Gesunder Menschenverstand: Wegweiser des Welt- und Selbstverstehens

Kann man denn mit der Natur vernünftig umgehen, ohne sie zu verstehen? Kann man überhaupt in einer Welt vernünftig leben, die man nicht versteht? Kann man, wenn man Wesentliches nicht versteht, überhaupt wissen, was Vernunft ist? Vielleicht sollte man hin und wieder die Dinge ohne Kopfballast betrachten.

Am besten geschieht das aus der Perspektive des einfachen gesunden Menschenverstands, ohne dabei wissenschaftliche Erkenntnisse außer Acht zu lassen – vielleicht in aristotelischer Weise, als „Sinn im Sitz des Herzens“ und nach Immanuel Kants erster Maxime „Selbstdenken“.

Was wir wissen …

Bereits mit einfachem Wissen und gesundem Menschenverstand können wir uns einen Überblick verschaffen. Alle wissen wir: Unser Leben fing an, indem sich zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts sehr nahe kamen und somit eine bis in Urzeiten zurückreichende Ahnenreihe fortsetzen.

Wir wissen auch, dass unser so begonnenes Leben irgendwann in Einsamkeit enden wird und unsere Spuren auf dieser Erde bald verwischt sein werden. Von der Welt wissen wir weniger. Aber auch ein gewisses Nichtwissen kann Wissen sein. Wir wissen zum Beispiel, dass die Welt einmal begann, und dass sie irgendwann und irgendwie enden wird; und wir wissen, dass wir von einem Davor und Danach nichts wissen.

Wir wissen auch nicht, warum sie funktioniert und was ihr Sinn ist – falls sie überhaupt einen hat. Vielleicht gilt für die Welt, was auch für unser Leben gilt: Bei uns waren am Anfang Mann und Frau. Waren es vielleicht am Anfang der Welt auch zwei? Pauschal gesagt, ein Positiv und ein Negativ?

Was unser Wesen betrifft, da können wir sagen: Bei uns sind die zwei fundamentalen Gegensätze auch positiv und negativ. Durch viele Relationen sind diese organisch miteinander verbunden. Daher sind wir eine Ganzheit – allerdings eine ungewöhnliche. Wir wissen: Einerseits ist unser Wesen materiell, räumlich und zeitlich begrenzt, anderseits aber auch immateriell und unbegrenzt, also zugleich körperhaft und körperlos.

Die immaterielle Geschlossenheit ist gewissermaßen ein raumzeitloses Zentrum, wir nennen es das „Selbst“ bzw. die „Seele“. Weil in diesem Zentrum alle Fäden unseres Wesens zusammenlaufen, und weil sich das ganze Wesen stets im Austausch mit sich und der Welt befindet und stets Einwirkungen von innen und außen ausgesetzt ist, können Reize und Reaktionen aus allen Bereichen unbewusst wahrgenommen werden.

Wir wissen: Vom Zentrum gelangen diese Effekte über Nervensysteme zur Schaltstelle zwischen dem Organismus und der Welt – dem Hirn. Und weil das ganze Wesen mit sich und der Welt kommuniziert, nach gut/schlecht sortiert und ordnet, und das Hirn auf elektrochemischem Weg die Ergebnisse teils abrufbar speichert, gibt es ein Konglomerat aus Werten der Welt und des eigenen Wesens.

Den unbewussten Bereich nennen wir pauschal das „Selbst“, den bewussten das „Ich“. Im „Ich“ ist die Möglichkeit gegeben, dass wir aufgrund einer fundamentalen Spiegelungsfähigkeit uns als positive Ganzheit wahrnehmen, und dass wir bewusst entscheiden können.

Noch ein Wort zur Welt: Wir kennen dank der Physik das Energieerhaltungsgesetz. Es sagt, dass die Gesamtenergie der Welt weder gemindert noch vermehrt, sondern nur verändert werden kann. Über diese Tatsache kann der gesunde Menschenverstand nicht hinwegsehen. Wird die Welt unter dieser Prämisse gesehen, kann zwar die Zivilisationswelt untergehen, die eigentliche Welt aber nicht.

