Jung & Freud: Reflexionen über das „Geheimnis des Selbst“““

Wer bin ich? Nicht alle Tage bin ich der Gleiche. Und wo bin ich nachts? Manchmal sehe ich mich im Schlaf. Im Traum aber ist es fast nie wie im wirklichen Leben. Im Traumland herrschen andere Gesetze, dort geht’s manchmal wundersam zu, bisweilen auch schrecklich.

Sigmund Freund, der Begründer der theoretischen und praktischen Psychotherapie, analysierte die psychische Struktur des Menschen und teilte sie in drei Instanzen: in Es, Ich und Über-Ich.

  • Das Es bezeichnet das Unbewusste. Dort gibt es weder Zeit noch Werte, nur Triebe, Bedürfnisse und Affekte. Solche Eigenheiten sind wie Organe. Zusammen bilden sie den unbewussten Teil der Psyche.
  • Das Ich beginnt am oberen Rand des Es und füllt mit Denken, Fühlen, Erinnern und bewusstem Handeln den Raum zwischen dem Es und dem Über-Ich.
  • Das Über-Ich, als Gegenpart zum Es, ist eine aus der erzieherischen Umwelt verinnerlichte Struktur, die Ich-Ideale und Weltbilder enthält, sowie subjektiv empfundene Autoritäten, die als Vorbilder dienen. Dort, in diesem unbewussten Bereich der Psyche, ist der Standort des Gewissens und der Maßstab für Werte sowie jene Instanz, die zwischen Gut und Böse unterscheidet.

Sigmund Freud zerlegte die Psyche in drei Bereiche und fügte sie zu einem psychischen Apparat zusammen. Die Symbolsprache der Träume betrachtet er vom kausalen (ursächlichen) Standpunkt aus. Insgesamt betrifft das den Körper, seine Bedürfnisse und die Einflüsse aus dem Lebensumfeld.

C. G. Jung fügte das Zerteilte zusammen, erweiterte und vertiefte es und nannte das Ganze das Selbst. Er betrachtete Träume und deren Symbole von einem finalen (zielstrebigen) Standpunkt aus. Das betrifft sowohl den Körper mit seinen Bedürfnissen als auch die Ganzheit der Person (das Selbst) und die Verbundenheit mit der Welt.

Ziel des Selbst

Nach umfassenden religions- und geistesgeschichtlichen sowie ethnologischen Studien begründete Jung die analytische bzw. komplexe Psychologie. Darin tritt neben das erworbene persönliche Unbewusste das ererbte kollektive Unbewusste. Jungs Charakterologie ist bestimmt durch die vier Grundfunktionen Denken, Fühlen, Empfinden und Intuieren (erkennen ohne bewusste Wahrnehmung). In diesem Kontext sah er das Selbst als ein das Individuum und die Welt vereinendes Prinzip. Somit sah er es als die zentrale Autorität in der menschlichen Psyche.

Seiner Ansicht nach existiert bereits am Beginn des Menschenlebens ein primäres oder ursprüngliches Selbst. Wie ein Samenkorn enthält es alle angeborenen und archetypischen Potenziale. In einer geeigneten Welt beginnen die Potenziale sich in einem Prozess der Deintegration (Dezentralisation) aus dem ursprünglichen unbewussten integrierten Zustand zu entwickeln, indem sie nach Entsprechungen in der Außenwelt suchen.

Nach Jungs Ansicht ist das Ziel des Lebens die Verwirklichung des Selbst. Er sagt „das Selbst ist jener Umfang, der Bewusstsein und Unbewusstes einschließt, es ist ebenso das Zentrum dieser Totalität, wie das Ich das Zentrum des Bewusstseins ist“. (…) „Im Leben fordert das Selbst vom Ich erkannt, integriert und verwirklicht zu werden; aber mehr als einen Bruchteil dieser großen Totalität kann nicht in den beschränkten Rahmen des menschlichen Bewusstseins aufgenommen werden. Daher ist die Beziehung des Ich zum Selbst ein niemals endender Prozess. Die Interaktion zwischen Ich und Selbst findet Ausdruck in der Individualität des Menschenlebens“.

Jung nennt den gegensätzlichen Ich-Selbst-Bezug die „Ich-Selbst-Achse“. Mit dieser Darstellung erweiterte er beträchtlich das Gesamtbild der Psyche. Seine Forschungen gaben ihm Anlass, zu sagen „ohne das reflektierende Bewusstsein des Menschen wäre die Welt von gigantischer Sinnlosigkeit“.

