Heidegger: Die Kunst des Denkens

Formale Anzeige – die Denkmethode Heideggers

Vorbemerkung


„Der Bedeutungsgehalt … [philosophischer Begriffe] meint und sagt nicht
direkt das, worauf er sich bezieht, er gibt nur eine Anzeige, einen Hinweis
darauf, daß der Verstehende von diesem Begriffszusammenhang aufgefordert
ist, eine Verwandlung seiner selbst in das Dasein zu vollziehen.
Sofern man aber diese Begriffe "anzeigefrei" nimmt wie einen wissenschaftlichen
Begriff in der vulgären Auffassung des Verstandes, wird die Fragestellung der
Philosophie in jedem einzelnen Problem irregeleitet.“

Gemeinet ist "Denkend eine Verwandlung seiner selbst zu vollziehen". Damit kann wohl kaum
jenes Denken gemeint sind, das uns vertraut ist, sondern es muß ein Denken gemeint
sein, das den Denkenden selbst persönlich betrifft, ein intensives, zugleich
hoch konzentriertes und zulassendes Denken.


In solches Denken, so Heidegger, müssen wir Menschen erst hineinkommen. Die
„Methode“, um solches Denken lernend zu vollziehen, kann als formal anzeigendes
Philosophieren benannt werden.
Sein Lehrer, Husserl faßte die Grundidee solcher Methode in sein berühmtes: „Zu den Sachen selbst!“ Nicht weg von den Phänomenen, sondern viel, viel näher
ran.


Was meint Heidegger mit „formaler Anzeige“?


Die
formale Anzeige als „Methode“ meint nicht eine funktionale Gebrauchsanleitung
zu einem angestrebten Ergebnis, sondern ein Verhalten: gr. meqa
odos
= der Weg nach …, oder: meqodos, was „Auf-dem-Weg-bleiben“ meint. Das bedeutet,
du musst den Weg (selbst) gehen, er-fahren und: Der Weg ist das Entscheidende,
nicht der Zielpunkt.


Eine Methode … von was, wofür? Eine Methode des phänomenologisch
Philosophierenden um „den Blick auf die Phänomene von theoretisierenden
Vorgriffen, insbesondere von ihrer Betrachtung als Objekte, freizuhalten, um
somit „die Phänomene als solche“ in den Blick zu bekommen.


Der Satzteil „des phänomenologisch Philosophierenden“ ist schon irreführend, denn es geht
nicht darum, dass dies ein Verhalten „der anderen“ oder einer bestimmten
Berufsklasse von Menschen ist, sondern eine Erfahrung des eigentlichen
Daseins, von mir und von dir, wenn wir uns zur Eigentlichkeit entschließen.


Er-fahr-ung heißt: Ich nehme mich selbst mit, ich stelle bei der Betrachtung
der Phänomene alles, was ich über sie schon zu wissen meine, zur Disposition,
ich bin offen für das Phänomen als solches und somit auch bereit mich durch das
Neue, das ich er-fahre, wandeln zu lassen.


Die Bezeichnung „formale Anzeige“ selbst gibt einen wichtigen Wink auf
das Besondere der Methode: formalanzeigend, weil der jeweils verwendete
„Begriff“ zur Anzeige eines bestimmten Phänomens jeder vorgängigen inhaltlichen
Bedeutung entbehren soll, formal, inhaltlich leer, ein bloßes Zeigen in
eine erst zu erfragende, noch unbegriffene Richtung.


Die so richtig verstandene, er-fahrene Leerstelle weist auf das
Phänomen und fordert auf zum Fragen, Hin-wenden und Hin-hören zum Phänomen ein:
Das Eröffnen und "Sich-öffnen-für" neue Möglichkeiten des Sehens oder anders, die
Bereitschaft, die Leerstelle neu und anders zu füllen.


