Aikido als Weg zur Konfliktlösung

Aikido ist ähnlich wie Judo, Karate oder Kendo, eine aus Japan stammende „Kampf“-Kunst. Der Japaner Morihei Uyeshiba (1883 – 1969) begann etwa 1925 nach dem Studium der klassischen Kriegstechniken der Samuraikämpfer aus dem Mittelalter mit der Begründung seiner eigenen Kampftechnik, die er ab 1940 als Aikido bezeichnete und deren weiterer Entwicklung er sich bis zu seinem Tode widmete.

Mit der Gründung des Aikidos verankerte Uyeshiba neue und für die damalige Zeit revolutionäre, geistige Aspekte in die traditionellen Kriegstechniken des Schwertkampfes. Ethisch-moralische Grundgedanken flossen in seine Technik ein. So war er bestrebt, die menschenzerstörenden Ausführungen aus seiner Technik zu nehmen.

Im Aikido wird die aggressive Kraft des Angreifers so geführt und umgelenkt, daß sie für die Technik des Verteidigers nutzbar gemacht und verstärkt dem Angreifer wieder zurückgegeben werden kann. Die Bewegungen des Aikido sind dynamisch ausgeführte Kreis- und Spiralbewegungen. Durch geschicktes Ausweichen und frühzeitiges Führen des Angreifers verliert dieser sein Gleichgewicht und kann seine Körperkräfte nicht mehr gegen den Verteidiger einsetzen, weil der instabile Körper dem aggressiven Geist nicht mehr gehorcht.

Im Aikido gelten folgende Grundsätze:

  • Ein Aikidoka greift niemals an
  • Die Aikidotechnik richtet sich gegen den Angriff und nicht gegen den Angreifer

Das Ziel des Aikido besteht nicht darin, den Angreifer zu verletzen oder gar zu vernichten, sondern den Gegner so zu führen, daß er die Wirkung des von ihm vorgetragenen Angriffs selbst spürt und seine aggressiven Absichten aufgibt. Im Idealfall versteht es der Aikidoka, dem Angreifer schon vor dem beabsichtigten Angriff durch eine entsprechende Ausstrahlung die Sinnlosigkeit seines Tuns zu vermitteln.

Im Aikido wird jede Form des Kampfes oder Wettbewerbes als Mittel der Konfliktlösung und Leistungsbewertung kategorisch abgelehnt. Aus diesem Grunde gibt es im sportlichen Betreiben des Aikido keine Wettkämpfe( was für die meisten Sportarten undenkbar wäre). Diese Maxime basiert auf der Erkenntnis des Begründers, daß der stärkste „Gegner“ in uns selbst ist und daß Kampf und Sieg im Außen niemals zu langfristiger Konfliktlösung oder Weiterentwicklung führt, sondern eine Eskalation der Gewalt nach sich zieht (die Menschheitsgeschichte sollte Beweis genug sein).

Der „Gegner“ in uns kann nur durch Disziplin sowie harter Arbeit an uns selbst und nicht durch Verdrängung oder Projektion nach Außen transformiert werden. Ein Aikidoka definiert seinen Erfolg nicht über die Niederlage des Gegenübers. Ziel seiner ausdauernden Bemühungen ist es, über das „kleine Ich“ hinauszuwachsen, anstatt „aüßere Feinde“ zu bezwingen.

Der Begründer Morihei Uyeshiba hat seine persönlichen Erfahrungen und Fähigkeiten eingesetzt, um die Erkenntnis vom universell wirkenden Geist der allumfassenden Liebe anderen Mensch näherzubringen. Im zeitgenössisch übertragenen Sinne hat er die spätere Forderung der Friedensbewegung: „Schwerter zu Pflugscharen“ bereits realisiert.

Die Silbe „AI“ steht für Harmonie und bezieht sich auf die Erkenntnis in allen Situationen die harmonische Verbindung mit aller Natur und ihren Gesetzen anzustreben. „KI“ im Sinne des Aikido verdeutlicht die Wichtigkeit, alle Lebensprozesse körperlicher-seelischer-geistiger Natur mit der universellen Lebenserergie des Kosmos zu verbinden und „DO“ bedeutet übersetzt: Weg dorthin.

