Der Tod und „des Menschen Sein zum Ende“““

„Tod, Verbannung und alles andere, was furchtbar erscheint, halte dir täglich vor Augen, vor allem aber den Tod, und du wirst niemals schäbige Gedanken haben oder etwas maßlos begehren.“(eine meditatio mortis)

Dieser Vers des Epiktet (um 50 n. Chr. – um 138 n. Chr.) aus seinem „Handbüchlein der stoischen Moral“ soll zunächst als Einleitung für die folgenden Betrachtungen über den Tod dienen. Worum es Epiktet wohl ging, als er den Tod so deutlich herausstellte?

Vielleicht wollte er uns mahnen, nicht irgendein beliebiges Leben zu leben, sondern ein aufmerksames und dem Menschsein gemäßes; frei von Scham und Gier.

Vielleicht hatte er aber auch erkannt, dass gerade der Tod als das eigene Zu-Ende-sein jenes Phänomen ist, das uns ins Nachdenken bringen kann: – über uns und andere, über das was wir getan und gelassen, was wir künftig tun werden oder gar tun wollten.

In der lateinischen Erstübersetzung wird der Vers mit meditatio mortis überschrieben – „Meditation über den Tod“. Vermutlich geschah das nicht zufällig. Denn ist der Tod nicht jener Moment, der mit seiner Gewißheit das Leben überhaupt erst lebenswert macht? Ist er nicht ein „Vorkommnis“, das uns in seiner Radikalität innehalten lässt, in unserem Tun und Handeln? Und ist er nicht jenes große lebensseitige Mysterium, durch das die Fragwürdigkeit des Lebens überhaupt zu Tage tritt?

Die Fragen nach dem Warum, Wozu und Weshalb wir leben, können nur wir uns selbst beantworten, wenn wir den Tod als eine uns Menschen mitgegebene Möglichkeit begreifen, die unserem Leben Sinn und Bedeutung verleihen kann. Und auch nur dann, wenn wir dem Tod einen Platz geben, ihn nicht fliehen, durch Zerstreuung, Gerede, Ignoranz und ihn als das begreifen, was er ist – das Ende und wie sich zeigen soll, eine Möglichkeit zu eigenstem Sein.

Was immer wir auch über den Tod sagen mögen, er ist was er ist, und was wir darüber denken und reden beruht gemeinhin auf Glauben, der jeweils abhängig von unserem gesellschaftlich-kulturellen Umfeld bleibt.

So finden sich die verschiedensten Vorstellungen und Überzeugungen zum Tod. Mal ist er ein Gut, durch das die Seele zur Tugend gelangt, mal furchtbare Strafe. Mal ist er etwas, wodurch das Einzelne zum Allgemeinen gelangt, mal Rückkehr des Körpers in die Elemente oder Heimkehr zum Urgrund aller Dinge. Mal einfach nur Übergang von einem Sein zum Anderen, mal Involution, mal Krankheit, Verwandlung, totale Vernichtung, Belehrung, Erlösung, mal Gott, mal Dämon, oder ein Phänomen, das uns gar nicht erst zu kümmern braucht.

Jedem von uns ist er in der einen oder anderen Weise schon untergekommen, meist durch Film und Fernsehen, durch Erzählungen, Zeitschriften oder Bücher. Aber was wissen wir tatsächlich vom Tode? Was können wir wissen? Was können wir über ihn sagen, wenn wir unsere Vorurteile und Glaubenssätze außen vorlassen?

Dies zu erläutern und anzuregen ist Anliegen dieses Artikels. Er sucht letztlich in seinen Ausführungen und trotz des scheinbar beschwerlichen Themas, nichts geringeres als die Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen, jedoch nicht zu beantworten.

„Kein Leben ohne Tod, kein Tod ohne Leben!“

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Zwar haben wir Kenntnis von ihm durch das Sterben Anderer, aber den eigenen Tod können wir selbst nicht erfahren. Ja wir können ihn uns nicht einmal vorstellen. Gerade der eigene Tod, der uns selbst angeht, entzieht sich unserem Vorstellungsvermögen. (Tod bedeutet Nichtsein und das wiederum heißt, keinerlei Bezüge zu Anderen, zur Welt und auch keine Möglichkeiten mehr zu haben.)

Da ich mich aber immer In-der-Welt und als seiend mitseiend denke und mir zum Beispiel vorstelle, wie andere auf meinen Tod reagieren, was ich verpassen und stattdessen erleben könnte und wie die Welt in 100 Jahren aussehen würde, bin ich auch weiterhin damit beschäftigt, mir einen Möglichkeitshorizont in einer Welt aufzuspannen. Der Tod als unbezüglich und unüberholbar lässt aber gerade das nicht mehr zu.