Die wichtigsten Charaktere der formalen Anzeige zusammengefaßt:



  • Abweisung dessen, was ich schon zu wissen meine, des
    Selbstverständlichen, welches scheinbar außer Frage steht. (xy ist nun mal
    so…, das weiß doch jeder…)
  • Offenheit heißt, offen zu sein für etwas, das Andere, daß sich
    zeigt. Sich öffnen und offen halten für das, was begegnet und den möglichen
    Antwortraum der eröffnet wird. Durch Offenheit wird der Mensch in die
    Seinsweise des Daseins für Möglichkeiten versetzt.
  • die Bereitschaft zu…, dies meint nicht, sich irgendwie mal auf
    den Prozess der formalen Anzeige einzulassen, sondern sich tatsächlich und
    permanent so zu verhalten, damit ich mich selbst wandeln und das Phänomen sein
    lassen kann. („Der Mensch ist entweder für das stets
    Ursprüngliche bereit, oder aber er weiß es besser.“ –
    Heidegger)

  • Konversion heißt Umkehrung, Wandlung (meiner selbst), Verwandlung,
    sich selbst wandeln.
  • Richtungsanweisung, der Hinweis auf die Verstehensrichtung, die vom
    Phänomen selbst vorgegeben wird, jene Richtung in die ich mich
    hin-wende.
  • Besinnung, darunter versteht Heidegger den Prozess der formalen
    Anzeige, sie ist der Vollzug des besinnend fragenden (Be)Denken auf sich
    selbst. Das „Fragwürdigmachen der eigenen Voraussetzungen und Ziele“. („Besinnung ist der Mut, die Wahrheit der eigenen Voraussetzungen und
    den Raum der eigenen Ziele zum Fragwürdigsten zu machen.“ –
    Heidegger)

  • Fragen heißt fragendes Öffnen, Erschließen von Möglichkeitsräumen.

Warnung!

Um nicht von vornherein in Sackgassen des Denkens sich zu verrennen:
Heidegger weist explizit auf zwei wesentliche Mißdeutungen hin, mit denen jedes
Denken sich zunächst im Selbstverständlichen hält.


1. Einen Begriff in formale Anzeige zu nehmen, heißt nicht, ihn
theoretisch verstehen zu wollen. Mehr noch: Begriffe wie Sein, Liebe, Freiheit,
Tod oder Nichts lassen sich nicht "theoretisch" verstehen.


Wie das?


Begriffe wie Freiheit, Liebe, Wille, Gesetz, Sein sind keine sinnlichen, keine
anschaulichen, fassbaren Begriffe. Nichts was wir mit den Sinnen erfassen könnten,
können wir ihnen zuordnen. Solche Begriffe nennt man "Reflektionsbegriffe", d.h. sie beschreiben Regeln, die ein Sprecher selbst konstruieren kann. Insofern werden nur diejenigen Menschen z.B. unter dem Begriff "Liebe" dasselbe verstehen, die sie sich über seine Bedeutung geeinigt haben.


Reflektionsbegriffe wie Dinge begreifen zu wollen, ist daher schon im Ansatz
ein Mißverständnis. Eben dies zu verhindern und stattdessen ins fragende Denken
zu kommen, meint „formale Anzeige“.


Formale
Anzeige ist zunächst ausdrücklich eine Abwehr. Genauer eine
Abwehr gegen die Tendenz des rechnenden, wissenschaftlichen Verstandes, auf
Distanz zum befragten Phänomen zu gehen. Er tut dies, indem er sogleich darauf
aus ist, das befragte Phänomen als Vorhandenes zu nehmen, nach Antworten zu
suchen und so den erst zu öffnenden Frageraum schon mit Antworten, Gehalt wieder
verschließt. Der Verstand will Antworten, mit denen er rechnen kann.


