Wieviel ist mein Gewissen wert?

Einleitung

gewissen test prüfen Die Frage: „Wieviel ist mein Gewissen wert?“ mag vielen Menschen provokant erscheinen. Dies wahrscheinlich deshalb, da Gewissensfragen normalerweise am ehesten in den sozialen Bereichen der Religion oder Politik/Ethik angesprochen und meist sehr emotional ausgetragen werden. Sobald das Thema Gewissen auf den Tisch kommt, ist damit häufig eine Verfehlungen gemeint – im Sinne von „schlechtes Gewissen“ oder „Gewissenlosigkeit“ – in der sich der „Angeklagte“ (oder Sünder) den Vorwürfen der Ankläger zu stellen und sich ihnen gegenüber zu rechtfertigen hat.

Viele Tagezeitungen und Zeitschriften sind voll der Opfer unserer Moralvorstellungen. Ist man einmal im Licht der Öffentlichkeit aufgetaucht, so kommen Heerscharen von moralisierenden Besserwissern und Strafpredigern angeritten und belehren uns über die wahre Natur des Bösewichtes. Kein Wunder also, dass es manchen Zeitgenossen kalt den Rücken hinunterläuft, wenn allein die Stichworte „Moral“, „Gewissen“ oder „Ethik“ fallen. Dabei muss Ethik nicht per se öde oder provokant sein, sondern kann uns auch Wege und Erkenntnisse über uns selbst bringen, sofern wir bereit sind, bei uns selbst anzufangen.

Mir geht es im folgenden also nicht darum, über das „Klatsch- und Tratschniveau“ der Boulevardpresse zu wettern oder über einzelne prominente Persönlichkeiten zu moralisieren, sondern vielmehr die Frage „Was ist überhaupt Gewissen?“ zu stellen und nach Antworten zu suchen. Mit anderen Worten: Kann uns die Beschäftigung mit der Ethik zu wertvollen Erkenntnissen im Leben und Handeln verhelfen?

Jeder Mensch trifft tagtäglich eine Vielzahl von Entscheidungen, die sein eigenes Leben verändern oder auch mehr oder weniger große Auswirkungen auf seine Mitmenschen und seine Umwelt haben. Aber nach welchen Kriterien entscheiden bzw. gestalten wir unser Leben? Urteilen wir nach unseren momentanen Gefühlen oder versuchen wir, die Wirkungen unserer Entscheidung vorherzusehen?

Sünde sündigen gewissenEs geht also darum, nach welchen Entscheidungsmustern (Kriterien) Menschen ihr Leben gestalten. Normalerweise ist dies abhängig von der Fähigkeit des Einzelnen, nach ethischen Maßstäben urteilen zu können.

Ich stelle im folgenden ein Modell vor, das ich persönlich sehr interessant finde, da es versucht, „Stufen der Ethik“ zu definieren, die man im Verhalten von Menschen tatsächlich beobachten/erleben kann. Dieses Modell stammt von Lawence Kohlberg und beschreibt, wie sich der Ethos bei Menschen in ihrem konkreten Handeln zeigt. Die Beschreibungen zu den einzelnen „Ethikstufen“ sind hierarchisch aufgebaut, d.h. ich fange mit der einfachsten an und arbeite mich dann Stufe für Stufe höher.

Viel Vergnügen …

Ein Mensch ohne Ethos ist wie ein Schiff ohne Steuermann. Das nächste Riff kommt bestimmt! (unbekannt)

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1. Stufe: … von Strafe und Gehorsam

Gewissen gehorsam Probleme Diese Ebene ist sozusagen der „Naturzustand“ und den meisten höheren Säugetieren zugänglich. Ein Mensch auf dieser Stufe würde Anordnungen oder Regeln nur dann befolgen, wenn er mit Strafen oder Unannehmlichkeiten rechnen muss. „Man stiehlt nicht, weil man sonst ins Gefängnis kommt“, könnte eine typische Ansicht dieser Stufe sein. Sie ist auch bei Kleinkindern weit verbreitet, die ihren Eltern nur dann gehorchen, solange diese im Raum sind oder sie Angst davor haben erwischt zu werden.

Selbst bei Tieren kann man dieses Verhalten schon beobachten. Meine Katzen lassen mein Essen nur in Ruhe, solange ich aufpasse. Verlasse ich jedoch einmal den Raum, ist es um mein Frühstück geschehen.