Deren Schicksal ist es, sich andauernd zu verändern – im Extremfall bis zur Auflösung in pure Energie. Der Unterschied zum Anfang der Welt, der auch pure Energie war, wäre dann, dass die Energie des Endes mit allen Daten des Schöpfungsgeschehens angereichert wäre. Das würde bedeuten, dass unser Universum Teil eines anderen, viel größeren Prozesses wäre. Unser Universum wäre dann eins von vielen. Die Theoretische Physik hat dafür sogar einen Namen, sie nennt das übergreifende Ganze „Multiversum“.

Angesichts der gewaltigen kosmischen Dimensionen, die bereits unser Universum hat, ist unsere Zivilisationswelt nur eine kleine Episode im Fluss der Veränderungen. Wir wissen aus eigener Erfahrung: Da wird nach Brauchbarkeit selektiert, das heißt, was nicht systemkonform ist, kann nicht lange bestehen. Letztlich trifft das auch auf das Zivilisationssystem zu, es muss sich ja an der universalen Ganzheit messen lassen.

Wir wissen also einiges über uns und die Welt. Wir können, ohne den gesunden Menschenverstand zu verletzen, weit über unser Wissen hinaus spekulieren. Doch, so wie wir nach heutigem Stand des allgemeinen Wissens die Welt und uns selber sehen, passt es nicht zusammen.

Die Welt erscheint uns im Wesentlichen wie tote Masse, gefühl- und willenlos. Wir hingegen sind lebendig, intelligent und urteilsfähig. Dennoch, der einfache gesunde Menschenverstand sagt, was wir im Innersten fühlen: Wir und die Welt sind Eins. Also dürfen wir ruhig von uns ausgehen, wenn wir dem Geheimnis der Welt auf die Spur kommen wollen.

Was fällt uns auf?

Wenn wir mit einfachem Blick die Welt betrachten, fallen uns an ihr sechs Eigenschaften mit dazugehörigen Wirkungsweisen auf:

1. Die Gegensätzlichkeit ist verbunden mit einer gewissen Asymmetrie. Sie ist Voraussetzung für Dynamik und Progression.

2. Die Spiegelungsfähigkeit braucht ein Original und ein reflektierendes Gegenüber.

3. Die Skalenbildung erfordert entgegengesetzte Impulse aus einer Ganzheit. Aus Impulsen und Reaktionen werden Relationen, die sich als Skalen zu einer neuen Ganzheit verbinden lassen.

4. Die Reproduktionsfähigkeit setzt Gegensätzlichkeit, Spiegelungsfähigkeit und asymmetrische Kräfteverhältnisse voraus.

5. Die Asymmetrie ergibt sich aus Werten, die einander zwar entgegengesetzt, aber dennoch Teil einer gemeinsamen Einheit sind – wie bei einer Waage mit unterschiedlich verteilten Gewichten.

6. Die Komplexitätssteigerung setzt alle vorgenannten Punkte voraus, sowie ein Ideal, das Maßstab für Ordnungssysteme sein kann.

Bemerkenswert ist, dass diese, in der Welt zu beobachtenden Eigenschaften und Wirkungsweisen ausnahmslos auf unser Wesen und folglich auch auf unseren gesunden Menschenverstand zutreffen.

Bemerkenswert ist auch, dass die tote Masse der Welt nicht nur Leben und Geist hervorbrachte, sondern dass alles nach mehr und nach Wachstum drängt. Für dieses Drängen hat der gesunde Menschenverstand nur eine Erklärung: Es muss ein Vakuum mit Sogwirkung geben.

Unser Menschenwesen leidet offensichtlich an einem Vakuum. Wie sonst wäre das für uns so typische „immer schneller“ – „immer weiter“ – „immer mehr“ zu erklären? Dieses Vakuum wäre wahrscheinlich erst dann gefüllt, wenn wir ein totales Wissen über die Welt und uns selber hätten – wir wären dann vergeistigt und im höchsten Sinne lebendig, dabei aber nicht körperlos. Unserem gesunden Menschenverstand und den tiefsten Gefühlen ist das nicht fremd. Beide reichen ja weit über die sinnlich wahrnehmbare Welt hinaus.