Einen Begriff in formaler Anzeige zu halten dagegen, fordert den Fragenden
ausdrücklich auf, sich auf ein Abenteuer einzulassen:

Jedes Vorverständnis des gefragten Begriffes konsequent und diszipliniert zurückzustellen
(wie Störungen in der Meditation) und so sein eigenstes, persönliches Sein-können vom
gefragten Begriff in Frage stellen zu lassen.


Sich auf „In-Frage-stellen-lassen“
einzulassen heißt praktisch – für sich selbst – vor allem: Standzuhalten im
Sich-fragen-lassen auch dann, wenn es dem Fragenden unheimlich,
ungeheuer ob der Folgen des Bedachten für sein eigenes Da-sein wird.


Unheimlich wird es dem Fragenden spätestens dann, wenn der Fortgang der Untersuchung,
die Antworten, die der Fragende sich schon gegeben hat, ihre Selbstverständlichkeit
verlieren, ins Wanken geraten und schließlich sich als die falsche
Richtung erweisen. Paradigmatisch dafür ist das rechnende –
auf Absicherung, Festhalten von Vorhandenem geschulte Denken. Und so kann der
Fragende sicher damit „rechnen“, daß eben dieses rechnende Denken aufheulen
wird, sobald das Fragen an seine (berechneten) „heiligen Werte“ wie Abständigkeit,
Sicherheit und Alles-berechnen-können selbst geht.


2. Ein zweites Mißverständnis: Isolierbare Begriffe. Offenbar scheinen
unsinnliche oder reflexive Begriffe wie Freiheit, Wille, Liebe, Kreativität miteinander zusammenzuhängen,
sich aufeinander zu beziehen. Das gängige Mißverständnis, in dem Philosophen
bislang selbstverständlich steckengeblieben sind: Einen Begriff als isoliertes
Ding zu nehmen und Zusammenhänge zwischen Begriffen von außen, in Draufsicht
mit Distanz konstruieren und dann untersuchen zu können.


Indem sie nun beginnen,
mit solchen Begriffen zu jonglieren, mißverstehen sie Begriffe schon unversehens
als ein Etwas, Vorhandenes, ein etwas mit dem man rechnen, das man hin und her
schieben kann.


Was dabei gerade verborgen bleibt: Zusammen-hängen, sich aufeinander beziehen,
einander entspringend, begründend können Phänomene wie Freiheit, Liebe, Kreativität
etc. nur deshalb, weil sie formale Strukturen von Dasein selbst sind. Das meint:
Mit ihnen läßt sich in unterschiedlichen Perspektiven beschreiben, wie Da-sein
IST, wie, in welcher Struktur es sein kann. Ihr Zusammenhang also IST ausschließlich
in der Struktur von Dasein zu sein.


Zusammengefaßt:


Formale Anzeige will den Verstehenden in die Erfahrung, sich selbst
als Dasein zu verstehen, hineinführen. Sie bedeutet immer eine
Aufforderung an den Verstehenden, nicht nach Vorhandenem zu suchen, sondern sich
selbst zu wandeln – in Dasein, das sich versteht.


Philosophische Begriffe
deuten nicht auf Vorhandenes, sondern können nur als Aufforderung an den
Fragenden verstanden und erkundet werden.
Der ursprüngliche und einzige
Zusammenhang der Begriffe ist allein durch das Dasein selbst gestiftet.


Das heißt: Einen Begriff als offene Frage annehmen, in ihn
hineingehen, sich von ihm betreffen lassen, sich und das heißt immer: sein
Verhalten verändern zu lassen. Der Begriff, von dem ich mich dabei leiten lasse,
ist dabei der Türöffner, der mir immer wieder neue Räume, in denen ich neues
Verhalten ausprobieren kann, öffnet.


Zum echten Fragen schreibt Heidegger, es ist…


„… ein Fragen, in dem wir in das Ganze des Seienden
hineinfragen
und so fragen, daß wir selbst, die Fragenden,
dabei mit in
die Frage gestellt,
in Frage gestellt werden.“




Wie wird die Methode der Formalen Anzeige angewandt?