Hier entscheidet derjenige nach dem Leitsatz: Alles ist erlaubt, solange ich nicht erwischt werde.

Jeder Ladendieb handelt offenbar nach dieser Maxime. Aber man muss nicht gleich die „bösen Buben“ strapazieren, denn in abgeschwächter Form taucht dieses Verhalten durchaus auch in alltäglicheren Situationen auf. Ich verwende meinen Spickzettel nicht, da ich schwitzend bemerke, dass der Lehrer heute so aufmerksam herum kuckt. Nachdem ich mit der Sekretärin ein Techtelmechtel hatte, bin ich unruhig, da ich befürchte, dass ihr Mann dahinterkommt.

Entscheidend für diese Stufe ist, dass man nur deshalb nicht schummelt, weil man Angst vor Strafe hat. Die Angst „erwischt werden zu können“ ist für Menschen dieser Stufe dahingehend wichtig, ob sie sich etwas „trauen“ oder nicht. Dies ist die primitivste Form eines Ethos und tritt nur in Ausnahmefällen „so rein“ wie hier beschrieben auf. Das Problem ist schlicht, dass dieser Menschenschlag früher oder später bei seinen „Versteckspielen“ erwischt wird. Die besonders „Unmoralischen“ landen im Knast oder haben (in abgeschwächter Form) größere Probleme in ihrem sozialem Umfeld, da ihnen niemand mehr traut.

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2. Stufe: … zu meinem eigenen Vorteil

gewissen ausnutzen sünde sühnen Menschen, die sich hauptsächlich auf ihren eigenen Vorteil konzentrieren, nennt man Opportunisten. Das Weltbild eines Opportunisten wird von bestimmten Motiven geprägt. Da jeder Mensch seine eigenen Interessen hat, muss man so handeln, dass man zusammen gut wegkommt. Man versucht fair zu sein auf der Basis: „Ich gebe dir etwas, wenn ich dafür auch von dir etwas bekomme.“ Man kalkuliert, wie man sich Verhalten muss, damit man die meisten Vorteile daraus zieht. Man darf z.B. etwas Lebensnotwendiges stehlen, aber es kann sinnvoll sein, den Schaden später wieder gut zu machen.

Diese zweite Stufe ist insofern schon eine positive Entwicklung, da hier bereits Interessen von anderen mit berücksichtigt werden. Die wohl bekanntesten (und unbeliebtesten) Vertreter dieser Stufe werden häufig „Radelfahrer“ (zynischer bayrischer Ausdruck) oder schlicht Opportunisten genannt.

Man redet dem Chef nicht deswegen nach dem Mund, weil man seine Überzeugungen teilt, sondern weil man sich auf der Karriereleitern einen Vorteil verspricht.

Der Leitsatz könnte auf dieser Stufe heißen: Ich helfe/unterstütze jemanden solange ich etwas dafür bekomme.

Dieser Menschenschlag muss deswegen nicht einseitig negativ beschrieben werden. Es gibt durchaus positive Seiten dieser Menschen, da sie zumindest schon einmal eine Leistung für andere erbringen wollen. Angemerkt sei noch, dass der Vorteil nicht nur ein finanzieller sein muss, er kann sich auch auf das eigene Ansehen (Reputation) beziehen.

„Ich helfe dem Menschen hier, da meine Kollegen dann sehr lobend über mich reden werden.“

Wenn sie einen reiner „Zweier“ um Hilfe bitten würden, wäre seine erste Frage wohl, was er dafür bekommt. Es gibt Menschen, die solange Freunde haben wie es ihnen gut geht. Wenn sie ihre Freunde nach der ersten wirklichen Krise dann plötzlich verlassen, wäre es gut möglich, dass diese „Zweier“ waren. Sowohl Stufe Eins als auch Stufe Zwei orientieren sich hauptsächlich an Autoritäten. Auf Stufe Eins kann es einfach der Rudelführer (Bandenchef) sein, während es auf Stufe Zwei wohl der Mächtigste im sozialen Umfeld (Chef/Ausbilder/Lehrer) sein dürfte.

