Vom Untergang der Ontologie und Aufstieg des systemischen Denkens

Was heißt „alteuropäischen“ Denken?

Widmen wir uns zuallererst der Frage, was Luhmann unter einem „alteuropäischen Denken“ versteht. Als „alteuropäisch“ bezeichnet Luhmann unser bisheriges Denken, weil seine Wurzeln bis zurück in die Wiege der europäischen Kultur – nach Griechenland – zurückreichen. Genauer zu den griechischen Philosophen, welche diese Denkmuster vor ca. 2000 Jahren begründet haben.

Worum ging es den damaligen Philosophen? Sie versuchten die menschliche Natur und das Wesen alles Seienden durch das Werkzeug der Vernunft zu ergründen. Hierzu stellten die großen Denker der Antike einige wichtige Grundsatzfragen auf, die die Philosophen bis heute beschäftigen.

Einige Beispielfragen:

  • Was ist der Mensch?
  • Was ist Wahrheit?
  • Was ist das Seiende?
  • Woraus entsteht alles Seiende?
  • Wie kann der Mensch sich selbst und die Dinge um ihn herum erkennen?

Letztlich ging es darum, die grundsätzlichen Fragen der Menschheit zu formulieren, die man mit dem Mittel der Vernunft zu ergründen versuchte. Meine weiteren Anmerkungen zum abendländischen Denken sind nicht chronologisch geordnet, sondern versuchen vielmehr den Rahmen des ontologischen Denkens zu umreißen.

Der Mensch wurde – wie auch die Welt um ihn herum – als ein Seiendes bestimmt. Um zwischen Menschen und der Welt zu unterscheiden, trennte man die Dinge in Subjekte und Objekte. Damit war die grundlegende Beobachterperspektive dieses Denkens gesetzt – die Leitdifferenz unterschied zwischen Sein und Nichtsein.

Diese Beobachterperspektive nennt man auch ontologisches Denken, welches der Frage – in der Wissenschaft der Ontologie – nachgehen sollte, daß Wesen der Dinge (Subjekte und Objekte) zu erkennen und zu begründen.

Alles Seiende wurde als eine Ganzheit oder Einheit verstanden, die sich in eine Vielzahl von empirischen Phänomenen aufteilen läßt. Jedes Phänomen sollte man anhand der unterschiedlichen Eigenschaften und Wirkungsweisen erkennen können, welche insgesamt wiederum Teile des Ganzen waren. Man unterstellte den Dingen einen Wesenskern, der ein konkretes Phänomen „von Innersten her zusammenhält“.

Die typische Frage des ontologischen Denkens ist die „Was ist X?“-Frage (also „Was ist der Mensch?“ – „Was ist Gott?“ – Was ist die Natur?“)

Der Gedanke, daß den Dingen ein Wesenskern innewohnt besagt weiterhin, daß man ein „Etwas“ anhand seiner Eigenschaften und Wirkungen identifizieren kann. Hat man diese Eigenschaften „objektiv“ gefunden, so kann man identische und unterschiedliche Objekte voneinander unterscheiden. Alle Dinge mit dem gleichen „Wesenskern“ wären somit „als identisch“ zu denken.

Dem Subjekt kommt dabei eine herausragende Rolle zu, da es einen Sonderfall unter den anderen Objekten einnimmt. Es kann als Entität selbständig eigene Gedanken produzieren und hat einen exklusiven Zugang zu Sprache und Logos (Vernunft). Dem Subjekt stand eine Welt der Objekte gegenüber, wodurch es die Welt mit seinen Sinnen erkennen und durch den Gebrauch der Vernunft und der Logik verstehen konnte.

Diesem Denken liegt somit die Situation des „ich denke etwas“ zugrunde, wodurch für die Philosophie die Aufgabenstellung erwuchs, eine Beziehung zwischen dem „Ich denke“ und dem „Etwas“ herzustellen und genauer zu beschreiben.

Kant versuchte die Erkenntnismöglichkeit dieses „Etwas“ zu beschreiben, in dem er diese Denkphrase mit dem Erkennen „des Ding an sich“ auf die Spitze trieb. Damit war gemeint: Wer die absolute (oder vollständige) Erkenntnis eines Objektes erlangen will, muß das „Ding an sich“ erkennen bzw. beschreiben können.

Um die Wahrheit verstehen zu können bzw. um die richtige Erkenntnis von der Welt zu gewährleisten, war zudem ein Denkwerkzeug notwendig, daß Aristoteles beigesteuert hat: die sogenannte aristotelische Logik. Er legt mit drei berühmten Leitsätzen das Fundament auf dem die zweiwertigen Logik aufbauen sollte. Damit war die Methode – wahre von falschen Schlüssen unterscheiden zu können – geboren.

