Gurdjieffs „Kampf gegen den Schlaf“““

Diese verfluchten Idioten …

Georg Gurdjieff In der Abtei von Fontainebleau in der Nähe von Paris gründete Georg Iwanowitsch Gurdjieff Ende 1922 das „Institut zur harmonischen Entwicklung des Menschen“. In dieser Abtei lebten und arbeiteten u. a. viele Schriftsteller, Wissenschaftler, Ärzte, Künstler, die alle bereitwillig ihre bisherige Arbeit und Karriere aufgegeben hatten, um Gurdjieffs Lehre zu folgen.

Ein unbeteiligter Beobachter der Geschehnisse, der die Abtei mehrmals besuchte, schildert seine Eindrücke so:

„Die 60 bis 70 Schüler, die hier lebten, taten tagsüber harte körperliche Arbeit, lebten in kalten, karg eingerichteten Zimmern und von verheirateten Paaren mit Kindern abgesehen, streng nach Geschlechtern getrennt. Mittags gab es Suppe mit Mehl, dafür aber reichlich. Gurdjieff fordert absoluten Gehorsam und verlangt von jedem genau das, was seinem persönlichen Zu- oder Abneigungen entgegenläuft. Es gilt, die Gewohnheiten der Schüler zu brechen, denn diese sind die stärksten mechanischen Verkettungen, denen man unterworfen ist. Etwa um neun oder zehn Uhr versammeln sich alle zu den Tänzen und den sogenannten Dauerübungen: z.B. mit ausgestreckten Armen umhergehen; was einige eine Stunde lang fertigbrachten.“

Zu diesen Tänzen schreibt Dr. Young, ein Bewohner der Abtei:

„Der Sinn der Tänze bestand ebenfalls darin, die Trägheit körperlicher Gewohnheiten zu brechen, sich trotz Erschöpfung um geistige Konzentration zu bemühen und absolute Körperbeherrschung zu erlangen. Ein Training, für das sicherlich ein großes Maß an Willen erforderlich ist. Die Tänze bestanden z.B. aus vier verschiedenen Bewegungen, von denen jede einen eigenen Rhythmus hatte oder gegensätzlich war, wie beispielsweise Kreisbewegungen mit der einen und Klopfbewegungen mit der anderen Hand, während dessen man ein immer komplizierter werdendes Kopfrechnen durchzuführen hatte.“

Weshalb entscheidet sich jemand für ein derartiges Leben? Der verwöhnte westliche Mensch, der nun theoretisch die Freiheit und das Geld hätte, über sich selbst zu bestimmen und sich gemäß seinen Anlagen zu entwickeln, sucht nach Lehrern, die ihn an seine Grenzen heranführen, ihn in Frage stellen, ihn womöglich demütigen und von ihm genau das Gegenteil verlangen, als wonach er gerade das Bedürfnis hätte.

Fast sieht es wie eine weitere Perversion seines Konsumverhaltens aus. Der moderne Mensch steht vor einem Überangebot an Waren und Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten. In vielen Fällen scheint ihn das zu verwirren, wo kann er einen Sinn, ein Ziel erkennen?

Nun sucht er danach, seine äußeren Umstände wieder so schwer wie möglich zu gestalten, entscheidet sich – freiwillig? – für Entbehrung, Demütigung, Gehorsamkeit, Schmerzen, Ekel, einerseits, um in seiner Übersättigung überhaupt mal wieder etwas zu fühlen. Andererseits vielleicht in der Hoffnung, durch bewußtes Wahrnehmen und Transformieren der dabei auftretenden Gefühle innerlich frei und stark zu werden.

Wie könnte ein Mensch aussehen, der so frei und stark geworden ist? Wie wird er sich verhalten? Wie nehmen wir ihn wahr? Zieht er sich zurück wie ein Mönch, ein buddhistischer Meister, der abgeklärt und abgekehrt von irdischer Mühsal, nicht spricht, nicht sprechen muß, sondern seine Weisheit in seinem ruhigen und unerbittlichen Lächeln ausstrahlt?

Gurdjieff, der, wie wir wohl annehmen dürfen, diese innere Freiheit besaß und, wie Ouspensky es ausdrückte, „zu den Quellen der Erkenntnis“ vorgedrungen war, verhielt sich sehr anders.

Gurdjieff Magier Man hat die Assoziation eines genialen Jongleurs, der anstatt mit Bällen, mit seinen Schülern spielt, sie erhebt und wieder in Verwirrung stürzt, von ihnen mit der unerschütterlichen Sicherheit eines von sich selbst überzeugten Menschen, Dinge verlangt, die sie nicht verstehen und sie an den Rand ihrer Kräfte bringen und deren Sinn sie erst durch die praktische Arbeit ergründen können – wenn sie können. Er konfrontiert sie mit Widersprüchlichkeiten, Arroganz und Sarkasmus.