Die Philosophie des Aikido ist Ausdruck einer humanen und von der Verantwortung für den Nächsten getragenen Einstellung zum Leben. Es fördert die Entwicklung des Einzelnen und die friedliche Koexistenz aller Menschen, sowie eine tiefe Achtung vor der gesamten Schöpfung.

Neben den sportlichen Aspekten ist es in erster Linie der Anspruch des Aikido, ein Modell zu sein für die humane und sinnvolle Bewältigung zwischenmenschlicher Konflikte. Durch die Anwendungen der Prinzipien des Aikido soll gerade für das Leben außerhalb der Übungshalle die Möglichkeit erkannt werden, Konflikte friedvoll zu bewältigen. Es kommt darauf an, eine Lösung zu finden, die die Bedürfnisse aller Beteiligter berücksichtigt, um im besten Falle die widerstreitenden Interessen als gemeinsames Problem definieren zu können. Der „Angreifer“ ist nicht von vornherein bösartig, sein „Angriff“ nicht von vornherein verwerflich. Im Gegensatz dazu löst die Auffassung, nach der es nur eine Lösung (die eigene) des Konfliktes gibt rivalisierendes Verhalten aus. Die Anwendung der Aikidoprinzipien schafft ein Klima, in dem Konflikte vorkommen dürfen, aber auch kreativ und produktiv gelöst werden können, indem die Beteiligten die vergiftenden Wirkungen von Sieg/Niederlage und Machtkampfhaltungen vermeiden.

Die Anerkennung der Rechtmäßigkeit der Interessen des anderen bedeutet konkret, den Standpunkt des anderen nicht von vornherein als unsinnig oder unhaltbar zu begreifen. Nur dann besteht die Chance, dem Streit den Charakter von Sieg/Niederlage zu nehmen, bei dem der eine nur auf Kosten des anderen gewinnen kann.

Das Sich-Einlassen auf die Energie des Partners führt zu der Möglichkeit die eigene Position in Frage zu stellen, um dann das Anliegen des Gegenüber ernsthaft zu würdigen. Die Rollen der Beteiligten verlieren ihre Wertigkeit als „gut“ oder „böse“. Anstatt des erwarteten Gegenangriffs wird zur Verblüffung des „Angreifers“ seine Energie akzeptiert und für die Lösung verwendet. Die Bewältigung der unterschiedlichen Standpunkte bekommt eine Chance.

In dem Maße, in dem der „Verteidiger“ bereit ist, auch seine Position in Frage zu stellen, ist es dem Angreifer möglich,ebenso zu handeln. Er kann die Signale aufnehmen und die angebotene goldenen Brücke zu einer gemeinsamen Lösung des Problems betreten.

Dieses Verfahren mag auf den ersten Blick als riskant erscheinen. Es gehört Mut dazu, sich selbst und dem Gegenüber einzugestehen, daß die eigene Position eventuell verbesserungsbedürftig ist, und daß man bereit ist, dem Gegenüber eine Möglichkeit einzuräumen, an dieser vielleicht notwendigen Verbesserung mitzuwirken. Im gemeinsamen Suchen jedoch besteht die Chance eine Lösung zu erreichen, die beide Beteiligten als „vernünftig“ erleben können. Auch der scheinbar Unterlegene profitiert, da er sich sicher sein kann, daß sein Anliegen gewürdigt wird. So kann Einsicht wachsen. Wichtig ist was wirkt (sich durchsetzt), nicht wer wirkt. So gefundene Lösungen erweisen sich als robust und tragfähig. Auch zukünftige Konflikte werden dann eher als Chance denn als Krise erlebt. Es gibt keine Gewinner oder Verlierer, sondern nur Menschen, die bei ihrer Begegnung voneinander gelernt haben.

Im Aufeinandertreffen unterschiedlicher Weltmodelle liegt das Risiko eventueller Blessuren, aber auch die Chance, die Grenzen der eigenen Weltsicht zu überwinden und zu neuer Einsicht zu gelangen. Im Aikido ist dies körperlich erlebbar.

Bernhard Tille