur gibt uns Auskunft darüber, wie wir zu dem geworden sind, der wir heute sind. Warum unsere Kultur bestimmte Vorlieben und Abneigungen im abendländischem Denken pflegt, die im Laufe der Jahrtausende gewachsen sind. Sie sagt uns, was unsere Väter für Überzeugungen vertraten, wie sie die Evolution der Menschheit vorantrieben, woran sie scheiterten, welche Errungenschaften sie uns hinterließen, wie sie versuchten eine – für sie – ideale Form der Gesellschaft zu entwerfen.

Doch was kann uns der Verweis auf die Geschichte noch sagen? Er kann uns sagen, daß unsere Denkgewohnheiten keine Naturgesetze – also unabänderliche, feste Normen – sind. Es sind Gewohnheiten im Denken, die geschichtlich entstanden sind – so gesehen sind diese Denkgewohnheiten „willkürlich“ oder kontingent, d.h. auch anders möglich.

Eine zweiwertige Logik als „Maß der Wahrheit“ zu setzen, ist nur eine Möglichkeit unter vielen Anderen. Wie Gotthard Günther aufzeigt, kann man eine dreiwertige (oder mehrwertige Logik) ebenso konsistent konstruieren. Dies hätte aber dann zur Folge, daß wir nicht mehr nur in simplen zweiwertigen Kategorien denken und entscheiden (gut/böse – schön/häßlich – wahr/falsch), sondern komplexere Denkschemata ausbilden müßten, um logische Schlußfolgerungen ableiten zu können.

Als Realität nur das anzuerkennen, was meßbar ist – wie es viele modernen Wissenschaften tun – ist ebenfalls nur eine willkürliche Entscheidung. Doch jede dieser Entscheidungen hat Konsequenzen und beeinflußt das, was wir sehen können. Wer nur an die Realität der Materie glaubt, für den ist der menschliche Geist – der bekanntlich ja weder gemessen noch gewogen werden kann – ein unlösbares Rätsel.

Ich will damit nicht sagen, daß unsere bisherige Denkgeschichte wertlos ist – im Gegenteil – sie stellt ein wichtiges Fundament in der Geschichte des Denkens dar. Ein Fundament, ohne das eine Weiterentwicklung des Denkens gar nicht möglich wäre. Gesagt sei mit diesen kritischen Anmerkungen nur soviel, daß wir uns beim Entfalten unserer Denkmöglichkeiten nicht am Ende, sondern eher mitten in einem sich entwickelnden Prozeß befinden, der noch viel komplexere Mustern ausbilden wird.

Wir brauchen aber auch nicht mehr ganz von vorne anzufangen, sondern können uns auf die Schultern unserer Väter stellen und mit ihrem Background – der unser kulturelles Erbe ist – weiter in die Zukunft blicken, als sie es selbst jemals vermochten.

Dies ist möglich, wenn wir die Geschichte der Menschheit in unseren Zeithorizont aufnehmen. Wir können uns nur selbst verstehen, wenn wir unsere Wurzeln kennen. Je mehr wir unseren Zeithorizont in die Vergangenheit ausdehnen, desto leichter können wir erkennen, wie die Menschheit sich selbst entworfen hat – daß unsere Kultur kein Zufallsprodukt, sondern nur ein gegenwärtiger Übergang im Werden des Menschen ist.

Wir können verstehen, daß alle unsere Möglichkeiten des Denkens, Wissens und der (Selbst-)Gestaltung dem Quell der Vergangenheit entspringen. Wir können uns selbst die Erfahrungen der vergangenen Jahrtausende zueigen machen und damit ein mächtiges Werkzeug und Rüstzeug des Wissens.

Nur wer seine Wurzeln nicht kennt, ist entwurzelt und ist damit gezwungen die Geschichte zu wiederholen. Entwurzelt in dem Sinne, daß der Mensch seine Geworfenheit nur mehr er-leben aber nicht mehr ver-stehen kann. Unsere Existenz beginnt in der Geworfenheit unserer Existenz mit einem Rätsel, welches das „woher“ im Dunkeln läßt. Durch ein Verstehen dieser Vergangenheit können wir dieses Dunkel lichten, einen Pfad ausmachen, den unsere Väter vor uns gingen. Denn erst das Verstehen des „Woher“ eröffnet uns überhaupt erst den Blick auf ein mögliches „Wohin“, denn ein „Wohin“ ist immer ein Anschluß an ein bereits gewesenes „Woher“.