Am Nullpunkt

Die Psyche verändert sich mit der Welt. Heute verändert sich die Welt aber so schnell, dass wir kaum noch mitkommen. Würde Jung jetzt leben, fände er gute Gründe zur Annahme, dass unser Weltbild angesichts der zur Verfügung stehenden Indizien gründlich reformiert werden müsste – nicht zuletzt, um dem Geheimnis des Selbst näher zu kommen.

Besonders interessant ist da die Raumzeitlosigkeit. Das Selbst, sagt Jung, ist ein den Menschen und die Welt umfassendes immaterielles und neutrales Kräftepotenzial.

Seit Albert Einstein, Max Planck und anderen wissen wir, immateriell und raumzeitlos ist jener Punkt, wo die Materie total verdichtet ist (in Schwarzen Löchern, im Schöpfungsanfang, im Zentrum eines jeden Elementarteilchens – und im Zentrum des Selbst). Daraus ergibt sich, dass alles am Punkt der Raumzeitlosigkeit (dem Nullpunkt) miteinander verbunden ist.

An diesem Punkt endet unser Weltbild. Doch gerade da fangen die Probleme, die wir mit der Welt und uns selber haben, erst richtig an. In unserem Weltbild finden wir keine Erklärung für die physischen und psychischen Grundsatzfragen. Wir wissen nicht, wo die Dynamik der Welt herkommt, auch nicht wo die eigentliche Ursache von Gut und Böse ist. Ganz zu schweigen vom Sinn des Lebens und des Sterbens. Die Raumzeitlosigkeit ist also nicht nur der Nullpunkt unserer Welt und unseres Selbst, er ist auch der Nullpunkt jeglichen Sinns. So kann es aber nicht sein, sonst gäbe es die geniale Ordnung der Natur nicht. – Es muss also weiter an unserem Weltbild gearbeitet werden.

Wissenschaftliche Erkenntnisse stellen uns vor alte und neue Rätsel, die gelöst werden wollen. Neurologen zum Beispiel kennen Spiegelneuronen, und Psychologen kennen das Phänomen der Nachahmung; Psychologen und Mediziner kennen interne und externe Wechselwirkungen; Historiker, Philosophen, Soziologen und Psychologen erforschen das Streben nach Wissen und Macht; Physiker und Chemiker kennen die Wechselwirkungen der Gegensätze; Physiker und Techniker kennen die Gesetze der Dynamik. Nichts davon ist mit unserem Nullpunktweltbild wirklich zu erklären.

Unser Selbst zeigt aber, dass der Nullpunkt kein Endpunkt sein muss. Er kann auch ein Kreuzungspunkt sein. Wir wissen: über das Zentrum des Selbst fließen gegensätzliche Kräfteströme; der Körper und die Psyche kommunizieren über das Selbst mit dem Bewusstsein, und das Ich mit der Umwelt und Welt. Alles weist darauf hin, dass nicht nur bei uns, sondern auch in der Welt alles auf verschränkten Wegen im Fluss ist. Stetiges Fließen weist auch auf ein anderes Rätsel hin, nämlich, dass alles dem Werden und Vergehen unterworfen ist – auch die Welt selber.

Neue Sicht des Selbst

So wie wir die Welt jetzt sehen, kann sie also gar nicht sein. Das Ganze ergäbe erst Sinn, wenn unser Universum nicht das Einzige wäre. Vielleicht kann uns bei diesem Dilemma Niels Bohr, der Vater des Atommodells, weiterhelfen. Er sagte: „Bei totaler Verdichtung der Materie entsteht ein Zustand, der eher geistiger als materieller Art ist“.

Wenn Niels Bohr mit seiner Vermutung richtig liegt (alles spricht dafür), dann ist nicht nur das Zentrum der Welt geistiger Art, sondern auch unser Selbst. Als solches berührt es dann tatsächlich das Zentrum des gesamten Seins. In diesem Berührungspunkt könnten unsere Denkfähigkeit und Kreativität ihre Ursache haben; vielleicht ist auch von dort das religiöse Gen der Menschheit. Jedenfalls ist dort eine Möglichkeit erkennbar, über das physikalische Universum hinaus zu korrespondieren. Somit wären Gebete nicht sinnlos, wie viele Skeptiker meinen.

Diese Betrachtungsweise hätte auch Auswirkungen auf unsere Ansicht vom Tod. Denn philosophisch gesehen umfasst die totale Komprimierung des Seins nicht nur die gegenständliche Gesamtmasse, sondern auch alle abstrakten Werte, somit auch das Leben und den Tod. Dass wir „Leben“ und „Tod“ denken können unterstreicht bereits diese These. Und noch etwas spricht dafür: Da das Nichts ein Markenzeichen des Todes ist, befindet sich der Tod im Gegensatz zur totalen Realität des Seins.