Formal
anzeigendes Denken – anders als wir es aus Schule und Alltäglichkeit gewohnt
sind – führt nicht zu sicheren Antworten oder Ergebnissen, die wir ablegen könnten,
sondern zu Antworten, die weiterführende Fragen sind:


Eine typische erste „Anwort“ im Prozess der formalen Anzeige ist eine
Tautologie oder ein Zirkel: Was ist Sprache? Sprache ist sprechen – um jeglichen
unhinterfragten, vorgängigen Gehalt des Phänomens oder die Gewohnheit, das
Phänomen schon als etwas anderes zu sehen, abzuweisen und stattdessen nur das
Phänomen als solches anzuweisen. Das „als“ führt jedoch nicht notwendig vom
Phänomen weg, z. B. ist bei der Formulierung „Sprache als Sprache“ der gewollte
Zirkel gewährleistet.


Die formale Anzeige ist in sich in drei Stufen unterteilt. Diese
konkretisieren sich von der ersten Anzeige eines rein formalen, noch vollständig
inhaltsleeren Phänomens hin zu einem konkreten, vulgären Phänomen. Diese Abfolge
kann auch als Entformalisierung bezeichnet werden.


Diese Stufen sind:



































fo. Anzeige Möglichkeits-Stufen

Phänomenbegriff

Frage Syllogismus Ontologie
1. Stufe Ermöglichendes Formaler Gefragtes Allgemeines Sein
2. Stufe Möglichsein Phänomenologischer Erfragtes Besonderes Sinn von Sein
3. Stufe Möglichkeit Vulgärer Befragtes Einzelnes Seiendes

Die genannte Entformalisierung ist also das Aufzeigen eines
Ermöglichungszusammenhangs: Der formale Phänomenbegriff ist dasjenige,
was überhaupt er-möglicht oder auch: der Grund der Bedingung der Möglichkeit.
Der phänomenologische Phänomenbegriff bezeichnet das Möglichsein oder die
Bedingung der Möglichkeit: Das, „was sich in den Erscheinungen, dem vulgär
verstandenen Phänomen vorgängig und mitgängig, obzwar unthematisch, schon
zeigt“. Der vulgäre Phänomenbegriff bezeichnet eine realisierte Möglichkeit.
Formal anzeigendes Denken kann auf jeder dieser drei Stufen begonnen werden.


Begriffe auf der 1. Stufe beginnend zu erkunden, wird heißen, sie
fortschreitend zu konkretisieren. Zunächst wird ein Begriff gefunden (Sein,
Kreativität, Freiheit, Schönheit), der ein Allgemeines (formale Struktur)
anzuzeigen geeignet ist, also vollständig leer von Vorstellungen gemacht werden
kann. Erst dann kann der Fragende sich unbefangen in diese Frage stellen und
Besonderes nach Hinweisen absuchen, wie sich eine solche Struktur konkretisieren
ließe. Auf der dritten Stufe, im Einzelnen erst wird sie greifbar, sinnlich
anschaubar.


Begriffe auf der 3. Stufe zu befragen heißt, sie nach dem zu befragen,
was und wie sich in ihnen etwas zeigt zu fragen und sodann nach dem, was dieses
ermöglicht. Alltägliches Verstehen von Begriffen auf der Stufe vulgärer
Phänomene ist zunächst durch das uns so selbstverständliche Denken in
Vorhandenheiten“ geprägt. Sie in formale Anzeige zu nehmen, wird
bewirken, daß sie sich wandeln und mit sich den Fragenden, der sich selbst von
einem vermeintlich Vorhandenen in ein Dasein wandeln muß, will er das was sie
ihm sagen, verstehen.


