Lebendige Religion als Sinnerfahrung und Lebensdeutung

Kirchenfenster JesusDieser
Artikel widmet sich der Frage, wie wir Menschen religiösen Vorstellungen
in unser Leben integrieren. Als paradigmatisches Beispiel für die Übertragung
von religiösen Ideen einer Buchreligion, werden wir uns im weiteren
das Christentum – sprich die Bibel genauer ansehen. Doch widmen wir uns zuallererst
der Frage, wie wir überhaupt zu einer religiösen Vorstellung kommen.

Wenn wir beispielsweise die Bibel lesen haben wir einen religiöse Ideen
vor uns, die wir interpretieren und verstehen müssen, um zu einer eigenen
Anschauung des geschriebenen Wortes zu kommen. In anderen Worten – ein Buch
garantiert uns nicht, daß ein Leser „die Wahrheit“ entdecken
kann, sondern was derjenige von einem Text versteht, ist seine eigene Interpretationsleistung
– er ist gezwungen den Text in seinem eigenen Wissenshorizont zu deuten.

Wenn unser Verständnis einer Religion jedoch vom Leser und seinen Interpretationen
abhängt, so folgt daraus unausweichlich, daß es keinen „wahren“
oder „göttlichen“ Text geben kann, sondern nur ein Verstehen
eines Interpreten. Übertragen wir diesen Gedanken auf die Bibel, so folgt
daraus, daß prinzipiell jeder Interpretant dieser Texte ein „eigenes“
und damit „individuelles“ Verständnis dieser Religion erzeugt.

Da es keine eindeutige formulierbare Regel für das erzeugen einer Bedeutung
gibt – und auch gar nicht geben kann – ist die Folge, daß jeder Interpret
dieser Schrift sie unterschiedlich auslegen wird. Mit jeder Modifikation der
Auslegung wird jedoch gleichzeitig das „religiöse Verständnis“
oder die „religiöse Praxis und deren Wirklichkeitsbezug“ bei
jedem Menschen anders ausfallen. In anderen Worten – Religion ist eine ganz
bestimmte Form, mit der Menschen ihr Leben deuten und interpretieren.

Was heißt deuten?

Der Mensch ist ein Wesen, dem sich die Wirklichkeit nicht einfach durch deren
bloße Abbildung und Spiegelung im Bewusstsein erschließt, sondern
durch Verstehen, d. h. durch die konstruktive Deutung der Phänomene der
Wirklichkeit als etwas. Verstehen ist damit ein produktiver Prozess von Bedeutsamkeitszuschreibung
und Sinnstiftung, denn Verstehen heißt, etwas mit Sinn versehen. Deutung
ist immer kontingent, d.h. es gibt keine „wahre Deutung“, sondern
nur ein Spektrum an Möglichkeiten einen bestimmten Sachverhalt konsistent
zu interpretieren. In anderen Worten – jede Deutung ist immer auch anders möglich
– jede Deutung ist ein Produkt des Verständnishorizonts des Deuters.

Wie hängen Deutung und Religion zusammen?

Es müsste der Nachweis gelingen, dass religiöse Deutungen tatsächlich
einen Aspekt der Wirklichkeit in symbolischer Deutung zum Ausdruck bringen,
der auf die Wirklichkeit konstruktiv antwortet und nicht aus der reinen Konstruktion
des Bewusstseins stammt. Darin läge der gemeinsame Bezugspunkt zu
anderen Wirklichkeitsdeutungen.

Die Wirklichkeitskompetenz religiöser Deutungen leitet sich aus ihrem
Erfahrungshintergrund ab. Religiöse Deutungen sind der Struktur nach, wie
andere Wirklichkeitsdeutungen auch, Reaktionen darauf, wie Menschen Wirklichkeit
erfahren.

Religiöse Erfahrung meint einen Vorgang im Bewusstsein, in dem ein
Mensch von der Wirklichkeit so berührt und ergriffen wird, dass er diese
Wirklichkeitserfahrung als eine Erscheinungsform einer transzendenten, göttlichen,
übersinnlichen Dimension jener Wirklichkeit interpretiert. Dadurch eröffnet
sich ihm eine neue Sicht auf eben diese Wirklichkeit und damit auf sich selbst.

Welches Verständnis einer theologischen Hermeneutik ergibt sich daraus?