Ein absolutes Nichts des Seins kann es aber gar nicht geben, es kann nur relativ sein; denn wäre es absolut, dann gäbe es gar kein Sein. Das „Nichts“ kann also nur im Rahmen fließender Veränderungen das Ende eines Prozesses darstellen und folglich der Tod auch. Daher sind beide irreal.

Unser Platz

Die Welt, das bestätigt die Astrophysik, stellt in ihren zahllosen Vernetzungen quasi eine Megakette dar, die vom „Nullpunkt“ bis zur totalen Ganzheit reicht. Im totalen Zustand gibt es, wie wir wissen, keine Gegensätze, weder ein Positiv noch ein Negativ und auch kein Gut und kein Böse. Ein weiterer logischer Faktor ist: In der Endloskette des Seins können keine zwei Dinge absolut gleich sein, denn dann wären sie keine zwei, sondern eins. Darum ist z. B. jede Schneeflocke, die auf die Erde rieselt anders – und das nicht nur jetzt und hier, sondern überall und zu allen Zeiten – nie gab es zwei ganz gleiche, nie wird es so etwas geben!

Wie mit der Schneeflocke ist es auch mit uns. Jedes Selbst bzw. jedes Individuum in der Megakette spiegelt einen speziellen Aspekt der Welt. Jung sagt: „Nicht alles, was im Selbst ist, kann vom Bewusstsein aufgenommen werden.“ Dennoch, trotz dieser Einschränkung können infolge des Kontakts zum Nullpunkt (Kreuzungspunkt) Gefühle, die aus dem Selbst aufsteigen, ein Gespür für die Ganzheit des Selbst und die des allgemeinen Seins vermitteln.

Weil das immaterielle Selbst total neutral ist, kann Jung sagen: „Das Selbst ist völlig gutartig, also ohne den Gegensatz des Bösen. Man muss es mit einem Dämon vergleichen, einer bestimmenden Macht, die kein Gewissen hat, ethische Entscheidungen bleiben dem Menschen überlassen“.

Aus dieser Perspektive die Menschheit und die Welt betrachtet, kann man in der Computersprache sagen: Die Menschheit ist in ihrer geschichtlichen Gesamtheit wie ein Scanner: Die Realität der Welt wird in Pixel zerlegt, um ein realitätsnahes Abbild von der Welt zu erstellen. Jeder, durch menschliches Bewusstsein realisierte Teil des Selbst, leistet hierbei seinen Anteil.

Doch wem soll das Abbild nutzen? Vielleicht der Menschheit, dass sie sich darin selbst erkennt? Soll das dann vielleicht der Übermensch sein von dem Nietzsche sprach? Oder etwa Jesus Christus in seiner Wiederkunft? Oder einfach nur die organisch vereinte Menschheit? Wie dem auch sei, wir können nur zurückschauen, indem wir die gesammelten Fragmente betrachten. Davon können wir dann ausgehen, wenn wir in die Zukunft hineinspekulieren möchten.

Nach Jungs These würden wir uns tatsächlich selbst erkennen, wenn wir die Ganzheit sehen könnten. Das wäre aber nur als kollektive Leistung möglich. Offenbar ist die Menschheit auf einem Weg, der dorthin führen könnte. Aber was dann, wenn das Ziel erreicht wäre?

Auch wenn es verrückt klingt – die Sache ohne Rücksicht auf Konventionen zu Ende gedacht, ergäbe nur eine sinnvolle Antwort, nämlich: Wäre die Menschheit in ihrer geschichtlichen Ganzheit und ihrer Vollendung ein perfektes lebendiges Abbild von der Welt, dann müsste es außer unserem Universum noch viele andere Universen geben, sodass die aus der Erde hervorgegangene Menschheit quasi als höheres Wesen über den Nullpunkt hinweg ins unendliche Sein hineingeboren werden könnte. Alle Individuen (bzw. deren realitätsnahen Substanzen) der Menschheitsgeschichte wären dann sozusagen Zellen dieses höheren Wesens. Klar – das ist eine verrückte Spekulation. Aber die Gegebenheiten sprechen nicht unbedingt dagegen.