Von der 2. Stufe beginnend zu fragen, ist die eigentliche Domäne des
formal anzeigenden Denkens – sie führt in den Hermeneutischen Zirkel: Das
Einzelne durch Fragen an das Allgemeine (Ganze) und dieses durch das beharrende
Fragen wie es sich im Konkreten zeige, zurückzufragen. Erfragt wird in diesem
kreisenden Denken nicht nur die Mitte zwischen Ermöglichendem und realisierter
Möglichkeit, zwischen Allgemeinem und Einzelnen, sondern in dieser Mitte
entbirgt der Fragende sich selbst.


Ein
Beispiel für den Ermöglichungszusammenhang: Das Sein, welches als Ermöglichendes
das Seinsverständnis schickt (1. Stufe), das Seinsverständnis (2. Stufe), welches
als vorgängiges Verstehen schon immer gegeben sein muss, um Dasein, sprich In-der-Welt-sein
sein zu können. Das In-der-Welt-sein schließlich als realisierte Möglichkeit
eines Seienden (3. Stufe).


An diesem Beispiel ist zu sehen, daß die formale Anzeige 3. Stufe nicht
vorschnell mit empirisch zugänglichem, konkreten Seiendem gleichgesetzt
werden kann. Es geht nicht darum, am Ende, endlich, ein Resultat vorweisen zu
können („Ah, nun weiß ich es: Das ist ein weltloser Gegenstand, ein Vorhandenes,
ein Tisch.“), sondern die drei Stufen sind jeweils Stufen der Näherung an ein
Phänomen, sozusagen die Suchgegend, in der ich meine Expedition starte.


Ich kann die Expedition an einem Punkt abbrechen und mich zufrieden geben,
weil ich etwas gefunden habe. Dies entspricht aber nicht der formalen Anzeige
als Seinsweise des Daseins, sich vom Phänomen immer wieder neu angehen und
wandeln zu lassen. Der umgangssprachliche Phänomenbegriff (wie in: „ein
Phänomen!“, „phänomenal!“) weist die Richtung: Die formale Anzeige hält den
Philosophierenden im Staunen, die Welt ist nicht altbekannt, sondern
Abenteuer.


Ausblick


Was dürfen, was können wir in einer Zeit des weltpolitischen und
gesellschaftlichen Verfalls, in einer von Willkür und machenschaftlichen Denken
getriebenen Welt, in der uns nichts erstaunt, von einer formal anzeigenden
Philosophie erwarten?


Nun, nichts, was uns abgeschlossene Antworten geben
könnte! Nichts, was uns in unserer Bequemlichkeit und Selbstgenügsamkeit
bestärken oder sogar bestätigen könnte! Die Formale Anzeige mit ihrer
permanenten Konversionsforderung ist die radikalste Kampfansage an das, was wir
für die selbstverständlichste Sache der Welt halten – nämlich uns selbst.


„Nur was wir nicht verstanden haben, können wir abschließen.“

(Fräulein Smilla)



Metapher für die formale Anzeige – ein Seiltanz


Ein Seiltanz zwischen den Abgründen der analytischen, alles in kleine
handhabbare, machbare Häppchen zerteilende Präzision auf der einen und dem der
im Unbestimmt-Nebligen bleibenden Vagheit auf der anderen Seite – zwischen der
Gefahr im Einzelnen zu versinken oder sich im Allgemeinen zu verlieren.
Wie
hält ein Anzeigender Mensch sich in dieser schwankenden Höhe – auf dem Seil –
ohne abzustürzen?


Tanzend,
das ist mit „Seiltanz“ schon angezeigt, aber wie tanzt er, wie allein kann Mensch?
auf einem Seil tanzen? In Bewegung bleibend – tastend zwar aber entschlossen,
auf jeden Schritt ohne Zögern den nächsten zu wagen.


Den Mut, die Kraft für
den nächsten Schritt, erhört, erfühlt, ersieht der Tanzende aus den Abgründen
sich, die ihn tragen, indem der eine sowohl wie der andere ihn in je seine Tiefe
zu sinken lockt.
Je tiefer und zarter sich ziehen lassend – er beiden Abgründen zugleich sich
öffnet, je sicherer, tanzender setzt er seine Schritte.