Die Charakterisierung des Todes in Martin Heideggers berühmter philosophischer Abhandlung „Sein und Zeit“ macht das deutlich. Der Tod ist nach Heidegger die eigenste, unbezügliche, unüberholbare, gewisse und unbestimmte Möglichkeit des Daseins. Das heißt…

I. „Eigenst“ ist der Tod, weil er durch Andere nicht vertretbar ist. Kein Dasein kann einem anderen Dasein sein Sterben und damit den Tod abnehmen. Selbst wenn sich jemand dazu entscheidet, für einen anderen Menschen in den Tod zu gehen, bedeutet dies nicht, dass ihm der Tod abgenommen wurde. Der Zeitpunkt des Todes wurde damit vielleicht verschoben.

II. „Unbezüglich“ deshalb, weil er alle Bezüge, das heisst, alle Beziehungen zu anderem Dasein und der Welt löst. Es gibt keine Möglichkeit mehr mit anderen und in der Welt zu sein, ihnen vielleicht vom Tod zu erzählen oder auch eine Handlung, die zum Tode geführt hat, rückgängig zu machen. Das gilt sowohl für den, der tot ist, wie auch für jene, die zurück geblieben sind.

III. „Unüberholbar“ meint, dass alle anderen Möglichkeiten von Dasein immer früher sind als der Tod. Wer nach seinem Tod in irgendeiner Weise handeln würde, wäre nicht tot. Dieser Punkt ist jener, der am deutlichsten macht, was der Tod als Zu-Ende-sein bedeutet: Der Tod als die letzte Möglichkeit, die Dasein überhaupt hat, nämlich tot zu sein, die Möglichkeit zu einer anderen Seinsweise, einer Leiche zum Beispiel, einer Weise in der es dem Dasein nicht mehr um sein Sein gehen kann. Damit wird der Tod die Möglichkeit zur Unmöglichkeit.

IV. „Gewiss“, weil wir ihm nicht entkommen. Er ist also nicht nur eine wahrscheinliche Möglichkeit von vielen, aus denen heraus gewählt werden kann. Sondern Heidegger meint damit, daß wir in jedem Falle aufhören werden zu-sein. Mit dieser Gewissheit, ist er zugleich…;

V. „unbestimmt“, denn wir können nicht wissen, wann der Tod eintritt. Möglich ist er zu jeder Zeit. Selbst ein zum Tode Verurteilter mag zwar annehmen, daß er als finaler Höhepunkt des Sterbens jeden Moment eintreten kann, aber nicht wissen wann. Hinzu kommt, dass wenn ich tot bin, auch dann nicht mehr weiss, wann er eingetreten ist. Wüsste ich dies, wäre ich nicht tot.

Was Heidegger also damit beschreibt, ist der Tod als das Phänomen des Zu-Ende-seins oder eben des Nicht-mehr-Daseins. Vielleicht wird damit auch deutlich, dass in diesem Sinne der Tod nicht besiegt werden oder der Eintritt in ein Jenseits gemeint sein kann. Ja, es scheint so nicht einmal die Aussicht auf ein Leben nach dem Tod zu geben. Wer tot ist, ist nicht.

Wir sagten schon, dass wir unseren Tod nicht einmal vorstellen können. Wie aber wissen wir dann überhaupt vom Tod, wenn er als unser Ende alle Bezüge löst und als unüberholbar alle Möglichkeiten nimmt? Das, was wir darüber wissen, erlangen wir allein durch das Sterben der Anderen. Aber das ist kein Wissen, weil wir am Anderen den Tod nicht erfahren können.

Der Tod enthüllt sich als Verlust der Anderen und wird als Ende des Daseins sozusagen aus zweiter Hand erfahrbar. Diesen Verlust erleidet aber nicht jener, der gestorben ist, sondern die Verbleibenden erfahren ihn als einen Verlust weiterhin mit dem Anderen sein zu können.

Im Dabeisein des Sterbens, im fürsorglichen Umgang mit den Toten und in der Erfahrung, dass das Ende eines Daseins zugleich der Anfang eines Vorhandenseins, nämlich eines Leichnams ist, erkennen wir den uns eigenen noch bevorstehenden Seinsverlust. Weil nämlich alle Menschen früherer Generationen bisher gestorben sind und auch wir Mensch sind, „wissen“ wir, dass wir sterben werden.

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Mit der Geburt ist uns der Tod immer schon mitgegeben, und der Zeitraum zwischen Geburt und Tod ist ein Sterben, ein Sein zum Ende. Der Tod ist etwas, wozu wir uns fliehend oder nicht fliehend verhalten. Wir können ihn also ignorieren oder annehmen. Es bietet sich damit in ausgezeichneter Weise die Möglichkeit, unser Sein auf den Tod hin zu hinterfragen.

Allerdings steht der eigene Tod solange wir leben aus – weil er für uns, solange wir leben, nicht zu erfahren ist. Solange wir leben, ist der Tod nicht. Der Tod als das, was uns solange wir sind aussteht, steht genauer gesagt noch bevor, solange wir sind. Dieser Bevorstand des Todes als permanente Möglichkeit, läßt unser Leben fragwürdig werden. Fragwürdig wird es in Bezug darauf, wer wir in unserem eigensten Seinkönnen sein könnten.

