Ethische Reflektion: Eigentliches und verfallenes Dasein

Im folgenden Text werden die Begriffe der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit nach M. Heidegger untersucht. Eine Überlegung ist dabei, inwiefern diese Begriffe sich in einem ethischen Sinne verwenden lassen. Anschließend wird noch kurz auf die beiden von Heidegger beschriebenen Formen der Fürsorge eingegangen. Als Grundlage dienen hier die Texte Sein und Zeit von M. Heidegger, ein Artikel von A. Luckner sowie ein kurzer Text von M.D. Eschner.

In „Sein und Zeit“ beschreibt Heidegger als grundlegende Seinsmöglichkeiten des Daseins die Existenzformen der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit. Heidegger spricht in Sein und Zeit nicht von Personen, sondern vom Dasein. In diesem Text werde ich in Anlehnung an Luckner vornehmlich von Personen sprechen. Dies scheint mir im Hinblick auf das Thema Ethik angebracht.

„Das Gute aber, was immer es auch sei, wird durch Personen realisiert, durch ihre Haltungen und Handlungen.“ (Luckner)

In Sein und Zeit beschreibt Heidegger die Eigentlichkeit folgendermaßen:

„Eigentlich ist das Dasein, wenn es im Besitz seiner selbst, einzeln, ist. Eigentlichkeit ist also eine Weise des sich mit den eigenen Möglichkeiten Verhaltens.“ (§ 9, S. 42-43).

Von der Eigentlichkeit einer Person (ich verwende diesen Begriff in Anlehnung an Luckner) kann immer dann gesprochen werden, wenn sie „sich zueigen“ ist, von sich aus (selbstbestimmt) ihre faktischen Möglichkeiten des Handelns ergreift.

Es muss sich also als ein einzelnes wahrnehmen, als ein einzelnes, dem es gegeben ist sich nach den jeweils eigenen Möglichkeiten zu verhalten. Es ist damit nicht gemeint, dass die Eigentlichkeit irgendwo schon als ein vorgezeichneter Entwurf existiert und von der einzelnen Person nur noch ergriffen werden kann, sondern eine Weise des Existierens. Eine Person existiert demnach eigentlich, wenn ihr Leben einen „Sinn“ hat, eine Richtung aufweist und dies aus einer Selbstbestimmung heraus. Wichtig ist hierbei also nicht auf welche Weise jemand etwas tut, sondern vielmehr wie. Man kann also ein und dieselbe Handlung an zwei Menschen beobachten, und während der eine sie unreflektiert aus Gewohnheit erledigt, stellt sie für den anderen das selbstbestimmte Ergreifen einer faktischen Handlungsmöglichkeit dar.

Von der Uneigentlichkeit kann dort gesprochen werden, wo sich eine Person sich in ihrem Handeln unhinterfragt auf das verlässt, was gemäß Regeln und Gebräuchen üblich, geboten oder verboten ist. Dabei handelt es sich um den Normalzustand alltäglichen Daseins.

„Die Uneigentlichkeit des Daseins ist das Verfallen. Dies besagt keineswegs, das uneigentliche Dasein gehe seines Seins verlustig. Das uneigentliche Dasein ist die positive Möglichkeit des Nicht-es-selbst-seins.“ (§ 38, S. 176).
„Dasein kann uneigentlich sein: Es kann sich zu seinen Möglichkeiten unwillentlich verhalten. Dabei bleibt das eigentliche Worumwillen unergriffen.“ (§ 41, S. 193)

Ein Kernpunkt scheint hier zu sein, dass sich das Dasein in der Uneigentlichkeit seine (Handlungs-) Möglichkeiten willkürlich und „unbewusst“ wählt. Es nimmt sich nicht als einzelnes wahr, gibt ev. äußere Zwänge als Ursachen für seine Handlungen an. Eine uneigentliche Person hat in ihrem Leben keine Richtung, handelt aus dem Augenblick heraus willkürlich und eben so, wie „man“ normalerweise handelt, statt die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu reflektieren und die ihm eigenen Möglichkeiten zu ergreifen.

Das, was gemäß üblichen Regeln und Gebräuchen unhinterfragt üblich oder geboten ist, bezeichnet Heidegger als das „Man“.

„In der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, in der Verwendung des Nachrichtenwesens (Zeitung) ist jeder Andere wie der Andere. Dieses Miteinandersein löst das eigene Dasein völlig in die Seinsart »der Anderen« auf, so zwar, daß die Anderen in ihrer Unterschiedlichkeit und Ausdrücklichkeit noch mehr verschwinden. In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur.

Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom »großen Haufen« zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden »empörend«, was man empörend findet. Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor.“ (§ 27, S. 126-127)

„Das Man legt sich selbst abstrakt, nicht als einzeln sondern als einen (abstrakt ausgelegten) Anderen aus.“ (§ 27, 126)

Ein Beispiel für den ersten Teil des obigen Zitates mag die öffentliche Welt sein, wie sie dem westlichen Menschen in der Werbung und den Medien vorgegaukelt wird. Man ist immer fröhlich, jung und dynamisch, verhält sich nach Möglichkeit wie die Lieblingshelden im Fernsehen, kleidet sich stets der aktuellen Mode entsprechend, etc. – aber nat. erst dann, wenn sie bereits Einzug in die Alltäglichkeit gehalten hat.

Die eigene Meinung orientiert sich am „mainstream“ und das, was einem in den Medien vorgegaukelt wird, wird als bare Münze genommen.
Ein weiterreichendes Beispiel ist ein Lebensentwurf, der sich unhinterfragt an den gesellschaftlichen Gepflogenheiten orientiert. Nach der Schule wird ein Beruf erlernt, wenig später eventuell geheiratet, das Haus gebaut etc.. Die Person legt sich in diesem Falle abstrakt aus, ist sich dabei nicht der eigenen Möglichkeiten bewusst, sondern tut in den jeweiligen Lebensabschnitten das, was eine beliebige Person in dem gegebenen Alter etc. tun würde.

Hier will ich kurz den Focus auf den leicht wertenden Unterton legen, der in obiger Berscheibung durchklingen mag. Kann man denn demnach sagen, dass es abzuwerten ist, wenn man sich die Idee für ein neues Kleidungsstück in einer Fernsehsendung abguckt? Wenn man sich der Mode entsprechend verhält und kleidet? – Im Grunde lässt sich das auf dieser Ebene keine Wertung vornehmen. Dennoch ist an dieser Stelle nochmals anzumerken, dass sich an der Handlung einer Person in den seltensten Fällen erkennen lässt, ob sie sich uneigentlich oder eigentlich verhält. Die Unterscheidung bezieht sich eben nach Heidegger auf Existensformen, nicht auf konkrete Handlungen. Letztere zu bewerten liegt im Aufgabenbereich der Ethik. (hierzu s.u.)

Aber zurück zum Man. Das Man ist auch ein Existenzial, d.h. Dasein ist ohne das Man nicht möglich. Das kann man daran veranschaulichen, dass Personen immer im Zusammenhang mit anderen existieren. Wie sich Menschen entwickeln, die ohne menschlichen sozialen Kontext aufwachsen, wurde am Beispiel von Wolfskindern beobachtet. Jedes normale Kind wird in eine Gesellschaft hineinsozialisiert und lernt von den Eltern, wie es sich dort zu verhalten hat, welche Sitten und Gebräuche gelten. Auch erfordert der Schritt in die Eigentlichkeit ein gewisses Reflexionsvermögen, welches im Laufe der Sozialisation erlernt wird. Insofern ist es nachvollziehbar, dass die Uneigentlichkeit zum Dasein gehört.

Diese sind auch für das Miteinander von Personen notwendig, denn die erlernten Verhaltensweisen bilden ja den Ausgangspunkt und die Basis für die Eigentlichkeit für das selbstbestimmte Handeln. Daran schließt sich auch die Überlegung an, ob die Freiheit oder Eigentlichkeit eben nur in einem Rahmen gegeben ist, den die vorab geschaffene Basis ermöglicht.

Die Eingentlichkeit ist kein bloßer Gegensatz zu Uneigentlichkeit und damit Option einer Alternative. Bezüglich der Uneigentlichkeit sollte es einleuchten, dass sie niemals eine (bewusst) Gewählte sein kann. Denn uneigentlich existieren bedeutet: sich nicht entschließen können zu irgendetwas. Entschließen heißt nicht, dass man willkürlich und unreflektiert irgendeine gegebene Möglichkeit ergreift.

Die Heidegger charakterisiert den Begriff der Entschlossenheit wie folgt:

„In der Entschlossenheit geht es dem Dasein um sein eigenstes Seinkönnen, das als geworfenes nur auf bestimmte faktische Möglichkeiten sich entwerfen kann. Der Entschluss entzieht sich nicht der Wirklichkeit, sondern entdeckt erst das faktisch Mögliche, so zwar, dass er es dergestalt, wie es als eigenstes Seinkönnen im Man möglich ist, ergreift“ (299).