Das Ohr hin zum Abgrund der Vagheit lauscht auf das frag-würdige Wort und
vernimmt immer feiner seine Fragen, seine Herkunft, seine Sehnsucht, verstanden,
gehört, gehütet zu werden.


Das andere Ohr steht senkrecht -scharf in die
Höhe, das Gewirr der klagenden, zerrenden Schreie aus dem Abgrund der Zerteilten
zu orten und aufzusammeln, in Worte zu sammeln.


Im endlos kreisenden Hin und Her zu den Abgründen hin erprobt der Tanzende
das Lied, das er unentwegt weiter-dichtend, zu singen lernt. Denn also wird ein Mensch, der sich zu Dasein wandeln, Seil-zwischen werden,
Seil-Tanzender werden will, zuerst, zugleich ein Singender werden wollen. Oder wird er zum Übersetzer zwischen zweien, die ohne ihn nicht die Spur
einer Chance einander und damit sich selbst – verstehen zu können?


Wie singt er genau? Um singend den nächsten Tanzschritt zu finden, kommt alles darauf an, daß er
sein Hören-können entwickelt. Um Nach-zusprechen, was er verstanden hat – so
treffend und fein wie ihm möglich – nachsprechend, in Worten aussprechend?


Und Hören meint auch – vernehmliche Laute, Stimmen, ebenso aber das Bewegen,
Zucken, Schwingen, Leuchten aller Arten von Sinne. Die er zu Worten übersetzen
lernt? Eine seltsame Gegenbewegung ist dieses Hören, das er *ja schon auf dem Seil
tanzend, * immer weiter verfeinern muß:


Hören auf die Frage, die sich selbst (ohne von ihm gesungen zu werden) nicht
verstehen kann. Dafür muß er – sein Hören „klar“ halten. Er muß standhalten:
Mehr und zugleich weniger hören als er vielleicht gewohnt sein mag:

Hellhörig werden dafür, wie mögliche Antworten, mögliche anwortende Fragen
klingen.
Und taub für das sonstige Stimmengewirr, das ihn hier – oder dort
in den Abgrund zöge.


Und nur er kann die einen mit den anderen – zueinander – ins Gespräch
bringen.
Und dieses Gespräch ist er selbst – er wird es, indem er es
singt.


Beispiel um in formal anzeigendes Denken hineinzukommen


Kant


Kant hat über Mündigkeit nachgedacht, hat dann diesen tollen Satz „Aufklärung
ist der Ausgang des Menschen…“ geschrieben, den können wir lesen, abschreiben,
lernen und die Sache ist erledigt.
Wenn wir Begriffe wie ‚Aufklärung‘ oder
‚Mündigkeit‘ formal anzeigend fassen… dann sind sie provisorische Platzhalter
… dann kann Kant nicht mehr das Denken abnehmen, sondern wird eine Zeitlang
unser Begleiter und irgendwann verlassen wir ihn und wo wir letztlich landen,
ist ungewiß.


Beispiele für Verhalten, das sich der Aufgabe, die eine formale
Anzeige ist, stellt ist „Sein und Zeit“


Die Frage nach dem Sein zu stellen, überhaupt zu finden, wie nach dem Sein
fragen, erfordert (so Heidegger in der Einleitung zu SZ) das Seiende selbst auf
sein Sein hin abzufragen. (S.6)


Das heißt aber nicht einfach: Hinsehen und beschreiben, sondern zuvor muß
dieses Seiende „zugänglich“ für den Fragenden geworden sein. Und „zugänglich
machen“ kann ja dann nicht heißen, wild draufloszufragen, sondern erst zu
finden, wie ich fragen kann, damit dieses Seiende mir zugänglich wird.