Wenn wir uns ernsthaft fragen, wie und was es mit dem Tod auf sich hat, fragen wir gleichzeitig immer nach dem Leben. Denn über den Tod nachzudenken, macht nur Sinn, wenn wir das Leben, unser Sein zum Ende, mitdenken. Erst im „Angesicht des Todes“ gewinnt das Leben an Bedeutung, an Inhalt und Form. Kein Tod ohne Leben, kein Leben ohne Tod.

Dieses Sein-zum-Tode vollzieht sich auf zwei grundlegend verschiedene Weisen, die oben schon angedeutet wurden: fliehend oder nicht-fliehend.

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Da zeigt sich zunächst und zumeist im Alltäglichen ein Fliehen vor dem Tode. Das Wissen um den Tod und seine Unausweichlichkeit, die sich im Sterben der Anderen zur Schau stellt, führt dem Dasein seine Endlichkeit vor. Für das Dasein, dem es aus seinen Möglichkeiten heraus immer um sich selbst geht, stellt dies eine erhebliche Belastung dar. Diese wird dadurch gemildert, dass der Tod zu einem alltäglichen und völlig selbstverständlichen Vorkommnis herabgemildert wird und irgendwo und irgendwie verschwindet. Weil ja nun ein jeder mal sterben muss, hat man es nur noch mit Todesfällen zu tun und damit wird gesagt, gemeint und sich vorgemacht, dass der Tod ja niemandem zu Eigen wäre. So löst zwar eine Naturkatastrophe mit tausenden von Toten zunächst Bestürzung aus, letztlich jedoch spielt es keine Rolle ob von 170.000 oder 280.000 die Rede ist. Es gab halt viele Tote.

Dieses Verhalten zum Tod, dass sich im flüchtigen Reden darüber, in Zerstreuung und Gier und Neugier auf Neues, z.B. die neuesten Trends und Styles, usw. zeigt, ist lediglich der erfolglose Versuch dem Tod zu entrinnen. Er soll in dieser Weise des Seins zum Tod als Mögliches so wenig wie möglich von seiner Möglichkeit zeigen.

Auch wenn dieses Fliehen-müssen als negatives Verhalten zum Tode erscheint, brauchen wir es dennoch. Denn wenn uns bewusst wird, das jene Flucht nichts bringt, wenn wir innehalten und die aufkommende Angst aushalten, kann aus ihr der Mut kommen, den wir aufbringen müssen, um uns auf unseren eigenen Tod hin zu entwerfen. Und das heißt, den Tod als Möglichkeit zu eigenstem Seinkönnen zu begreifen, weil er jedem Dasein allein bevorsteht.

Diese Angst, die uns unheimlich ist und als Unsagbares sprachlos macht, vereinzelt das Dasein und reißt es aus seiner Verfallenheit an die Welt. Denn mit der Angst offenbart sich das Ausgeliefertsein, die Geworfenheit in diese Welt. Wir wurden schließlich nicht gefragt, ob wir ein Leben wollen, das im Vorhinein dazu bestimmt ist, mit dem Tod zu enden. Mit anderen Worten gesagt: – der „Mut zur Angst vor dem Tod“ führt uns unser eigenstes, unser eigentliches Dasein vor Augen. Dies aber liegt nicht in der Frage, warum wir sterben müssen, sondern in der Frage wozu, warum, weshalb wir leben – und das heißt gleichzeitig: was und wie wir leben, was ich als Betroffener daraus zu machen gedenke.

Das ständige Aus- und Daran- Festhalten am Wissen um den eigenen Tod, das nicht-fliehende Verhalten zu ihm, eröffnet die Möglichkeit, uns aus dem Verfallen an die Dinge zurückzuholen. Mit der Vorstellung der eigenen Sterblichkeit zu spielen, läßt das Leben in einem anderen Licht erscheinen. Was will ich denn überhaupt für ein Leben gelebt haben, wenn meine Todesstunde gekommen ist? Was will ich hinterlassen haben? War mein Leben nur eine vergeudete Zeit?

Sicher, dieses „Spielen“ mit dem Tod, was Heidegger als Vorlaufen in den Tod bezeichnete, ist alles andere als beruhigend. Jedoch beginnt erst hier das Leben an Inhalt und Intensität zu gewinnen. Hier läßt sich etwas vom eigensten Seinkönnen erahnen. Nicht dass nun plötzlich klar wäre, was genau man zu tun oder zu lassen hätte. Aber man erfährt deutlich, dass sich das Wie und Was des eigenen Lebens auf einen selbst konzentriert.

Das eigene Leben auf diesen letzten Moment beleuchtet, braucht weder schäbige Gedanken noch maßloses Begehren.

„Tod, Verbannung und alles andere, was furchtbar erscheint, halte dir täglich vor Augen, vor allem aber den Tod, und du wirst niemals schäbige Gedanken haben oder etwas maßlos begehren.“

Inifal