Bibel RosenkreuzEs
ist die Wirklichkeit, die sich dem Menschen in der religiösen Erfahrung,
als ein „durch das Medium des menschlichen Bewußtseins gebrochenes
Licht“, erschließt.
Der Deutungsbegriff erlaubt es, die Perspektivität und Konstruktivität
der menschlichen Reaktionen und Antworten auf jenes Erschließungsgeschehen
als subjektive Vollzüge zu beschreiben, die zugleich von außerordentlicher
lebensorientierender Kraft sind.

Seine Einbettung in den Kontext der religiösen Erfahrung soll deutlich
machen, dass diese subjektiven Vollzüge sich einer Anregung und Provokation
verdanken, die von „außen“ kommt und nicht dem Subjekt selbst
entspringt.

Der Zusammenhang von religiöser Erfahrung und Deutung zeigt, dass die
Verarbeitungen und Konstruktionen des Subjekts immer schon an vorausliegende
Deutungsoptionen gebunden sind, diese aufnehmen und im Kontext der je eigenen Erfahrung transformieren.

Die Bibel als paradigmatische Form religiöser Lebensdeutung

Widmen wir uns der Frage, was die Bibel überhaupt für ein Text ist.
D. h. handelt es sich bei der Bibel um das „Wort Gottes“ oder um einen
„historischen Erfahrungsbericht.“

Lauster kommt zu dem Ergebnis, dass die Bibel auf keinen Fall einen historischen
Erfahrungsbericht darstellt, da sie Themen enthält, die kein Mensch erfahren
kann. Als Beispiel: die in der Bibel beschriebene Schöpfung der Welt kann
von keinem Menschen erfahren werden, da er zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf
der Erde wandelte.

Auch die Auffassung, dass die Bibel das Wort Gottes darstellt, indem der Heilige
Geist die Schreiber beim Schreiben inspiriert, ist seit der Aufklärung
obsolet. Die Bibel enthält so viele Fehler und Widersprüche, dass
sie von einem allmächtigen und allwissenden Gott nicht diktiert sein kann.

Die Bibel, so die heutige Erkenntnis, ist durch und durch Menschenwort. Sie
ist das Ergebnis eines komplexen, geschichtlichen Überlieferungsprozesses,
der sich aus mündlicher Überlieferung, schriftstellerischer Tätigkeit,
Sammlung, Tradition und Redaktion zusammensetzt.

alte BibelAls
kleinster gemeinsamer Nenner der verschiedenen Versuche, das Wesen der Bibel
zu erfassen, dient eine inhaltliche Beschreibung der biblischen Texte. Deren
gemeinsamer Bezugspunkt ist die Schilderung und Beschreibung von Transzendenzeinbrüchen
in die Lebenswirklichkeit von Menschen. Die Bibel stellt demnach eine Sammlung
von Texten dar, die religiöse Erfahrungen von Menschen beschreibt, die
vor 2000 Jahren gelebt haben.

Nach langer mündlicher Tradition kam es zur
Verschriftlichung, um die Brücke zur Vergangenheit, also zu den Zeitzeugen,
nicht abbrechen zu lassen. Die Verschriftlichung ist also eine Form der kulturellen
Erinnerung, die Jan Assmann unter den Begriff des kulturellen Gedächtnisses
faßt.

Die Grundlage seiner (Jan Assmanns) Überlegungen ist die Beobachtung,
dass Völker, Gesellschaften und andere soziale Gruppen auf verschiedene
Weise einen konstruktiven Bezug zu ihrer Vergangenheit aufbauen, um daraus die
nötigen kulturellen Sinnstiftungen zu beziehen. Diese Sinnstiftung steht
wiederum im Interesse der stabilisierenden Identitätsprägung, d. h.
man erinnert sich an die Vergangenheit, um Antworten auf die Fragen zu bekommen
„Wer bin ich?“ – „Wer sind wir?“ – „Was sollen wir
tun?“ – „Wohin führt unser Weg?“.

Erinnert wird also, was von der Vergangenheit für die Gegenwart Bedeutung
hat. Als Organisationsformen dieser Erinnerung kommen in erster Linie Riten
und Feste in Frage, auch Denkmäler und andere Formen nichtsprachlicher
Kultursymbole und natürlich Texte, die jeweils in verschiedener Anknüpfungsweise
und Konstellation das kulturelle Gedächtnis ausmachen.‘

Die kulturelle Erinnerung ist Assmann zu Folge ein Verfahren, bei dem die historischen
Fakten nicht einfach nur rekonstruiert werden, sondern eben diese Fakten in
einen Gegenwartsbezug gestellt werden. Auch die Verfasser der Bibel legten keinen
Wert auf die Wiedergabe von geschichtlichen Fakten, sondern interpretierten
die Überlieferungen in ihrem Gegenwartsbezug – „im Interesse der kulturellen
Erinnerung.“

Die gegenwärtige Aneignung der religiösen Lebensdeutung der Bibel
ist in erfahrungstheologischer Perspektive entscheidend an die Voraussetzung
gebunden, dass ihre Texte auch gegenwärtig zum Aufbau je eigener religiöser
Erfahrung beitragen können, dass also ihre Wirklichkeitsdeutung in der
Art und Weise, wie wir unsere Wirklichkeit erfahren, zu Evidenz gelangt.