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3. Stufe: Sei ein braver Junge …

braver Junge gewissen brav schuld

Die nächste Stufe der Entwicklung des Ethos wäre dann das Einhalten von traditionellen Regeln (Konventionen). Konventionen sind insofern ein weiterer Fortschritt in der Entwicklung, da sie bereits an „übergreifende Regeln“ oder Verhaltensnormen anknüpfen. Ein „Dreier“ würde sich auch ohne die Anwesenheit einer Autorität moralisch verhalten können, sofern er es in seiner Erziehung gelernt hat. Man orientiert sich hier vor allem an den gängigen Rollenmustern der „Mehrheit“ und Stereotypen, die besonders angesehen sind. Das, was ein „braver Junge“ oder ein „gutes Mädchen“, was ein „anständiger Mensch“ tut, wird als gut angesehen. Man verhält sich konform der kulturellen oder anerzogenen Regeln und verachtet all jenes, was nicht in die Schablone passt.

Solche Stereotypen unserer Gesellschaft könnten z.B. im positiven Sinne sein: Hilfsbereitschaft, Dankbarkeit, Treue, Vertrauen, Ehrlichkeit, Fleiß. Derartige Motive werden bei Entscheidungen – ob etwas gut oder schlecht ist – bereits berücksichtigt. Man darf aus edlen Motiven stehlen (z.B. ein Medikament, welches dem Freund das Leben rettet, aber nicht bezahlt werden kann). Maßgebend sind die moralischen Maximen von Gruppe und Autorität, welche Sitte und Tradition heißen.

Der Leitsatz könnte hier heißen: Ich tue etwas deswegen, weil ich ein anständiger Mensch bin.

Ein „Dreier“ würde wohl sehr viel Wert auf Tradition legen bzw. diese auch hegen und pflegen. Auf die Frage hin, warum er sein Leben so gestaltet, würde er vielleicht antworten, dass „man es schon immer so gemacht hat“. Da unser Vater gesagt hat… bla bla… werde ich es so tun!

Die Konventionen, die ein „Dreier“ einhält, sind noch keine Normen oder Gesetze, sondern eher Orientierungen der ihm nahestehenden Personen (meistens Eltern, nahe Verwandte). Ist Papa nun ein Nazi, würde der eifrige Sohnemann die Ideale seines Vaters verherrlichen. Ob das in der Erziehung vermittelte Bild auch mit der Gesellschaft (Gesetzen) kompatibel ist, hängt von den Überzeugungen der Eltern ab. Das Problem bei einem „Dreier“ ist, dass er (neben positiven Ansichten seiner „Idole“) auch deren Vorurteile ungeprüft übernimmt.

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4. Stufe: Gesetz und Ordnung … Wo kämen wir denn hin, wenn …

Diese Stufe ist wiederum ein kleiner Schritt nach vorne. Dieser Typus orientiert sich nicht mehr nur an der kleinen überschaubaren Gruppe (Familie), sondern berücksichtigt erstmals auch gesamt-gesellschaftliche Aspekte. Die Beziehungen in der Gesellschaft sind unpersönlicher als die der Gruppe, weshalb die Verpflichtungen der heimeligen Wahlfamilie abstrakten Gesetzen, kurz: einer legalen Ordnung weichen müssen.

Ein typischer „Vierer“ ist der ideale Beamte, da in seinem Weltbild Gesetze und Verordnungen die höchst denkbare Form des moralischen Verhaltens darstellen. Gesetze sind nötig, damit die Gesellschaft nicht ins Chaos versinkt und deshalb zu respektieren. Wer stiehlt, stellt die staatliche Ordnung in Frage und ist deshalb ein Verbrecher.

Der oberste Leitsatz könnte hier heißen: Gesetze müssen eingehalten werden, weil sie Ordnung garantieren.

Für diesen Menschenschlag ist alles, was gesetzlich ist, gleichzeitig auch moralisch. Ein positiver Aspekt dieser Stufe ist, dass sie die erste ist, auf der verallgemeinerbare Regeln aufgestellt werden. Was heißt das? Ein „Dreier“ würde sich nicht damit beschäftigen, ob sein Verhalten auch für eine Gesellschaft tragbar wäre – hier entscheiden noch die Motive der Gruppe. Der „Vierer“ blickt sozusagen erstmals „über den Tellerrand“ seiner Familie hinaus, auf die übergeordnete Gemeinschaft und versucht diese durch regelkonformes Handeln zu unterstützen.