Es soll heutzutage immer noch Menschen geben, die die Erde für eine Scheibe halten. Selbst der Papst hat erst im letzten Jahrhundert zugestanden, daß die Erde um die Sonne kreist. Wer das Dritte Reich nicht kennt, mag sich heute für einen Demokraten halten und dieselben ausgrenzenden Argumente gegen Sekten verwenden, wie Hitler sie damals gegen die Juden formulierte. Wer die Geschichte der Sklaverei nicht kennt, mag die extremen Formen der Verdinglichung des Menschen (Stichwort – Lohnsklaverei) in unserer heutigen Gesellschaft für völlig normal halten. Wer das Schneeballsystem des Kapitalismus nicht versteht, wird nicht erkennen, daß der Reichtum unserer Gesellschaft auf dem Prinzip der Ausbeutung anderer Länder beruht.

Sicher ist dies nur wie eine willkürliche Aufzählung von verschiedenen geschichtlichen Ereignissen. Man mag fragen, wozu solche Kenntnisse für uns von Nutzen sein sollten. Wenn wir diese Entwicklung nicht verstehen und nicht auf sie aufsetzen können, sind wir verdammt all jenes zu wiederholen, was hunderte Generationen vor uns schon gedacht und ausprobiert haben: Nietzsches falsch verstandene „ewige Wiederkehr des Gleichen“. Wer seine eigene Kultur nicht versteht, ist ein Fremder in seinem eigenen Haus.

Wie wir unsere Vergangenheit verändern …

Erinnern wir uns an die Einheit der drei Dimensionen der Zeit. Hier haben wir bereits festgestellt, daß man keine Dimension isoliert betrachten kann, sondern alle drei Dimensionen – unabhängig davon wieviel von einer Dimension berücksichtigt wird – unser Denken erst ermöglichen. Selbst die Vergangenheit hat keine wirkliche oder feste Identität, sondern wird beim Denken immer neu erschaffen – rekonstruiert – und verändert sich damit kontinuierlich. Ich will Ihnen diese Behauptung an einem Beispiel verdeutlichen …

Vor einigen Jahrhunderten nahmen die Menschen noch an, die Welt und der Mensch sei – wie in der Genesis beschrieben – von Gott erschaffen worden. Erst als Darwin mit seinen Ideen der Vererbung und Evolution ein anderes Erklärungsmodell lieferte, kam der biblische Mythos ins wanken. Heutzutage sprechen wir wie selbstverständlich von Vererbung, dem Urknall, daß der Mensch vom Affe abstamme. Mit diesem Paradigmenwechsel im Denken, haben wir unsere gesamte Vergangenheit neu geschrieben – wir haben damit die Weltgeschichte neu rekonstruiert – uns eine völlig andere Vergangenheit gegeben.

Vergangenheit ist nur Gedächtnis oder wie wir unsere Identität ausbilden

Jeder hat eine persönliche Geschichte, die den Zeithorizont seines Denkens prägt. Diese persönliche Geschichte lebt in unserer Erinnerung weiter – ist der Hintergrund unserer Erfahrungen. Der Zeithorizont unserer persönlichen Vergangenheit spiegelt sich im Gedächtnis wieder. Unsere persönliche Geschichte ist uns jedoch nur insofern transparent, als wir uns an sie erinnern, d.h. sie rekonstruieren können.

Doch unser Gedächtnis vermag es nicht, unsere eigene Geschichte kontinuierlich zu rekonstruieren. Je weiter wir versuchen in unsere Vergangenheit zu blicken, desto bruchstückhafter werden die Erinnerungen oder wir haben sie gar gänzlich vergessen. Doch was geschieht, wenn wir unsere eigene Geschichte vergessen? Die „Vergangenheit“ ist nicht vergangen und vorbei, sondern spielt für die Gegenwart eine tragende Rolle. Unsere Erfahrungen bringen Struktur in die Ereignisse und befähigen uns zu Entscheidungen und zu Handeln.