Die Basis der aristotelischen Logik besteht aus den drei berühmten Leitsätzen:

  • Dem Satz der Identität ( A = A)
  • Dem Satz vom Widerspruch (A ist ungleich Nicht-A)
  • Dem Satz des ausgeschlossenen Dritten (Entweder A ist wahr oder Nicht-A – aber nichts Drittes)

Der Satz der Identität besagt, daß es Dinge gibt, die identisch sind und über deren Identität sich auf deren „Gleichheit“ schließen läßt. Der Satz vom Widerspruch ermahnt uns, daß Dinge die dem Denken sowohl als positiv, als auch als negativ erscheinen können, strikt getrennt werden müssen. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten führt diesen Gedankengang weiter, indem ausgeführt wird, daß eine Aussage über das Seiende entweder im positiven oder im negativen Sinne „wahr“ sein muß – aber nichts drittes beinhalten kann. Es bezeichnet also ein striktes „Entweder-Oder-Verhältnis“ von wahrheitsfähigen Aussagen.

Auf die Frage – welche letztliche Einheit allem Seienden zugrunde liegen soll – wurden im Laufe der Jahrhunderte viele Antworten gegeben, die sich teilweise widersprechen: Dies könnte Gott, die Atome, ein Chaosuniversum, der Urknall oder eine Urmaterie sein, aus denen alle Dinge erschaffen wurden. Aristoteles nannte es Substanz, die späteren Philosophen das „absolute“ oder „tranzendentale Ich“, Platon nannte es die „Uridee“ und die Materialisten die Ursubstanz oder Urmaterie.

Der Clou an der Sache sollte sein: Wer diese Frage beantworten kann, hat damit gleichsam den Schlüssel zur Realität in der Hand – er kennt die Bausteine allen Seienden.

Damit ist der Rahmen für das ontologische – oder auch unser „modernes“ – Denken gesetzt. Als nächstes ist zu verstehen, warum Luhmann der Meinung ist, daß dieses Denken ausgedient hat – welche Problematiken diesem Denken innewohnen.

Problematiken des alteuropäischen oder ontologischen Denkens

Beginnen wir mit der Kritik am Identitätskonzept des alteuropäischen Denkens, die Gotthard Günther formulierte. Er stellt hierbei die Frage, wie wir uns – als Subjekte – einer objektiven Erkenntnis der Dinge versichern können. Dies ist insofern problematisch, als es kein „einheitliches“ Subjekt gibt, sondern nur eine Vielzahl von ontologischen „Ich-Zentren“, die in ihrem „Erkennen der Welt“ Beschreibungen liefern, die nicht zur Deckung gebracht werden können.

Es gibt zum Zweiten keine Regel (oder Naturgesetz), welche garantieren kann, daß diese unzähligen „Ich-Zentren“ (in ihren unterschiedlichen Erleben/ Perspektiven) eine objektive oder allgemeingültige Beschreibung der Realität überhaupt zustande bringen können. Damit ist für Gotthard Günther die Vision einer letztendlich Wahrheit, die allen Dingen innewohnt bzw. von einem „Supersubjekt“ entdeckt werden kann, eine Illusion.

Zudem ist auch die Einteilung der Welt in Subjekte und Objekte problematisch, da sich aus dieser Konstruktion einige – für das zweiwertige Denken – unlösbare Paradoxien ergeben.

Ein Beispiel: Einerseits soll man sich das Subjekt als von der Welt getrennt denken – denn erst diese Gegenüberstellung der Welt gewährleistet, daß das Subjekt – die ihm gegenüberliegende Welt – erkennen und beschreiben kann. Hieraus ergibt sich das Paradox, daß das Subjekt einerseits ein Teil der Welt ist und andererseits eben diese „von Außen“ betrachten soll.

In anderen Worten: Der Mensch und sein Erkennen muß einerseits von der übrigen Welt getrennt sein, das Subjekt (als Teil des Ganzen) muß andererseits zugleich innerhalb und außerhalb des Ganzen gedacht werden.

Adorno meint hierzu: „Das Ich muß sich seiner objektiven Möglichkeiten versichern, wenn es sich selbst erfassen will und doch erkennen, daß es im Objekt (hier Objekt als Konstrukt des Ichs) immer nur sich selbst wiederfindet.“

Kant: „Das Objekt ist ein Konstrukt des Subjekts, daß das Subjekt in eine Realität, die es jenseits seiner Erlebniswelt vermutet, hineinprojeziert.“

Nimmt man diese Einwände ernst, so beginnt der – vormals so sicher wirkende – Aufbau des alteuropäischen Denkens bereits schwer zu wanken.