Einige Stilblüten oder Vertreter dieses Menschenschlages haben dieser Stufe ein etwas schräges (oder auch belächeltes Image) gegeben. Der „pflichtbewusste Preuße“ und der akribische „deutsche Beamte“ werden des öfteren von den Medien durch den Kakao gezogen. Die vierte Stufe war lange (oder ist?) das Ideal der Deutschen – der brave Soldat – ein Mann mit Prinzipien – der Diener des Staates, auf den man sich verlassen kann. Solange ein Problem paragraphengetreu abgearbeitet werden kann, fühlen sich diese Menschen in ihrem Element. Was aber, wenn ein Staat unmoralische Gesetze erlässt?

Das letzte Beispiel hatten wir in Deutschland mit Hitler und dem Dritten Reich. Hier liegt auch das Problem dieses Ethosgrades, denn sobald die höchste Instanz (der Staat) beginnt unmoralisch zu handeln, kommen solche Menschen in einen argen Gewissenskonflikt. Dieser kann aber auf dieser Erkenntnisstufe nicht gelöst werden. Das Resultat ist meist, dass man als Rechtfertigung angibt: „Man hat ja lediglich Befehle/Anordnungen befolgt“, d.h. die Verantwortung für das eigenverantwortliche Handeln wird hier noch nicht gesehen.

Gesellschaften, die diese Stufe als höchsten Wert verehren, können so von einem „Führer“ oder einer Regierung in einen Weltkrieg oder Holocaust geführt werden. Wobei man fairerweise sagen muss, dass dies die schwärzeste Seite dieser Stufe darstellt und durchaus auch konstruktivere Verhaltensweisen (wie oben beschrieben) üblicher sind.

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5. Stufe: … wenn ich an die Folgen denke

Steigen wir nun endlich in die höheren Bereiche eines Ethos auf. Was kennzeichnet nun die Qualität dieser neuen Stufe?

Auf dieser Stufe stellt der Mensch aufgrund von kritischer Selbstreflektion Prinzipien auf, die er als Maßstab für sein Handeln setzt. Er hat erkannt, dass die Regeln der Gemeinschaft oder des Staates nicht per se moralisch sein müssen und beginnt deren Sinn oder Unsinn zu hinterfragen.

Er kann einen moralischen Standpunkt so verallgemeinern und sich fragen, ob dieses Recht oder Gesetz für alle Menschen gelten könnte. Kompliziert? Nun, nehmen wir ein Beispiel:

Aus der Geschichte des zweiten Weltkriegs sind uns verschiedene Widerstandsgruppen bekannt, die es mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren konnten, Krieg zu führen oder den Holocaust gut zu heißen. Sie gingen in den aktiven Partisanenkrieg (oder Widerstand), um so das unmoralische Regime zu stürzen. Eine ihrer bekanntesten Aktionen dürfte wohl das Attentat auf Hitler sein. Sie erkannten, dass mit diesem Mann die Ideologie stehen bzw. fallen wird, so nahmen sie große persönliche Risiken in Kauf, das System zu ändern.

Sie reflektieren nach dem Grundsatz:

Wenn das Gesetz X für alle Menschen gelten würde, wären die Wirkungen wünschenswert?
– Wenn ja, dann ist das Gesetz legitim
– Wenn nein, dann muss das Gesetz geändert werden.

Die Schallgrenze ist schlicht die Anwendung einer rationalen und kritischen Selbstreflektion von sich selbst und anderen. Dies ist die erste Stufe, auf der dieses Niveau sozusagen zur Verhaltensgewohnheit geworden ist. Die Auswirkungen oder Aktionen solcher Menschen müssen nicht immer ganz so spektakulär sein wie im Falle der Widerstandskämpfer des Dritten Reiches. Man kann solche Menschen wohl auch unter Atomkraftgegnern finden oder unter den Verfechtern für die Grundrechte für Menschen. Überall dort, wo Ideen nicht einfach ungeprüft übernommen, sondern durch einen rationalen Diskurs mit Argumenten überdacht werden.

Solche Menschen geben sich nicht mit den aktuellen Gegebenheiten zufrieden, sondern fragen sich selbst aktiv, wie sie die Gemeinschaft oder Gesellschaft, in der sie leben, konstruktiv verbessern könnten. Um ein Missverständnis zu vermeiden – sie müssen nicht per se die Revoluzer oder Gegner der Gesellschaft sein. Menschen, welche die Gesellschaft einfach nur stürzen wollen, sind in den wenigsten Fällen „Fünfer“. Ein Fünfer erkennt durchaus die positiven Aspekte z.B. einer Demokratie und fördert sie im Rahmen seiner Möglichkeiten – er würde sich nur gegen Gesetze oder Maßnahmen stellen, die seinem Grundsatz widersprechen und somit Menschen schaden könnten.