Stellen Sie sich für einen Moment vor, daß Sie Ihr Gedächtnis verloren haben, sich an nichts aus Ihrer Vergangenheit erinnern können. Sind Sie ohne Ihre Erfahrungen noch derjenige der Sie jetzt sind? Würden Sie dann noch von sich als Person sprechen? Kann es eine Person oder ein Individuum ohne Geschichte überhaupt geben?

DenkenIch denke – Nein! Erst mit einer eigenen Geschichte (Vergangenheit) können Sie sich als Person identifizieren – erst mit den Erinnerungen an sich selbst, können Sie eine Kontinuität in Ihrer Persönlichkeit ausmachen. Eine Person ohne Vergangenheit kann keine Identität ausbilden, da die Person nichts hat, womit sie sich selbst vergleichen kann. Wir erschaffen unsere eigene Identität erst dann, wenn wir uns unserer vergangenen Identitäten bewußt sind. Erst im Vergleich können wir uns selbst als „kontinuierlich anwesend“ erkennen.

Sicher ist diese Form des Gedächtnisverlustes ein Extremfall, der nur sehr wenigen Menschen widerfährt. Aber ist das „Vergessen“ der eigenen Vergangenheit nicht ebenso ein Verlust der eigenen Persönlichkeit? Ähnelt das eigene Vergessen nicht einen zerstückelten Kinofilm, bei dem ein schlechter Cutter Stück für Stück einzelne Szenen entfernt, bis nur mehr ein zusammenhangsloses Flickwerk übrig bleibt? Verlieren wir mit dem Vergessen unserer Geschichte nicht auch Stück für Stück unsere Persönlichkeit?

Ich will an dieser Stelle auf diese Fragen keine vorschnelle Antwort geben. Lassen wir sie als Denkanregung stehen, die Sie selbst bedenken können, um die Rolle oder Wirkungen Ihres eignen Zeithorizonts zu erfassen. Wie drastisch die Wirkungen des Vergessens – und damit eines kontinuierlichen Schrumpfens des eigenen Zeithorizonts sind – vermag nur jeder für sich selbst zu beantworten.

Prinzipiell kann der Mensch aus Erfahrungen lernen – er kann sie aber auch aus dem Zeithorizont entfernen, in dem er vergangene Erfahrungen aus dem Denken bewußt verändert, verbannt, vergißt oder einfach ignoriert. Je weiter wir unseren Zeithorizont einengen, desto weniger Background steht uns zur Verfügung. Wenn wir selbst unsere eigene Geschichte vergessen, entwurzeln wir uns vollständig. Übrig bleibt nur mehr der Konsument, der lediglich das „Hier und Jetzt“ – die momentane Bedürfnisbefriedigung im Blick haben kann und nurmehr von Augenblick zu Augenblick zu leben weiß.

Vom Horizont der Zukunft – unser Ende

Interessanterweise setzt Heidegger für das Dasein die Zeitdimension der Zukunft als primär an. In anderen Wir denken immer voraus in die Zukunft, wenn wir Entscheidungen treffen.

Da es uns immer um das eigene Seinkönnen geht, erkundet der Mensch ständig die Möglichkeiten in der Zukunft – er läuft der Gegenwart in Gedanken vorweg, um die Auswirkungen seines Tuns im Vorblick erfassen zu können und es – als gewesene Zukunft – als Handlungswissen in der Gegenwart wieder zu entlassen. Dies ist nicht nur gelegentlich oder unter bestimmten Umständen der Fall, sondern all unser gegenwärtiges Handeln entstammt aus dem Vorlaufen unserer Sorge um uns selbst in der Zukunft.

Anschaulicher kann dies werden, wenn wir uns eine alltägliche Begebenheit – wie das Kochen – vorstellen. Schon bevor wir kochen, wissen wir, daß wir Hunger haben. Schon bevor wir das Gericht zubereitet haben, wissen wir wann und wie wir es kochen wollen. In der Gegenwart arbeiten wir unseren „Entwurf“ nurmehr ab, indem wir das Gericht tatsächlich kochen. Ohne ein solches Vorlaufen in die Zukunft (Planung/ Entwurf) bzw. ein Zurückbringen dieser Erkenntnisse aus der Zukunft (d.h. die gewesene Zukunft kehrt in die Gegenwart zurück und leitet uns beim Ausführen der Handlung an) wäre überhaupt keine zielgerichtete Handlung möglich.

Zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts mag auch ein Gedankenexperiment von Nutzen sein. Fragen Sie sich, welche Handlungen möglich wären, wenn ein Mensch die Zukunft in keiner Weise „vordenken“ könnte.

Man könnte sich nicht einmal ein Butterbrot schmieren, weil selbst bei einem so simplen Vorgang schon die Vorstellung eines „fertigen Butterbrotes“ vorhanden sein muß, um die einzelnen Schritte ( … Brot schneiden – Butter aus dem Kühlschrank holen etc. …) in der Gegenwart zu „wiederholen“. Die Vorstellung des fertigen Butterbrotes – und der Weg der dahin führt – muß für uns schon im voraus erschlossen sein, damit wir diese Tätigkeit ausführen können.

Horizont der Zukunft und die Fähigkeit moralisch zu handeln

GefängnisDoch inwiefern ist die Zukunft für die Perspektive des Zeithorizonts im Denken interessant? Das „Sich-vorweg-sein“ im Denken eröffnet dem Menschen erst die Möglichkeit, Konsequenzen seiner eigenen Entscheidungen und Handlungen absehen zu können.

Sehen wir uns als Beispiel einen Gewalttäter an, der im Affekt handelt. Was passiert, wenn ein Hooligan einen Passanten im Affekt brutal zusammenschlägt? Der Affekt reduziert den Zeithorizont des Täters auf das Gegenwärtige, er sieht nur seine eigenen verletzten Gefühle oder ergötzt sich an der Unterwerfung eines Schwächeren. Dies mag ihm kurzfristig die Anerkennung seiner Kumpels einbringen, aber schon die kurz- oder mittelfristigen Konsequenzen seiner Handlungen werden völlig ausgeblendet.

Würde er nämlich ernsthaft an seine Zukunft denken – also die Auswirkungen seiner Handlungen in den nächsten Wochen/ Monaten/ Jahren etc. – so könnte er selbst darauf kommen, daß ihm dieser „kurzfristige Kick“ von ein paar Minuten unter Umständen 10 Jahre Knast einbringt.

Mit der Fähigkeit des „Vordenkens“ würde er sich die Affekthandlung zehnmal überlegen – denn wer will ernsthaft einen kurzen Adrenalinstoß gegen 10 Jahre Freiheitsentzug eintauschen? Der Zeithorizont ist im Affekt drastisch geschrumpft auf das Gegenwärtige – die Zukunft ist nur noch für die nächsten Minuten im Blick. Wie wir in diesem Beispiel sehen können, ist die Fähigkeit einen größeren Zeithorizont überblicken zu können die Voraussetzung für moralisches Denken. Die Fähigkeit moralisch Denken zu können ist die Voraussetzung, um Verantwortung zu übernehmen. Veranschaulichen wir uns dies an einem weiteren Beispiel.

Der Horizont der Zukunft oder die Fähigkeit Verantwortung übernehmen zu können

Sehen wir uns als nächstes den Unterschied des Zeithorizonts bei einem Fließbandarbeiter und einem Manager an. Der Fließbandarbeiter tätigt immer dieselben Handgriffe – die Komplexität der Arbeit ist relativ gering und er muß nur einen sehr begrenzten Einblick in die Zukunft haben, gerade soviel, um zu wissen, wie das fertige Produkt seiner Arbeit aussehen muß.

Chel ManagerEin Manager, der eine große Firma führt, muß Jahre – oder gar Jahrzehnte – im Blick haben. Er muß künftige Entwicklungen erkennen können und fähig sein Entwicklungen zu initiieren, die erst Jahre später Früchte tragen werden.

Je weiter ein Mensch den Zeithorizont seines Denkens ausdehnen will, desto komplexer werden Zusammenhänge, die er berücksichtigen muß, um die richtige (oder erfolgreiche) Entscheidung zu fällen. Aber gerade sein vorlaufendes Durchdenken der Zukunft, macht es möglich Verantwortung zu tragen. Denn Verantwortung tragen heißt immer, sich der möglichen Konsequenzen seiner eigenen Handlungen bewußt zu sein.