Aber gehen wir weiter in der Kritik des ontologischen Denkens. Der nächste gewichtige Einwand wurde von dem Physiker Heisenberg – in seiner bekannten „Heisenbergschen Unschärferelation“ – formuliert. Die Ergebnisse seiner quantenmechanischen Forschungen untergraben gleich mehrere Fundamente des ontologischen Denkens. Er untersuchte hierbei, welche die Eigenschaften und Wirkungsweisen den kleinsten Teilchen zu eigen sind.

In einfachen Worten zusammengefaßt besagt die „Heisenbergsche Unschärferelation“:

„Die physikalischen Größen von Ort und Impuls eines Teilchens können nicht gleichzeitig gemessen werden. Wird der Ort gemessen, wird der Impuls unscharf – wird der Impuls gemessen, wird der Ort unbestimmbar. Ort und Impuls ist komplementär.“

Daraus folgt: Was man als Beobachter erkennt, hängt davon ab, wie und wo man hinsieht – es gibt damit also keine „objektive“ Beobachtungsmöglichkeit von Phänomenen.

Weiterhin sagt Heisenberg, daß die kleinsten Teilchen keine existierenden Dinge, sondern eher Möglichkeiten oder „eine Tendenz zum Sein“ sind. Wir stehen damit als „Subjekte“ keiner Welt mehr gegenüber, die man objektiv erkennen kann, sondern können letztlich nur sagen, daß das, was wir beobachten davon abhängt, wie wir beobachten.

Weiterhin gibt es nach diesen Erkenntnissen keine letztendliche Einheit in der Realität mehr – wie es sich noch die Atomisten (Atome sind die kleinsten Bauteilchen, aus denen die gesamte materielle Realität aufgebaut ist) vorgestellt haben. Im Bereich der Quanten haben wir keine Entitäten, sondern nur Wahrscheinlichkeiten, die sich – je nachdem wie wir sie beobachten – verändern.

Der letzte Kritikpunkt den ich hier anführen möchte kommt von Humberto Maturana und Valera – ihres Zeichens Biologen, die erstaunliche Ergebnisse zu diesem Thema (genauer zu der Funktion unseres Nervensystems) beigesteuert haben. Zunächst ging es in der Forschungsarbeit der beiden Biologen darum herauszufinden, wie das menschliche Nervensystem „äußere Reize“ verarbeitet. Dabei kamen Sie zu der Erkenntnis, daß das Nervensystem sich als ein in sich geschlossenes System beschreiben läßt, daß nur (selbstreferentiell) systeminterne Operationen wahrnimmt und verarbeitet.

Wie kann man sich das vorstellen? Hierzu ein Beispiel:

Stellen Sie sich vor, in einem U-Boot zu sitzen, welches völlig von der Außenwelt abgeschottet ist. Sie können nun verschiedene Apparaturen in dieses U-Boot installieren – z.B. ein Mikrofon – um festzustellen, wie es mit der Umwelt um sie herum bestellt ist. Wenn Sie nun mit dem Mikrofon bestimmte Töne hörbar machen, stellt dieses „Hören“ keinen „Austausch“ mit der Umwelt dar, sondern das Mikrofon (Verstärker, Boxen etc.) rechnet selbst konstruierte Impulse als Darstellungen eines unbekannten Außen um. Damit „hören“ Sie nicht was draußen wirklich ist, sondern nehmen nur die von ihnen produzierten und verarbeiteten Daten wahr und „projezieren“ diese quasi nach „Außen“.

Dies als Analogie, um zu veranschaulichen, was und wie ihr Nervensystem arbeitet. Die Konsequenzen dieser Erkenntnis sind für das alteuropäische Denken dramatisch.

Denn Maturana/ Valera haben das Nervensystem (und Gehirn) als operational geschlossenes System erkannt, welches mit der Umwelt nur durch eine strukturelle Kopplung verbunden ist, d.h. Reize aus der Umwelt bewirken lediglich eine Irritation des Systems – dadurch werden systemstruktureigene Operationen ausgelöst.
Erregungszustände einer Nervenzelle codieren nur Intensitäten – keine Qualitäten. Alle Zellen kennen nur Klick-Klicks als systeminterne Sprache. Das Gehirn errechnet daraus Bedeutung – erzeugt diese aber immer selbstreferentiell und selbstexplikativ.

Kognitive Prozesse erzeugen damit „kein Abbild“, sondern eine systeminterne Beschreibung einer Realität. Bei diesen Operationen gibt es keinen echten Endpunkt (außer im Falle des Todes), da solche Prozesse nie endende rekursive Schleifen durchlaufen. Somit hat kein Organismus als Organismus Zugang zu seiner Umwelt. Nur über die Beobachtung eigener interner Operationen und Zustände gewinnt ein Organismus die Vorstellung davon, was ihm als Realität erscheint.