Unser Vorteil

Wie mit der uns bekannten Welt, so verhält es sich auch mit der Wahrnehmung unseres Selbst: Die Welt ist heute bis an ihre Grenzen erforscht, der menschliche Leib bis ins Innerste der Zellen, und die Psyche bis in ihre dunklen Tiefen. Trotzdem wissen wir immer noch nicht, was die Welt ist, auch nicht, was wir selber sind. Das größte Hindernis dabei sind wir selber. Wir sind es gewohnt mit komplizierter Rationalität die Dinge zu betrachten, und meinen, nur was mit großem Aufwand erreicht wird, hat soliden Wert.

Wir verehren zu recht große Wissenschaftler und bewundern die Ergebnisse ihrer Leistungen. Im Vergleich zu solchen Größen fühlen wir uns klein und unbedeutend. Geblendet von solchem Glanz übersehen wir, dass wir im tiefsten Kern alle irgendwie genial sind. Alle wären wir zu Großem fähig, wenn wir unsere ureigenen Potenziale nutzen könnten und den Mut hätten, um simple Wahrheiten, die sich uns unbewusst aufdrängen, ins Bewusstsein hineinzubringen. Helfen könnte, dass wir heute in der glücklichen Lage sind, für vieles bei der Wissenschaft und schließlich auch bei der sich ständig weiter offenbarenden Realität für alles Wahre, Bestätigung zu finden.

Wäre aber alles ohne Sinn, dann wäre die Welt keine Welt, stattdessen wäre nur pures Chaos. In der Natur gibt es fraglos Chaos. Die Natur aber geht höchst kreativ damit um. Nach grundsätzlicher Sinnlosigkeit sieht das nicht aus. In unserer Zivilisation gibt es auch Chaos und Sinn. Da aber scheint momentan das Chaos die Oberhand zu haben. Die Natur jedoch hat uns mit Verstand ausgestattet – vielleicht nicht ohne Grund. Möglicherweise, um die Zeichen der Realität zu deuten, damit wir täglich unser Weltbild korrigieren können.

Macht ohne Gewissen

Das Selbst, sagt Jung, ist ein den Menschen und die Welt umfassendes immaterielles und neutrales Kräftepotenzial. Wir können heute hinzufügen: Weil es im Kern total immateriell ist, ist es raumzeitlos und berührt daher das total immaterielle und raumzeitlose Zentrum des Seins. Der wissenschaftliche Fortschritt gibt uns die Möglichkeit zu dieser Aussage.

Seit Albert Einstein, Max Planck und anderen namhaften Wissenschaftlern wissen wir, raumzeitlos ist jener Punkt, wo die Materie total verdichtet ist (in Schwarzen Löchern, im Schöpfungsanfang und im Zentrum eines jeden Elementarteilchens). Niels Bohr, der zusammen mit Ernest Stratmann das Atommodell entwickelt hat, sagt, „bei totaler Verdichtung der Materie entsteht ein Zustand, der eher geistiger als materieller Art ist“.

Philosophisch gesehen umfasst die totale Komprimierung des Seins nicht nur die gegenständliche Gesamtmasse, sondern auch alle abstrakten Werte, somit auch das Leben und den Tod; was besondere Bedeutung für den Tod hat: Es rückt ihn in ein anderes Licht. Nämlich, da das Nichts ein Markenzeichen des Todes ist, befindet sich somit der Tod im Gegensatz zur totalen Realität des Seins. Ein absolutes Nichts des Seins kann es aber gar nicht geben, es kann nur relativ sein; denn wäre es absolut, dann gäbe es gar kein Sein. Das „Nichts“ kann also nur im Rahmen fließender Veränderungen das Ende eines Prozesses darstellen. Folglich kann auch der Tod nicht absolut sein. Das Nichts und der Tod stellen also nur die Auflösung einer Form dar. Demzufolge sind in Wahrheit beide irreal.

Das alles zusammen gibt dem Selbst universale Bedeutung. Jung sagt, „weil das formlose aber dennoch konkrete Selbst einem materialisierten Prozess (unserem Menschsein) angehört, ist unser Selbst mit der Polarität von Gut und Böse (was dem Alles und „Nichts“ entspricht) konfrontiert.“ Jung sagt auch: „Diese Interaktion erfordert den Einsatz von höchstmöglicher Freiheit angesichts der scheinbar widersprüchlichen Erfordernissen des Lebens“, also einen autonomen Willen. Weiterhin sagt er, „das einzige und letzte Kriterium über das Gelingen dieser Interaktion ist die Selbstfindung.“ Und er sagt: „Das Erkennen des Sinns unseres Daseins hat heilende Kraft.“ Denn, so schließt er, „ohne das reflektierende Bewusstsein des Menschen wäre die Welt von gigantischer Sinnlosigkeit.“

Für Jung ist das Selbst ein archetypisches Bild, es stellt das vollständige Potenzial des Menschen und der Einheit der Persönlichkeit dar.