Insofern können nur Menschen Verantwortung übernehmen, die es vermögen, die Komplexität eines langfristig vorlaufenden Zeithorizontes bewältigen zu können. Damit haben wir ein weiteres Element des Zeithorizonts entdeckt – die Fähigkeit Komplexität zu verarbeiten. In anderen Worten – je weiter ich meinen Blick in die Zukunft ausdehnen will, desto größer wird die Komplexität an Möglichkeiten, mit denen ich zu rechnen habe. Das Möglichkeitsfeld der Zukunft erschließt immer mehr „wenn-danns“, die ich denkend verarbeiten muß, um eine Richtung zielstrebig einschlagen zu können.

Man könnte hier die Analogie des Schachspiels wählen. Der Fließbandarbeiter hätte in diesem Bild immer nur den nächsten Zug seiner Figuren im Blick, während der Manager es vermag, mehrere Züge im Voraus zu denken. Dieses Vordenken macht es möglich, daß er strategisch an ein Schachspiel herangeht – den Ausgang plant. So könnte er u.U. bereits vier Züge im Voraus sehen, daß sein Gegner schon Schach-Matt ist, während sich dieser sich noch über das „Geschenk“ des Bauernopfers freut.

Insofern ist es konsequent, wenn Heidegger sagt, daß der Sinn des Daseins sich für das Dasein erst vollständig erschließt, wenn der persönliche Zeithorizont sich von der Geburt bis zum Tod erstreckt. Erst durch das „Vorlaufen zum Tode“ kann der Sinn eines gesamten Lebens erkannt und angestrebt werden. Je kürzer ein Mensch eine Zukunft erschließt, desto weniger kann er von seinem eigentlichen Seinkönnen erfahren.

Ich hoffe mit diesem Beispielen einen kleinen Einblick eröffnet zu haben, wie sich der Zeithorizont eines Menschen sich auf das Denken auswirkt. Doch dies kann nur ein kleiner Fingerzeig sein – die volle Bedeutung kann uns erst dann vollends klar werden, wenn wir selbst beginnen den Zeithorizont unseres eigenen Denkens zu erkennen und zu reflektieren.

Anhang – Eine poetische Reflektion des Zeithorizonts

Und wer franzet oder britet …

Und wer franzet oder britet
Italienert oder teutschet,
Einer will nur wie der andere
Was Eigenliebe heischet.

Denn es ist kein Anerkennen,
Weder Vieler, noch des Einen,
Wenn es nicht am Tage fördert
Wo man selbst was möchte scheinen.

Morgen habe denn das Rechte
Seine Freunde wohlgesinnet,
Wenn nur heute noch das Schlechte
Vollen Platz und Gunst gewinnet.

Wer nicht von dreitausend Jahren
Sich weiß Rechenschaft zu geben,
Bleib im Dunkel unerfahren,
Mag von Tag zu Tage leben.

(von Johann Wolfgang von Goethe)

Dieser kleinen Ausarbeitung zum Thema „Zeithorizont im Denken“ noch ein Gedicht von Goethe anzufügen, kommt nicht von ungefähr. Heidegger selbst pflegt seinen Vorträgen immer wieder mit Gedichten zu bereichern. Dabei ging es ihm vordergründig nicht darum, einen trockenen Sachtext mit etwas Poesie aufzulockern. Die Poesie selbst war für Heidegger ein Zugang zu dem, was er Denken nannte.

Gedichte kann man nicht in der Weise lesen und verstehen, wie es bei „Sachtexten“ der Fall ist. Es geht bei einem Gedicht nicht darum Informationen möglichst prägnant zu präsentieren, sondern darum die Idee des Dichters in Erscheinung zu bringen. Erst beim Bedenken eines Gedichtes kann sich dessen Tiefe offenbaren – neben dem Gedachten eine Stimmung vermitteln, die in der Struktur, Rhythmus, Klangfarbe und Wortwahl versteckt ist.