Was will ich erfahren? – Wie es ist. Wie es sein kann. Wozu und dann:
worumwillen es ist – den Sinn seines Seins.


Aber wie frage ich das Seiende danach? Heidegger lenkt die Aufmerksamkeit auf
das Seiende, das sich verstehend, fragend zu sich selbst verhält – dem Dasein.
Wie Dasein sich selbst, sein „Wozu“, „Worumwillen“ verstehen kann. Was es von
sich versteht und was ihm zunächst verborgen bleiben muß.


Das Gefragte also ist das Sein, das Ermöglichende, die eröffnende Frage. Sie
öffnet den Antwortraum und hält ihn offen. Diese, die eröffnende, ermöglichende
Frage, wird an keiner Stelle von „Sein und Zeit“ beantwortet.


Das Erfragte ist der Sinn von Sein, der zu erforschende Antwortraum, der vom
Gefragten offengehalten wird. Diesen Antwortraum erforscht Heidegger fragend
danach, wie, wodurch es möglich ist (Möglichsein), daß Sein verstanden werden
kann: „Der gesuchte Sinn von Sein ist nichts hinter dem Sein. Der Sinn ist
das, aus dem her Sein verstanden wird.“ (§ 32, S. 152)


Das Befragte ist das Seiende selbst (Möglichkeit), das auf sein
Sein-können, sein Möglich-sein hin befragt wird – Dasein. „Die Frage nach dem
Sinn ist die Frage nach dem Sein, vorausgesetzt, das Sein hält sich in der
Verständlichkeit des Daseins .“ (ebd.)


Wer bin ich?


Zunächst werden dir vermutlich sämtliche Eigenschaften/Merkmale einfallen,
die du dir zuschreiben würdest. Irgendwann – obwohl du es vermutlich endlos so
weiter machen könntest – bist du mit deinem Latein am Ende: Das bin ich nicht!
Als nächstes könnten dir Erinnerungen einfallen – Erlebnisse, die dich geprägt
haben – Erfahrungen, die zu dir gehören, die du bist. Irgendwann kommt ein
Punkt, wo es auch hier nicht weiterzugehen scheint. Was nun?


Deine räumliche
Umgebung scheint plötzlich furchtbar aufregend zu werden, aber dir wird klar,
dass dieses urplötzliche Interesse nur dazu dient, um von dir abzulenken. Wenn
du dich wieder auf dich zentrierst und tief in dich hineinspürst, bist du
irgendwann nur noch deine Empfindungen. Alle Äußerlichkeiten sind beiseite
geräumt, deine Vergangenheit zählt nicht mehr, dein Kopf ist geleert, du bist
deine Empfindung. Nachdem du dich von allem befreit hast, woran du dich
festgehalten hattest, und nichts mehr übrigbleibt, ist der Punkt erreicht, an
dem eine Umwandlung stattfinden kann.


Geist


Was ist Geist? Zur vulgären Fassung des Phänomens ist festzuhalten, daß man
sich davon distanziert, sei es verunsichert, verächtlich oder anders. Die Frage
Was ist Geist ist jedenfalls unzulässig und irrelevant. Man weiß, es ist eine
Frage für studierte Philosophen, vielleicht auch für Psychiater. Sind nicht
beide Berufe dafür bekannt, uns das Leben schwer zu machen durch die Erfindung
abstruser Begriffe?


Auf der formalen Ebene wird ein Philosoph gerade aus dem Umstand, daß der
Begriff Geist vage ist, den Ansporn ziehen, ihn klären zu wollen. Er muß nicht
überzeugt sein, die wahre Antwort zu finden, doch zumindest eine wahrere als wir
bisher kennen. So liegt es nahe, die Ergebnisse und Aussagen anderer Philosophen
(evt. auch Naturwissenschaftler) zu vergleichen und durch Gemeinsamkeiten und
Unterschiede und Widersprüche mehr zu erkennen.