Alles was traditionellerweise als „Erkennen“ gedacht wird, ist im Grunde nichts anderes, als ein Beobachten der eigenen Operationen. Alles was traditionellerweise als „Erkanntes“ gedacht wird, ist nichts anderes als eine selbstreferentielle Beschreibung der eignen Operationen – eine Konstruktion des Systems.

Erkennen können nur geschlossene Systeme. Daraus folgert Luhmann, daß uns „Realität“ nicht kognitiv zugänglich ist. Damit gewinnt die Kategorie der Selbstreferenz den Status der „Seinsbeschreibung“ schlechthin und die alteuropäische Vorstellung der Erkenntnismöglichkeiten eines Menschen sind endgültig widerlegt.

Luhmanns – Theorie

… oder die Grundlagen des neueuropäischen Denkens

So sehr diese Kritik an den Grundlagen unseres Seinsverständnis rüttelt, so nötig mag uns ein neuer Ansatz erscheinen, der das Denken und die Erkenntnisfähigkeit des Menschen wieder auf eine tragfestere Basis stellt. Beginnen wir mit der Grundkonstruktion, die Luhman von Maturana entliehen hat.

NervensystemMaturana beobachtete das Nervensystem unter der Leitdifferenz von System und Umwelt. Lebendige Systeme (Organismen) bezeichnete er als „autopoietische Systeme“, d.h. das System hat die Fähigkeit sich selbst zu erzeugen und zu erhalten. Weiterhin arbeiten autopoietische Systeme selbstrefferentiell, d.h. sie verarbeiten nur – und ausschließlich – systeminterne Operationen, mit Hilfe derer eine Umwelt projeziert wird. Die Umwelt dringt somit nicht über die Sinne in den Verstand, sondern wir konstruieren die Umwelt zuerst in „unserem Kopf“ und projezieren sie anschließend nach „Außen“.

Weiter sagt Maturana, daß lebendige System operational geschlossen und energetisch offen sind. Energetisch offen, da ein Energieaustausch zwischen dem System und Umwelt – z.B. über Nahrung und Wärme – etc. stattfinden kann.

Autopoietische Systeme sind hochspezialisiert und weisen eine „strukturelle Kopplung“ mit ihrer Umwelt auf. Strukturell gekoppelt meint, daß das System eine spezifische Beziehung zwischen sich selbst und der Umwelt herstellen kann – man denke an das Beispiel des Mikrofons in dem U-Boot. Strukturell gekoppelte Systeme sind aufeinander angewiesen, d.h. das autopoietische System – oder der lebende Organismus – ist nicht autark bezüglich seiner Umwelt – sondern operiert nur autonom. Die strukturelle Kopplung erlaubt es dem System sich von seiner Umwelt „irritieren“ zu lassen – was es aus dieser Irritation macht, wird jedoch systemintern entschieden.

Ein autopoietisches System muß sich in der Evolution bewähren, damit es sich weiter reproduzieren kann, was besagt, daß die strukturelle Kopplung des Systems mit seiner so gut funktionieren muß, das es Irritationen liefert, die das System für die Aufrechterhaltung seiner eigenen Operationen benötigt. Ist die strukturelle Kopplung oder Anpassungsfähigkeit des Systems an seine Umwelt zu speziell, wird es bei größeren Veränderungen der Umwelt sterben.

System UmweltJedes autopoietische System kann zwischen sich selbst und seiner Umwelt unterscheiden – Selbst- und Fremdreferenz. Dies trifft selbst auf eine Amöbe zu, die sich – z.B. bei der Nahrungsaufnahme – nicht selbst frißt, sondern „äußere“ Nahrungsquellen verarbeitet. Luhmann sagt daher zurecht, daß organische autopoietische Systeme „Einrichtungen des Körpers zur Selbstbeobachtung“ sind.

Doch damit nicht genung: Luhmann greift den Grundgedanken Maturanas – als Leitdifferenz der Beobachtung zwischen System und Umwelt zu unterscheiden – auf und sucht nach weiteren Systemen, die ebenfalls autopoietisch operieren. Die typische Frage des systemischen Denkens ist die „Wie-geschieht-X?-Frage“.

Hierbei entdeckt er zwei weitere Systeme, die nach demselben Prinzip funktionieren, wie der Organismus – das psychische System und soziale System (Gesellschaft).

Was können wir uns unter dem Etikett „Psychische Systeme“ vorstellen? Grob gesagt ist ein psychisches System unsere „Innenwelt“ – also unsere Gedanken und Vorstellungen. Es ist insofern ebenso ein autopoietisches System, da es seine Operationen selbst erzeugt und erhält. Es ist ebenso operativ geschlossen, da eigene Gedanken nur weitere eigene Gedanken prozessieren können bzw. es keine „Schnittstelle“ (Gedanken oder Informationsübertragung) zwischen dem System und seiner Umwelt gibt.