Die christliche Überlieferungs- und Kulturgeschichte

Der Bezug zur Vergangenheit ist konstitutiv für jede Form menschlicher
Lebensdeutung und Lebensorientierung. Lebensdeutung verdankt sich immer einer
geschichtlichen Vermittlung. Der produktive Bezug zur Vergangenheit vermittelt
sich über die geschichtliche Entfaltung und Entwicklung der vergangenen
Ereignisse, Ideengehalte und Deutungsperspektiven – also über deren Wirkungsgeschichte
im Prozess der Geschichte. Dieser ist als ein Gesamtprozess zu begreifen, es
gibt daher keinen unmittelbaren Rückgriff auf ein vergangenes Ereignis,
denn dazwischen liegt immer die Entfaltung und Entwicklung des geschichtlichen
Zeitverlaufs.

Aus hermeneutischer Perspektive ergibt sich daraus, dass es einen rein objektiven
Bezug zur Vergangenheit nicht gibt. Jeder Bezug zur Vergangenheit ist immer
schon eine Deutung – eine Interpretation vergangener Ereignisse im Lichte ihres
wirkungsgeschichtlich vermittelten Anspruchs auf die Gegenwart.

Die christliche Liturgie ist also nicht als ein statischer, übernatürlich
gegebener Ritus zu verstehen, sondern sie wird im Prozess der Überlieferung
gestaltet und weiter entwickelt. Maßgabe des Transformationsprozesses
ist die Darstellungs- und Vermittlungskraft der liturgischen Elemente. Damit
ist auf die zentrale Funktion des christlichen Gottesdienstes verwiesen.

Darüber hinaus werden so bedeutende Kultursegmente wie Kunst, Architektur
und Musik in den Dienst der religiösen Erfahrungsvermittlung gestellt.
Bis in die Neuzeit hinein ist daher die christliche Überlieferungsgeschichte
ein prägender Faktor der abendländischen Kulturgeschichte.

Lebenserfahrung und religiöse Lebensdeutung

Am Ende dieser Darstellung will ich noch einige interessante Parallelen zwischen
Kunst – also ästhetischen Erfahrungen – und religiösen Erfahrungen
aufzeigen.

  • Sinnerfüllungscharakter
    Die Erfahrung des Schönen in Kunst und Natur gestaltet sich beispielsweise
    als eine solche Sinnerfüllung.
  • Unterbrechungscharakter
    In der ästhetischen Erfahrung wird der alltägliche Realitätsumgang
    unterbrochen – das besondere hervorgehoben – das außergewöhnliche
    in den Blick genommen.
  • Widerfahrnischarakter
    Die ästhetische Erfahrung ereignet sich, d. h. sie stellt sich ungesucht
    ein und kann nicht vom Menschen selbst herbeigeführt werden.
  • Transzendierungscharakter:
    Die Sinnerfüllung, die der ästhetischen Erfahrung zu Grunde liegt,
    weist über sich hinaus auf eine Tiefendimension. Ihre sinnlich wahrnehmbaren
    Konfigurationen sind als Darstellung des Undarstellbaren zu deuten.

Alle vier Grundcharakteristika kehren in der Religion in gesteigerter Form
wieder. Interessant hierbei ist, daß in einer „toten Religion“,
solche Erfahrungen nur als historische „Berichte“ vorliegen, aber
nicht mehr als lebendige Erfahrungen an die Gläubigen vermittelt werden
kann. Eine lebendige Religion sollte hingegen fähig sein, einen lebendigen
Zugang zu diesen vier Erfahrungen zu erschaffen bzw. Methoden bereitstellen,
wie ein Mensch zu solchen Erfahrungen gelangen kann.

In anderen Worten – erst durch die lebendige religiöse Erfahrung erfährt
der Mensch seine Religiosität – verbindet die Idee mit seinem Leben oder
füllt das leere Skelett mit dem lebendigen Fleisch. Somit kann er die „religiöse
Theorie“ anhand der eigenen Lebenspraxis erleben, verstehen und nachvollziehen.

Joei

Joachim Dautert