Hierzu einige Beispiele aus Louis Pauwels Buch Gurdjieff der Magier:

„Man stellte sie (die Schüler) mit ihren schändlichen Neigungen bloß und rechnete ihnen die erheblichen Ausgaben vor, zu denen ihr Gastgeber durch ihren Appetit und Durst veranlaßt wurde. „Wieviel glaubt ihr, wird das kosten?“ sagt Gurdjieff und hält ein höchst mageres Radieschen hoch, „ein Sonderradieschen, extra für mich aus dem Kaukasus geschickt.“ Es kam gerade-wegs vom Markt in Neuilly.“

Dr. Young, ein bekannter englischer Psychiater und Schüler von C. G. Jung, gab seine Praxis auf, um als Schüler von Gurdjieff in der Abtei von Fontainebleau zu leben. Er berichtet:

„Gurdjieff beschloß, einen Wagen zu kaufen. (…) Man nahm an, Gurdjieff habe nie fahren gelernt, was wahrscheinlich stimmte. Viele – und darunter die intelligenten Engländerinnen – glaubten, Gurdjieff brauche es nicht auf eine normale Art zu lernen. Er würde sozusagen durch Eingebung fahren lernen. Man vertrat den Aberglauben, Gurdjieff sei mit außergewöhnlichen und mysteriösen Kräften begabt. Wenn man das Kreischen des mißhandelten Getriebes hörte, erklärten die Getreuen beharrlich, daß der Meister damit die Zuneigung und Treue solcher Skeptiker, wie ich es sei, zu erproben gedenke.“

Gurdjieff schrieb über sich selbst: „Die große Natur hatte meine ganze Familie und vor allem mich freigiebig mit einem Ausmaß von Fassungskraft ausgestattet, wie es selten von einem Menschen erreicht wird.“

Der Wissenschaftler, Schriftsteller und Gurdjieff-Schüler Pierre Schaeffer erklärt die Intentionen seines Lehrers wie folgt:

„Ihr werdet weder getröstet, noch beruhigt, noch aufgeklärt. Ihr werdet nur einen Mann vorfinden, der Euch fühlen läßt, inwieweit man ein Mensch, und zwar ein einsamer Mensch, sein kann.“

Wer soweit gekommen ist, hat das erste große Ziel von Gurdjieffs Arbeit erreicht. Er hat aufgehört, eine Maschine zu sein, die sich nicht kennen und für ihre Handlungen nicht verantwortlich sein kann. Bevor ein Mensch also von sich sagen kann, er handle, muß er noch einmal ganz von vorne beginnen, wieder Kind werden, und durch für ihn völlig neue Herausforderungen und Überforderungen, seine wahren Grenzen und seine Möglichkeiten kennenlernen.

Denn der Mensch hat zwar die Illusion seiner Ganzheit und Einheit, ist aber in Wahrheit nur eine sich mit äußeren Einflüssen, Ereignissen und ihren eigenen gewohnheitsmäßigen Emotionen identifizierende Marionette.

Doch wo ist nun der Ausweg aus dieser Misere? Das zentrale Gebot in Gurdjieffs Lehre ist, damit aufzuhören, sich zu identifizieren. Dies soll mit ständigen Bewußtheitsübungen erreicht werden. Gurdjieff ging davon aus, daß alle Gefühle des noch nicht entwickelten Menschen falsch, und seine Handlungen mechanisch sind.

Der sein göttliches Selbst Suchende sollte ständig den Satz „Das bin nicht ich“ im Bewußtsein haben. Die innere Arbeit, die Gurdjieff von denen verlangt, die erwachen wollen und damit nach seiner Philosophie erst zu Menschen werden, birgt Gefahren in sich.

In manchen Zeugnissen der Gurdjieff-Schüler, die in Pauwels Buch zu Wort kommen, wird eine gewisse Sehnsucht nach der „Lebensweise“ einer funktionierenden Maschine deutlich:

„Es ist besser zu leben und wenig zu existieren, als überhaupt nicht zu existieren, weil man zu neugierig war und das Schwindelgefühl einem das scheinbare Sein ausgehöhlt hat“ (P. Schaeffer).

Und: „Es galt für mich, der Versuchung, das absolute, vollkommene und feste „Ich“ zu besitzen, abzuschwören – wenigstens für eine gewisse Zeit – wenn anders ich Freiheit und Gesundheit wiedergewinnen wollte. (…) ich war wie die meisten Mitglieder der Gruppen Gefangener meines eigenen Ehrgeizes (…)“ (L. Pauwelsl).

Gurdjieffs Regeln:

  1. Geh immer den Ereignissen nach, die der Rest der Menschheit als mysteriös abtut.
  2. Tu niemals etwas, weil andere es auch tun.
  3. Denke niemals das, was andere denken.
  4. Vertraue nur der eigenen Sicht der Welt, niemals der Sicht, wie sie andere haben. Und traue auch deiner eigenen Sicht nur einen Moment lang.

(Aus: Timothy Leary, „The Intelligence Agents“)

Kate Book