Auf die Frage, wie Systeme ihre Operationen anschlußfähig gestalten gibt Luhman zwei Anregungen. Zum Einen nennt er die Elemente der Operationen eines autopoietischen Systems „Beobachtungen“, zum Anderen werden diese Beobachtungen über eine interne Sinnkonstruktion miteinander verbunden. Was ist damit gesagt?

Unter „Sinn“ versteht Luhmann die Differenz zwischen Aktualtität und Possibilität – also den Unterschied zwischen dem aktualen Erleben und den daraus resultierenden Möglichkeiten. Unter Beobachten versteht Luhmann eine Operation des Unterscheidens und Bezeichnens.

Das zweite autopoietische System, welches Luhmann hinzufügt, nennt er das soziale System oder Gesellschaft. Im Gegensatz zum psychsischen System operiert das soziale System nicht mit Gedanken sondern mit Kommunikation. Oder anders – ein soziales System entsteht durch Kommunikation und zerfällt, sobald diese ausgesetzt wird. Luhmann unterscheidet hier:

  • Interaktionsssysteme – Kommen immer dann zustande, wenn Anwesende zusammen treffen und kommunizieren. (Beispiel: Eine zufällige Begegnung mit einem Bekannten in der Stadt.)
  • Organisationssysteme – Soziale System, die so organisiert sind, daß eine „Mitgliedschaft“ an bestimmte Bedingungen geknüpft ist. (Familie, Verein, Arbeitsplatz)
  • Gesellschaftsysteme – Quasi das „Oberste Soziale System, welches alle Interaktions- und Organisationssysteme umfaßt.

Auch das soziale System agiert selbstrefferentiell, da hier nur systemeigene Operationen – in diesem Fall Kommunikation – berücksichtigt werden. Es ist ebenso operativ geschlossen, da Kommunikation nur Kommunikation erzeugen und erhalten kann. Psychische Systeme sind in diesem Fall für das soziale System nur „Umwelt“, denn für die Kommunikation spielt es keine Rolle, was ein einzelnes psychisches System denkt.

Kommunikation bezeichnet Luhmann als die dreifache Selektion von Information, Mitteilung und Verstehen, die zu einer Einheit verknüpft werden, an die eine weitere Kommunikation anschließen kann. Der einzelne Kommunikationsakt ist mit dem Verstehen/Nicht-Verstehen abgeschlossen. Kommunikationsangebote können angenommen und abgelehnt werden. Durch die Möglichkeit des Annehmens/ Ablehnens ergibt sich zugleich die Möglichkeit, daß die Kommunikation anschlußfähig bleibt.

Die Unterscheidung zwischen Information und Mitteilung ist die Bedingung der Möglichkeit, daß nicht nur Laute ausgetauscht, sondern kommunikative Äußerungen als solche wahrgenommen werden. Beobachtet ein möglicher Teilnehmer einer Kommunikation diese für sich nicht als Angebot von Information, Mitteilung und Verstehen, bleibt die Kommunikation wirkungslos.

Soziales SystemKommunikation ist ein selbstreferentieller Prozeß – die Kommunikation kontrolliert Verstehensmöglichkeiten und Verstehenskontrollen und generiert die dafür nötigen Elemente aus sich selbst heraus. Dafür sind psychische Systeme als Umwelten notwendig, damit ein soziales System entstehen kann.

Psychische Systeme und soziale Systeme sind insofern verschieden, weil sie mit unterschiedlichen Elementen operieren – psychische Systeme operieren mit Gedanken und soziale Systeme mit Kommunikation. Ihre Getrenntheit beruht auf dem Umstand, daß sie als rekursive Netzwerke unterschiedliche Operationen ausführen, über die sie sich identifizieren bzw. reproduzieren – wobei sich ihre Operationen nicht überlappen.

Wie man aus dem bisher gesagten unschwer erkennen kann, benötigt Luhmann für seine Systemtheorie weder ein Subjekt noch Objekte, sondern konstruiert seine Theorie ausschließlich mit der System/ Umwelt-Differenz. Das formgebende Element der Systemtheorie ist somit die Operation der Unterscheidung. Sehen wir uns nun näher an, was Luhmann unter einer Unterscheidung versteht.

Eine Unterscheidung bildet eine Form im Formlosen, die sich dadurch kennzeichnet, daß sie eine „Innenseite“ und eine (unsichtbare) „Außenseite“ erzeugt. Sobald diese Form bezeichnet wird, wird sie zu dem, was Luhmann „Beobachtung“ nennt. Als Operation kann man beim Beobachten nicht bewußt zwischen Unterscheiden und Bezeichnen trennen, da in der Beobachtung quasi beides gleichzeitig zusammenkommt. Aber durch die Beobachtung unserer Beobachtung – also Beobachtung zweiter Ordnung (man könnte es vielleicht auch Selbstreflektion nennen) können wir die Konstituenten der Beobachtung erkennen.