Das bedeutet: Weil wir als Personen angewiesen sind auf die Institutionen, die uns miteinander koordinieren, besteht die Eigentlichkeit unserer Existenz nicht darin, aus dieser Welt auszusteigen, sondern sie uns auf eine bestimmte Weise, nämlich als unseren Lebensraum anzueignen.

Die Entscheidung zur Eigentlichkeit ist keine Wahl in dem Sinne, dass sie zwischen verschiedenen Alternativen besteht. Es ist damit nicht gemeint, dass man aufgrund von Einschränkungen (Unfreiheit) „keine andere Wahl“ treffen kann, sondern aufgrund der Freiheit selbst zu sein nicht anders handeln zu können (und zu wollen!).

An dieser Stelle kann man Heidegger (im Sinne von M.D.Eschner) so verstehen, dass Eigentlichkeit demnach bedeutet, dass eine Person irgendwann im Leben eine Art „Grundentscheidung“ zu treffen, in der sie sich selbstbestimmt für eine Richtung in ihrem Leben entschließt. Dementsprechend fallen Folgeentscheidungen dahingehend aus, dass diese Entscheidung auf der einen Seite verfolgt und ausgearbeitet, gegebenenfalls auch präzisiert und transzendiert wird. Das ist auch das, was Thelemiten mit dem „Wahren Willen eines Menschen bezeichnen.

Eigentlichkeit, Uneigentlichkeit und Ethik:

An dieser Stelle will ich auf die Frage der ethischen Bewertbarkeit der Eigentlichkeit bzw. Uneigentlichkeit eingehen. Vorab ist anzumerken, dass Heidegger selbst diese Begrifflichkeiten in Sein und Zeit explizit nicht in wertender Absicht gebraucht hat. Er gibt in Sein und Zeit an keiner Stelle an, was moralisch geboten, verboten oder erlaubt ist. Was auch einleuchtet, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Heidegger (Fundamental-)ontologie betreibt, welche der Ethik in der Klassifikation der Wissenschaften vorgelagert ist. Und die Bewertung von Verhaltensweisen als moralisch geboten, verboten oder erlaubt ist eine Aufgabe der Ethik, auf der Ebene der Fundamentalontologie stellt sich diese Frage in der Form nicht.

Doch obwohl Heidegger keine ethischen Aussagen macht, wird er häufig in diesem Sinne interpretiert. Was nachvollziehbar ist, denn das von ihm verwendete Vokabular legt solch geartete Assoziationen nahe. Luckner kommt in seinem Artikel (s.u.) zu dem Schluss, dass die Eigentlichkeit selbst keine moralischen Qualitäten besitzt. Er sieht jedoch sehr wohl eine Relevanz für ethische Fragen, weil erst in ihrer eigentlichen Existenzform eine Person mit ihrer Freiheit zum Guten wie zum Bösen, was immer dies näherhin auch sein mag, Bekanntschaft macht.

Eine Person existiert dann eigentlich, wenn sie sich institutionell gegebene Handlungsregeln aneignet und sich so selbst den Ansprüchen, an denen sie gemessen werden will unterstellt. Erst dann kann man auch von einer Persönlichkeit im moralischen Sinne sprechen.“ (Luckner)

In diesem Sinne wäre dann die Eigentlichkeit eine Voraussetzung für ethisches Handeln, lässt sich aber an sich nicht als gut oder schlecht bewerten. Demnach kommt eine Person dann in die Eigentlichkeit, wenn sie selbstbestimmte Entscheidungen trifft, unabhängig von einer vorab getroffenen Grundentscheidung. Wobei man sich hier sicherlich fragen kann, inwieweit eine Person, welche ihre eigensten Möglichkeiten erkennt und aus ihnen Handlungsalternativen wählt nicht immer schon eine gewisse Grundentscheidung getroffen haben muss.

M.D.Eschner versteht die Eigentlichkeit im Sinne des „Wahren Willens“, die mit einer zutiefst existenziellen Grundentscheidung über die eigene Misson oder Richtung im Leben einhergeht. Von diesem Punkt an kann die Person dann einen „eigentlichen“, selbstbestimmten Lebensweg gehen. Wobei auch hier natürlich anzumerken ist, dass das ganz unabhängig vom Man und der uneigentlichen Existensweise wohl auch nicht möglich ist.