Eine Gesellschaft sollte sich glücklich schätzen, solche Vertreter in den eigenen Reihen zu wissen – denn genau diese Menschen können für Weiterentwicklung und evolutionären Fortschritt ihrer Gemeinschaft sorgen.

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Anhang: Kleine Tipps für Beobachter

Zum Verständnis sollte man die Stufen einmal durchspielen. Man kann versuchen, sich selbst oder Beobachtungen von anderen in diese Stufeneinteilung einzuordnen. Erst das eigene Erleben und die Übung im Zuordnen werden zeigen, dass dieses System sehr leistungsfähig ist und man brauchbare Ergebnisse und Beurteilungen erzielen kann. Außerdem gehört auch eine gesunde Portion Ehrlichkeit und Erkenntnisvermögen dazu. Wer sich nicht sicher ist, welche Stufe für ihn persönlich am zutreffendsten ist, mag sich nach den Motiven seiner Handlung fragen: „Warum habe ich mich dafür entschieden?“ In den meisten Fällen kann die Antwort auf diese Frage einer der Stufen zugeordnet werden.

Ich will hier noch anmerken, dass es durchaus möglich ist „zwischen den Stufen zu springen.“ So kann ein aktiver überzeugter Demokrat (auf Stufe 5) durchaus seine Steuern hinterziehen, wenn er eine Möglichkeit findet „dabei nicht erwischt zu werden“. Genau genommen müsste man jede einzelne Tat untersuchen, um festzustellen, auf welchem ethischen Niveau sie entschieden wurde. Man kann jedoch festhalten, dass man bei längerer Beobachtung von sich selbst oder anderen eine Art Durchschnittswert ermitteln könnte, der repräsentativ für den entwickelten Ethos steht. Da Menschen Gewohnheitstiere sind und gelerntes Verhalten oft wiederholen, mögen hier durchaus markante Verhaltensgewohnheiten ermittelt werden, die sich einer bestimmten Stufe zuordnen lassen.

Interessant ist auch die Tatsache, dass man die Stufen in der eigenen Entwicklung (vom Kind zum Erwachsenen) nacheinander durchgeht. Man fängt als Kleinkind auf Stufe Eins an und entwickelt je nach eigenen Fähigkeiten und elterlicher Unterstützung nach und nach die jeweils nächsthöhere Stufe. Man könnte auch sagen, dass, wenn ein Mensch sich bis Stufe Vier entwickelt hat, er er auch alle jeweils niedrigeren Stufen kennt, d.h. er wandert innerhalb dieses Spektrums. Will er jedoch die nächsthöhere Stufe erklimmen, ist dies nur durch gezielte Entwicklung einer verantwortungsvollen Persönlichkeit möglich.

In Deutschland wird jedem Bürger mit der Volljährigkeit vom Staat per se die Mündigkeit zugesprochen. Man geht hier offenbar von der Vorannahme aus, dass das Mindestalter von 18 Jahren für die Entwicklung von Mündigkeit entscheidend ist. Was genau aber ist Mündigkeit? Damit wir das Rad nicht von vorn erfinden müssen, bedienen wir uns bei den Erkenntnissen der Philosophen.

Eine letzte Perspektive, die ich hier noch vorstellen will, stammt von Kant, der die Fähigkeit zum Ethos (= angewandte Mündigkeit) wie folgt in seinem Wahlspruch zur Aufklärung formuliert hat:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Kant)

In einfachen Worten heißt das also, dass ein mündiger Mensch sich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen bedienen kann, d.h. sein eigenes Verhalten oder das von anderen nach eigenen moralischen Maßstäben kritisch prüft.

Zuletzt will ich hier noch kurz die Ergebnisse von Kohlbergs Untersuchungen angeben. Er hat versucht, bei Menschen im Alter von 35 Jahren die durchschnittliche Verteilung ihrer Ethikstufe zu ermitteln. Er kam zu folgendem Ergebnis:

– Stufe 1: 2%
– Stufe 2: 1%
– Stufe 3: 30%
– Stufe 4: 60%
– Stufe 5: 7%

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Tony Sperber