Um also zu einem neuen Denken oder Weltverständnis zu gelangen, gehen wir im weiteren nicht mehr von einer Einheit – als Konstruktionsprinzip von Welt – sondern von Differenzen aus. Luhmann formulierte es folgendermaßen …:

„Entscheide, mit welcher grundlegenden Differenz du beginnen willst. Ist ein derartiger Anfang gesetzt, gilt es weiterhin zu beachten, daß die Anfangsunterscheidung „wiedereintrittsfähig“ gebildet wird – also intern weiter bearbeitbar bleibt.“ (Luhmann)

DifferenzEine Differenz hat mindestens zwei Seiten, um für uns sichtbar zu werden (bzw. um überhaupt zwischen Etwas und etwas Anderen einen Unterschied zu bilden), wobei wir immer nur eine Seite des Unterschieds wahrnehmen. Durch das Bezeichnen einer Seite des Unterschieds erzeugen wir eine Beobachtung – z.B. ein System. In anderen Worten – wenn wir zwischen System und Umwelt unterscheiden, müssen wir eine der beiden Seiten des Unterschieds wählen – sprich wir können nicht beides gleichzeitig beobachten. Haben wir eine Seite dieser Differenz gewählt, so wird die andere Seite für uns „unsichtbar“.

Das Beobachten gewährleistet die Anschlußfähigkeit der systeminternen Operationen. Damit wird in den Prozess eine „Gestalt“ eingeführt. Operativ handhabbar wird eine Unterscheidung dadurch, daß eine Seite naturgemäß ausgezeichnet ist. Durch die Identifikation mit einer Seite der Unterscheidung kann sie an weitere Operationen angeschlossen werden. In anderen Worten – die Beobachtung, d.h. den operativen Vollzug einer Unterscheidung durch Bezeichnung, macht Anschlußfähigkeit überhaupt erst möglich.

Beobachtung muß somit als eine Operation verstanden werden, die Identitäten generiert. Das Beobachten ist ein Autopoietischer Vorgang – Beobachtung werden aneinander angeschlossen – sonst wäre die Operation des Beobachtens wirkungslos. Somit ist der Beobachter immer ein System! Sowohl psychische Systeme also auch soziale Systeme sind „sinnproduzierende Systeme.“

Die Systemgrenzen werden von deren Sinnkonstruktion – als Anschlußmöglichkeiten – begründet. Sinn reduziert damit einerseits die Komplexität und erhält sie andererseits. Sinnhaftes operieren ist immer eine Selektion, die verhindert, daß systeminterne Möglichkeiten vernichtet werden.

Sinn artikuliert sich in einer grundlegenden Differenzerfahrung – die Differenz von Aktualem und – aufgrund dieser einschränkenden Voraussetzung – künftig Möglichem. Sinn erlebt sich immer im Verweisungshorizont von anderen Möglichkeiten. Sinn zwingt sich somit selbst zum Wechsel, d.h. der Aktualitätskern bedarf aufgrund der Verweisungsstruktur immer anderen und neuen Möglichkeiten, um weiter sein zu können. Sinn bedarf des Prozesses, da der Aktualitätskern ständig zerfällt. Sinn erzeugt Information. Sinn ist das Medium um Formen hervorzubringen und kann ebenfalls subjektfrei konzipiert werden.

Beobachtung zweiter Ordnung bezeichnet bei Luhmann das „Beobachten des Beobachtens.“ In diesem Fall beobachtet der Beobachter mit einer zweiten Operation – die zeitlich versetzt ist – die zurückliegende Beobachteroperation. Aber auch die Beobachtung zweiter Ordnung kann sich nicht selbst beobachten. Man könnte sagen, daß die Beobachtung zweiter Ordnung in Bezug auf ihre eigene Unterscheidung somit eine Beobachtung erster Ordnung ist. Diese ermöglicht reflexive Einsichten für die eigene Beobachtung. Diese Form der „Erkenntnis“ hat einen Als-Ob-Charakter.

Dieser Beobachtungsbegriff beinhaltet einige nennenswerte Implikationen.