Dieses Gedicht stammt aus dem „Buch des Unmuts“ im „West-östlichen Divan“. Es besteht aus vier Strophen mit ebensovielen Sätzen, die immer aus exakt gleich großen Hälften bestehen. Der Beginn des Gedichtes mutet etwas sperrig an und gewinnt erst in der zweiten Hälfte an Fluß. Man kann es als Rüge oder Ermahnung zum Nachdenken an den Rezipienten verstehen, was durch die kantige Form der ersten Strophen unterstrichen wird.

Betrachtet man die erste Strophe so besteht die Frage, wen Goethe mit diesen Zeilen ansprechen will. Man meint eine ironische Anspielung auf das Nationalbewußtsein herauszuhören, die sich in den vier Nationalitäten verkörpert. Der bittere Beigeschmack der Eigenliebe – der Liebe zum Vaterland – ist die darin implizierte Idee der Abgrenzung zu Anderen. Die fast verzerrt wirkenden Sätze und Wörter verleihen dieser Strophe etwas ironisches – skuriles. Die Wortverdrehungen unterstreichen eine Verdrehung der dahinterliegenden Ideen und geben der nationalistischen Einstellung und ihrer Voreingenommenheit einen lächerlichen Anstrich.

In der zweiten Strophe wird die Abgrenzung und deren Beschränktheit weiter ausgeführt. Welche Werte vertreten wir? Sind es nicht die kleinen Gelüste der Bequemlichkeit, das öffentlichen Ansehen, das Verschieben der guten Vorsätze auf ein Irgendwann, um ein vermeintlich aufkommendes schlechtes Gewissen zu beruhigen? Nur das Heute im Blick behaltend, verlieren wir so ein Morgen, da uns der Aufschub selbst zur Gewohnheit wurde. Unsere kurzsichtige Eigenliebe bleibt so dem Nationalen und Modischen – dem Geschmack des Jedermans – verfallen.

In der dritten Strophe spricht er schon leicht zynisch von der Welt der kleinen Werte. In der Übertreibung des Gesagten, zeigt sich ein Stachel, der dem Leser den Spiegel seiner eignen Vorurteile vor Augen führen soll. Der Aufschub des „Rechten“ bringt das „Schlechte“ erst zutage – so wird der verloren gegangene Wille zur Änderung offenbar. Denn auch im Aufschieben dessen was zu tun ist, ist keine Aufhebung der Moral zu sehen, sondern markiert ebenso eine Entscheidung, die Dinge laufen zu lassen. Wer das Gute nicht verwirklicht, hinterläßt eine Leerstelle, die sich mit dem Bequemen auffüllt – dem Schlechten erst den Platz schafft.

Erst in der letzten Strophe löst sich die sperrige Form des Gedichtes auf und verkündet mit überraschendem Pathos, was der versäumt, der nur von Tag zu Tage lebt. Die Erfahrung und die Weitsicht selbst ist es, die ihm verwehrt bleibt. Gleich mit der Wendung, daß dreitausend Jahre alte Wurzeln den Baum Europa wachsen ließen. Auf Europa selbst deuten sowohl die genannten Nationen als auch die Jahre. Die Jahre verweisen auf das Alter der europäischen Kultur – vom alten Testament – über Homer bis in die Neuzeit.

Mit diesem Verweis auf die gemeinsamen Wurzeln des scheinbar Getrennten, soll eine größere Verbundenheit hindurchscheinen – das europäische Denken. Gewonnen wird diese Erkenntnis durch die Fähigkeit, sich von der ganzen Geschichte Europas Rechenschaft geben zu können. Wer die Entwicklung von der Antike – von Troja bis Byzanz – von der Illias bis zum „Corpus Iuris“ kennt, sieht ein großes Haus, das gemeinsam von allen Nationen bewohnt wird. Die Kenntnis der Geschichte schafft das Fundament, um über den eigenen Tellerand hinausblicken zu können – ein größeres Ganzes zu sehen.

Der Tenor – den Blick von den Differenzen hinweg auf das Gemeinsame zu wenden – ist heute noch so aktuell, wie zu Goethes Lebzeiten.

Warum schreibe ich dies? Ich schreibe dies deshalb, weil Sie meinen Text nur verstehen werden, wenn Sie ihn wie ein Gedicht lesen – ihn wie ein Gedicht zu verstehen versuchen.

Viel Spaß beim Abenteuer des Denkens!

Tony Kühn