Da die Erkenntnisfähigkeit des
Einzelnen begrenzt ist, kann durch Kombination vieler einzelner Ansätze mehr
erkannt werden. Zugrunde liegt dem die Überzeugung, daß die Wahrheit in der
optimalen Beschreibung liegt.


Auf der phänomenologischen Ebene muß man sich von den vorgängigen
Leitgedanken lösen. Das vulgäre Phänomen, also das, was ich selbstverständlich
mit ‚Geist‘ meine, befrage ich auf sein Wesen. Ergänzend zur Sachliteratur werde
ich z.B. meditieren, Drogen nehmen, den Biorhythmus einbeziehen. All diese
Erfahrungen können bedenkenswerte Wege und Abwege zeigen.


Anwendung der „Formalen Anzeige“ am Beispiel des Faschismus


1. Schritt: das III. Reich war schlecht; Nazis sind super; u.a. Aussagen


2. Schritt: „Der Begriff Faschismus entstand als Name für die Bewegung Benito
Mussolinis in Italien. Beginnend mit Stalin wurde er von der kommunistischen
Propaganda weitgehend dem Antikommunismus gleichgesetzt. Eine neuere
Interpretation des Begriffes durch Ernst Nolte (seit etwa 1970) beschränkt die
Verwendung des Begriffes auf antiliberale, antidemokratische und
antikommunistische Ideologien und schließt damit auch den (deutschen)
Nationalsozialismus ein. Abgeleitet ist der Begriff Faschismus vom italienischen
fascio bzw. lateinischem fascis für Bund, Bündel. …“ (Quelle:
wikipedia.org)


3. Schritt: (Anmerkung: Es geht hier nicht darum, eine abschließende
„Wahrheit“ zu präsentieren, sondern nur darum, eine Möglichkeit
anhand eines Gedichtes aufzuzeigen.)


Autor: Theodor Kramer


Theodor Kramer war ein österreichischer Jude der nach der Annexion ins Exil
nach England floh. Bei dem im Gedicht angesprochenen Faschisten handelt es sich
um Josef Weinheber, einen österreichischen Dichter, wie Kramer, der nach dem
Anschluß unsägliche Gedichte zu Hitlers Ruhm schrieb. Im April 45 nahm er sich
das Leben. Einen Monat später schrieb Kramer das "Requiem“. Hier verurteilt
Kramer nicht nur den Faschismus, sondern nimmt sich selbst in die Verantwortung,
seinem ehemaligen Freund nicht geholfen zu haben, den eingeschlagenen „Holzweg“ zu erkennen.


Requiem für einen Faschisten


Du warst in allem einer ihrer Besten
erschrocken fühl ich heut mich dir
verwandt,
du schwelgtest gerne bei den gleichen Festen
und zogst wie ich
oft wochenlang durchs Land.
Es füllte dich wie mich der gleiche Ekel
vor
dem Geklügel ohne innern Drang,
vor jedem Wortgekletzel und
Gehäkel,
nichts galt dir als der schöne Überschwang.


So zog es dich zu ihnen, die marschierten,
wer weiß da, wann du auf dem
Marsch ins Nichts
gewahr der Zeichen wurdest, die sie zierten?
Du liegst
gefällt am Tage des Gerichts.
Ich hätte dich mit eigner Hand
erschlagen;
doch unser keiner hatte die Geduld,
in deiner Sprache dir den
Weg zu sagen:
dein Tod ist unsre, ist auch meine Schuld.


Ich setz für dich zu Abend diese Zeilen,

da schrill die Grille ihre Beine reibt,

wie du es liebtest, und der Seim im geilen

Faulbaum im Kreis die schwarzen Käfer treibt.

Daß wir des Tods und Ursprungs nicht vergessen,

wann jeder Brot hat und zum Brot auch Wein,

vom Überschwang zu singen wie besessen,

soll um dich, Bruder, meine Klage sein.


Autor: „Die Nomaden“

Philognosie Team