  1. Nicht nur sinnverarbeitende Systeme können beobachten, sondern auch autopoietische Systeme – z.B. kann ein Thermostat die Temperaturabweichungen unterscheiden und die Temperaturabweichung bezeichnen.
  2. Die Beobachtung ist eine systeminterne Operation. Beobachtung ist somit immer eine Konstruktion eines Systems – genauer – eine operativ hergestellte Konstruktion eines Systems. Die Beobachtung kann nur sehen, was sie mit Hilfe der Unterscheidung sehen kann, sie kann nicht sehen, was sie mit dieser Unterscheidung nicht sehen kann. Folglich gibt es jeweils mehr als eine Entscheidungsmöglichkeit, mit der man etwas beobachten kann.
  3. Keine Beobachtung kann im Moment des Beobachtens, sich selbst beobachten. Jede Beobachtung nutzt folglich die eigene Unterscheidung als ihren blinden Fleck.
  4. Auch die Beobachtung zweiter Ordnung ist an die eigenen Unterscheidungen gebunden und produziert somit ihre eigenen blinden Flecke. Aber – ein Beobachter zweiter Ordnung kann zumindest sehen, daß er nicht sehen kann, was er nicht sieht.
  5. Die Beobachtung zweiter Ordnung führt zu einem radikal gewandelten Welt-, Seins- und Realitätsverständnis. Damit entfällt die „wahre“ Sicht der Dinge. Aus der Sicht eines Beobachters erster Ordnung scheint die Sichtweise eines Beobachters zweiter Ordnung vollkommen beliebig. Beliebig ist sie jedoch schon deshalb nicht, da sich jede Gesellschaft fragen muß, ob sie Beobachterperspektiven zweiter Ordnung überhaupt zuläßt.
  6. Innerhalb eines sozialen Systems kommt der Begriff der Paradoxie ein wichtiger Stellenwert hinzu. Paradoxe Aussagen oszillieren zwischen zwei Werten, ohne daß eine eindeutige Aussage gefunden werden kann. Jede Beobachtung – die Vollständigkeit beansprucht, verstrickt sich, sobald sie sich selbstrefferentiell miteinbezieht, in eine Paradoxie. Normalerweise wird diese Paradoxie einfach ausgeblendet.

Das Paradox der Beobachtung

Als letzten Beitrag will ich hier noch einige Grundüberlegungen Luhmanns zu dem Paradox des Beobachtens anfügen, welches durch das Beobachten selbst erzeugt wird.

Das Beobachten produziert eine Unterscheidung, indem es eine Unterscheidung anwendet. Dabei kann die Beobachtung nur eine Seite der Unterscheidung in den Blick bringen. Sie aktualisiert in einem Zuge eine Zweiheit als Einheit. Würde die Beobachtung beide Seiten benutzen wollen, würde sie damit gleichsam die Unterscheidung selbst und damit die Beobachtung annullieren – quasi zwischen zwei unvereinbaren Werten oszillieren.

Durch die gezielte Vernetzung von Beobachtungen wird Selbstbeobachtung möglich – und damit die Möglichkeit der Systembildung – was die Zeitlichkeit des Geschehens strukturiert.

Damit ein Beobachter beide Seiten einer Unterscheidung sehen kann, muß er zum Wechseln der Grenzen Zeit verbrauchen. Er entfaltet die Paradoxie in ein Vorher/Nachher und eben diese Fähigkeit macht ihn zum Beobachter.

Beobachten ist immer doppeltdifferenziell, indem es eine Unterscheidung benutzt und sich im Operationsmoment selbst von dieser Unterscheidung unterscheidet. Doppeltdifferenziell in dem Sinne: Eine Beobachtung führt eine Differenz in die Welt ein (erste Operation). Gleichzeitig entscheidet sie sich für eine Seite der Differenz (zweite Operation), den sie als Beobachtetes bezeichnet und damit fixiert. Es handelt sich bei diesen beiden Operationen um eine Operation (Einheit der Zweiheit).
Diese Paradoxie wohnt in der Beobachtung selbst inne und kann nicht vermieden werden. Daher geht Luhmann davon aus, daß wir dieses Paradox als „Letztformel“ bzw. als unhintergehbare Voraussetzung akzeptieren müssen.

Wenn die Paradoxie nicht entparadoxiert wird, dann ist ein Beobachter unfähig seine Operationen fortzusetzen. Wenn etwas sich zugleich auch als sein Gegenteil darstellt, kann nicht weiter angeschlossen werden – ewige Verdammnis ewigen Oszillierens – bzw. letzlich Auflösung des Systems. Damit also keine Blockaden entstehen, müssen Paradoxien unsichtbar gemacht werden.

Was bedeutet eigentlich das Entparadoxieren?

Es bedeutet zunächst nicht, dasjenige, welches invisibilisiert wird – die Paradoxe Ausgangssituation – zu eliminieren. Es wird keine logische Weltbereinigung dabei erzielt, sondern der Aufbau kognitiver Komplexität, Möglichkeiten der Anschlußfähigkeit zu aktualisieren und damit erst die Möglichkeit, dass Systeme überhaupt entstehen können.

Welche Möglichkeiten stehen zur Verfügung?