In diesem Falle kann man die Eigentlichkeit im Sinne einer thelemischen Ethik als positiv bewerten, denn u.a. steht ja im Liber Legis: „du hast kein Recht als deinen Willen zu tun. Tue dies und keiner soll nein sagen.“ (Nuit, 42-43)

Der Begriff Recht deutet hier darauf hin, dass das Tun des eigenen Willens geboten oder zumindest erlaubt ist. Der folgende Vers sagt, dass keiner dagegen Einwände erheben soll, was ebenfalls ein ethisches Gebot verstehen kann, welches einen Hinweis darauf gibt, wie thelemische Menschen sich verhalten sollen. In die Überlegungen bezüglich Sein und Zeit und Ethik kann man die beiden von Heidegger genannten Formen der Fürsorge einbeziehen, aus denen sich durchaus ethische Implikationen ableiten lassen.

Der bisherige Schwerpunkt der Betrachtungen lag auf der einzelnen Person – nun stellt sich die Frage, was Heidegger über das Verhalten gegenüber anderen Existenzen sagt.

Miteinander und Fürsorge:

Er führt den Begriff des Mitsein ein, welcher ein Existenzial ist, d.h. ohne Mitsein kann es kein Dasein und auch keine Person geben. Personen beziehen sich immer auch auf andere Personen. Er entwickelt an dieser Stelle den Begriff der Fürsorge. Die Fürsorge ist ein Existenzial, der Umgang mit innerweltlichem Mitdaseienden.
Er unterscheidet die „einspringend-beherrschende“ von der „vorspringend-befreienden“ Fürsorge.

Die einspringend-beherrschende Fürsorge liegt dann vor, wenn man einer anderen Person bestimmte Tätigkeiten „abnimmt“, statt ihm zu helfen, sie selbst durchzuführen. Also z.B. Eltern, die ihre Kinder fürsorglich bekochen, bis diese dann eines Tages in der eigenen Wohnung vor dem Herd stehen und nicht wissen, wie sie die Nudeln kochen sollen.

Bei der vorspringend befreienden Fürsorge handelt es sich um eine solche, die die Existenz des Anderen betrifft und nicht ein was das er besorgt. Man nimmt dem Anderen die Sorge nicht ab, sondern springt ihm in seinem eigentlichen Seinkönnen voraus, um ihm die Sorge erst eigentlich als solche zurückzugeben. Ein Beispiel könnten hier Eltern sein, die ihrem Kind das Schwimmen beibringen. In der Folge kann es dann im Wasser seine eigenen Erfahrungen machen und z.B. die Sorge für das eigene über-Wasser-bleiben im Schwimmbad selbst übernehmen.

Ich denke diese vorspringende Fürsorge kann durchaus als eine Handlungsorientierung im Umgang mit andern Personen gesehen werden. Es stellen sich im Einzelfalle sicher verschiedene Abstufungen zwischen den beiden Extremen als sinnvoll heraus, je nach dem Können und Wissen der Beteiligten. Dennoch ist es naheliegend, dass man, sofern man an der Entwicklung anderer Menschen (und indirekt auch an der eigenen) interessiert ist, sich ihnen gegenüber nach Möglichkeit vorspringend-fürsorglich verhält.

Als Fazit der vorhergegangenen Überlegungen lässt sich festhalten, dass sich nach Luckner aus den Begriffen der Eigentlichkeit, der Uneigentlichkeit sowie des Man an sich keine moralischen Qualitäten entwickeln lassen. Jedoch können sie im Sinne einer „Voraussetzung“ oder „Grundlage“ in ethische Überlegungen einbezogen werden. Grundsätzlich scheint mir dieser Zusammenhang bei Gedanken zu einer thelemischen Ethik gleichzubleiben. Dennoch meine ich, dass die moralphilosophische Relevanz an Bedeutung gewinnt, wenn man davon ausgeht, das die Eigentlichkeit mit einer Grundentscheidung zu einem selbstbestimmten Leben einhergeht.
Die Überlegungen zu den beiden Formen der Fürsorge lassen sich in ethische Überlegungen fast direkt als Orientierungen einbeziehen.

Literaturverzeichnis:
M. Heidegger – Sein und Zeit
A. Luckner – Wie es ist, selbst zu sein. Zum Begriff der Eigentlichkeit (§§ 54-60)
M.D.Eschner – Vorträge „Über die Entscheidung“

Lucie Baumgarten