Es wäre aber ein toter Punkt, wenn er nicht zugleich ein Kreuzungspunkt wäre. Dass er ein Kreuzungspunkt ist, dafür spricht, dass das Selbst und die Welt miteinander korrespondieren, und dass alles in der Welt dem Werden und Vergehen unterworfen ist. Also ist alles im Fluss. Das allerdings hat Auswirkungen auf das Universum: Es hatte ja einen Anfang, somit wird es auch ein Ende haben. So kann es aber nur sein, wenn unser Universum nicht das Einzige ist, – was zugegebenermaßen schwer vorstellbar ist.

Problematisch ist, dass die erdrückende und ständig weiterwachsende Flut des Wissens uns inzwischen mehr belastet als sie uns nützt. Uns bleibt, um nicht daran zu ersticken, nur die Möglichkeit zu vereinfachen, zu abstrahieren. Mit so einer Vorgehensweise können wir Jungs Thesen und die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft zu einem Bild zusammenfassen, das uns die Möglichkeit gibt, dem Geheimnis des Selbst und zugleich der Realität der Welt etwas näher zu kommen.

Weil alles in der Welt miteinander verbunden ist, stellt die Welt sozusagen eine Megakette dar, die von der Totalität des Seins bis hinunter zum Fast-Nichts reicht. Darin hat jedes Selbst seinen eigenen Platz, weil, wie gesagt, nie zwei ganz gleiche nebeneinander bestehen können.

Der Begriff „Potenzial“ muss sich hier nicht auf die Kräfte der Psyche in biologischem Rahmen beschränken, er kann auch im Verhältnis zum elementaren Sein verstanden werden.

Jung nennt das Selbst eine Macht, die kein Gewissen besitzt. Ethische Entscheidungen bleiben dem bewusst handelnden Menschen überlassen.

Freuds Tiefenpsychologie ist weitgehend empirischer Art. Jung hingegen erweitert das Feld bis an die Grenze des Mystischen. Bei Freud geht es um die Balance der Triebkräfte, den Möglichkeiten des Willens und dem Einfluss der Konventionen. Jung erweitert Freuds Libido-Begriff zu einer generellen psychischen Energie und Triebdynamik.

Das Selbst in der Geschichte

Die unglaublich große und unvorstellbar differenzierte Welt ist zwar rätselhaft, dennoch ist sie einfachen Gesetzen unterworfen. Eins davon ist, dass keine zwei Dinge absolut gleich sein können, denn dann wären sie keine zwei, sondern eins. Aus diesem Grund ist beispielsweise jede Schneeflocke, die auf die Erde herunter rieselt anders – und das nicht nur jetzt und hier, sondern überall und zu allen Zeiten – nie gab es zwei ganz gleiche, nie wird es so etwas geben! Diese Tatsache lässt den Schluss zu, dass alle Dinge der Welt aus Ketten von kaum unterscheidbaren Ähnlichkeiten bestehen.

Die Welt, kann man sagen, stellt in ihren zahllosen Vernetzungen eine Megakette dar. Diese reicht von der Totalität des Seins bis hinunter zum Fast-Nichts. Darin hat jedes Individuum der Menschheitsgeschichte, ob aus der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, seinen ganz speziellen Platz. Diese individuelle elementare Verwurzelung gibt der Definition des Selbst seinen eigentlichen Sinn: Ein Individuum spiegelt und repräsentiert jeweils einen speziellen Aspekt des universalen Seins – und zwar umso besser je mehr es ins Bewusstsein des Ich bringt.

Aber wie gesagt, es kann nicht alles vom Bewusstsein aufgenommen werden. Dennoch können die aus dem Selbst aufsteigenden Gefühle ein Gespür für die Ganzheit des Seins vermitteln.

In der Computersprache ausgedrückt, könnte man sagen: Die Menschheit ist in ihrer geschichtlichen Gesamtheit wie ein Scanner: Die Realität der Welt wird in Pixel zerlegt, um ein realitätsnahes Abbild von der Welt zu erstellen. Jeder Mensch, wie er auch sei, leistet hierbei seinen Anteil und jedes Volk in jedem Zeitalter einen besonderen Ausschnitt der Entwicklungsgeschichte.

Heinz Altmann