  1. Die Konstruktion von Zeit, d.h. das Konstruieren eines Nacheinander ist solch eine Möglichkeit. Indem sich für eine Seite entschieden wird und die andere (für ein nachher) offen gehalten wird, kann an die fixierte Seite angeschlossen werden und damit die „Gleichzeitigkeit allen Operierens“ unsichtbar gemacht. Das „alles-auf-einmal“ wird in ein: „zuerst-dies-dann-das“ überführt und damit entparadoxiert. Diese Konstruktion von Zeit in ein Vorher-Nachher-Verhältnis dürfte der Grund sein, warum wir damit gleichermaßen das Schema von Ursache-Wirkung konstruieren.
  2. Eine zweite Möglichkeit zu Entparadoxieren, welche auch mit der Konstruktion Zeit zusammenhängt ist die Objektkonstruktion. Der Beobachter erster Ordnung konzentriert sich auf das Bezeichnen und kreiert das, was als seiend erfahren werden kann (fraglos).

    BeobachterDer Beobachter zweiter Ordnung sieht, wie Objekte entstehen und er sieht weiter, daß Objekte nicht fraglos gegeben sind, sondern zum einen konstruiert, zum anderen eine Strategie des Beobachters darstellen, mit Hilfe deren er Stabilität und Dauer in den Alltag hineinbekommt, eine sog. Überwindung der Flüchtigkeit von Operationen. Ohne Zeit- und Objektkonstruktion, wäre eine Strukturbildung (und Hierarchisierung) und damit Beeinflussung nicht möglich, sondern nur Strukturlosigkeit und Unbeeinflußbarkeit (wegen der Gleichzeitigkeit aller Operationen).

    Durch diese beiden Strategien ist Kreativität und Einflußnahme auf unser Leben erst möglich. Und genau dies leistet die Beobachtung.
    Beide Strategien gehören zusammen, denn wenn eine der beiden Seiten einer Unterscheidung bezeichnet wird, dann wird ein Etwas konstituiert, womit das Operieren sowohl zeitlich, als auch sachlich hierarchisiert wird und damit entparadoxiert: erst dies, dann das; erst dies, dann das.

  3. Es gibt eine dritte Art der Entparadoxierung jenes Grundmechanismus (also Beobachtung), über den die Welt aufgebaut wird : das Soziale.

    KommunikationKonstitutiv für das Soziale ist, dass wir die Welt mit Anderen teilen (alteuropäisch ausgedrückt), d.h. dass wir mit anderen Alter Egos die Welt teilen.
    Die Unmöglichkeit, daß sich Bewußtseinssysteme direkt irritieren können ist ausgeschlossen, deshalb kristallisiert sich ein eigener Bereich heraus: Kommunikation.
    Damit wird die Situation: sich-nicht-verstehen-können, aber sich-verstehen-müssen, entschärft. Das kommunikative Beobachten ist ebenfalls paradox konstituiert und wird entsprechend durch die Unterscheidung: Mitteilung und Information entparadoxiert. Nur dadurch entstanden wiederum Identitäten, alteuropäisch formuliert: Alter Ego und Subjekt. Nur wenn Ego versteht, daß eine Mitteilung an ihn gerichtet wird, kann er konstruieren, daß da jemand anderer ist, der Mitteilende. Durch die Unterstellung eines Alter Egos, kann Verständigung konstruiert werden.

Es gibt eine Bewährung der Kognition selbst. Es muß immer schon ein Handeln oder ein Gedachtes gegeben haben, bevor nach-gedacht werden kann. Der Operation ist nicht zu entgehen. Erst im nachhinein können wir sehen, was die Operation in der Welt bewirkt.

Die Theorie und alles Geschehen findet innerhalb von Gesellschaft statt. Luhmann will an die Wurzel – die Leitdifferenz selbst bearbeiten. System/Umwelt ist eine logisch reflexiv gebaute Unterscheidung, die einen Wiedereintritt erlaubt. Über den Wiedereintritt in das Systemgeschehen, wird die Beobachtung reflektierbar – womit auch das Paradox der Unterscheidung bearbeitbar wird.

Es wird am Ende dieses Reflektionsprozesses keine Einheit geben, sondern immer mehr verschiedene Differenzen. Unsere neue Welt, wird eine Welt der Unterschiede sein, die aus sich heraus immer mehr Unterschiede produziert und damit immer komplexer wird. Der neue Mensch wird ein komplexerer und ständig lernender Mensch werden müssen, damit er die Komplexität seiner Umwelt erfolgreich verarbeiten kann. Zudem wird der neue Mensch lernen müssen, sich selbst zu gestalten bzw. seinem Leben einen eigenen Sinn zu geben – einen eigenen Wahren Willen zu entdecken und zu leben. Er wird bereit sein müssen das Erbe der Götter anzutreten, denn mit dem Ende des ontologischen Denkens sterben auch die alten Götter.

Tony Kühn