Was erwartet uns?

Uns ist bewusst: Am Lebensende versagen die Körperfunktionen und die materiellen Strukturen werden von Geist und Seele verlassen. Ob unser Leben dann Spuren in der übrig bleibenden Substanz bzw. Energie hinterlässt, die uns irgendwie Hoffnung für ein Danach machen könnten, wissen wir nicht. Doch dank der Wissenschaft wissen wir – insbesondere seit wir die Quantenmechanik kennen – Energiequanten können alles speichern, also auch Daten unseres Wesens.

Doch welche Rolle das bei der Welt- und Lebensevolution spielen könnte, wissen wir ebenso wenig wie unser gesunder Menschenverstand. Wir wissen nur, in der Welt haben auch Winzigkeiten – in positiver oder negativer Weise – Sinn, manchmal sogar auch große Wirkungen (kleines Beispiel: die Kernspaltung). Zu bedenken ist auch, dass die Verhältnismäßigkeit zwischen Positiv und Negativ eine große Rolle spielt. Uns erwartet also allerhand, gewiss aber kein totales Ende.

Die Wissenschaft lässt uns im Regen stehen

Im Grunde ist klar, dass wir, obwohl wir mitten in der Welt sind, den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen – „Wald“ ist im übertragenen Sinne das Weltsystem. Immerhin wissen wir seit Darwin und der modernen Astrologie, dass es in diesem System trotz permanenter Destruktionen dennoch Evolution gibt. Und, wie wir selber sehen, dass daraus sogar Leben und Geist entstehen konnten – Leben, das am liebsten gesund bleiben möchte und niemals sterben will und Geist, der alles verstehen möchte.

An uns selber können wir sehen, dass Streben nach Leben und Wissen fundamental ist. Auch die Kulturgeschichte bestätigt das. Ein historischer Rückblick zeigt: Am Ende der Steinzeit setzte eine Bewusstseinswandlung ein. Jäger und Sammler begannen, statt nur Wild zu jagen und Beeren zu sammeln, nun auch mit Willen, Werkzeugen und Waffen nach der Welt zu greifen und zugleich mit Willen und Geist. Daraus entstanden mächtige Kulturen und bedeutende rationale Wissenschaften, auch unsere hoch technisierte Wissenschaftswelt mit ihrem Fluch und Segen.

Für uns heute erweist sich gerade diese Wissenschaft, trotz allem Elend, das sie durch hemmungslose Anwendung über die Welt brachte, als die Chance schlechthin. Sie eröffnet uns ganz neue Möglichkeiten, um Wahrheiten aus dem dunklen Reich der Gefühle ins helle Licht des Bewusstseins zu bringen. Auf diesem Weg führte sie uns nicht nur ins Innerste der Materie und unseres Wesens, sondern zugleich auch in die tiefsten Tiefen des Alls und bis zum Anfang der Welt.

Doch leider endet hier ihre Macht. Sie kann uns weder etwas Verlässliches über unser eigentliches Wesen noch über das Wesen der Welt und nichts über den Zustand vor ihrem Anfang sagen, auch nichts über den Sinn und Zweck der Welt und Menschheit. Sie lässt uns, trotz ihres Wissens und Könnens sozusagen im Regen stehen. Unser Lebenswille, unsere tiefsten Gefühle und der gesunde Menschenverstand wollen sich damit aber nicht abfinden.

Hilfreicher Druck

Bei soviel in uns schlummerndem Potenzial, brauchen wir die Flinte nicht ins Korn zu werfen. Zum Thema Welt und Sein sagen der gesunde Menschenverstand und die tiefen Gefühle: Von nichts kommt nichts, weil ein absolutes Nichts jegliches Sein ausschlösse. Also geht es jetzt hauptsächlich um die Art der Realität. Doch gerade da liegt der Hase im Pfeffer: Weder der gesunde Menschenverstand noch die tiefen Gefühle können sich mit der heute hautnah erlebten Realität abfinden.

Weil also die Gefühle nicht schweigen und nicht nur wir, sondern die ganze Erde nach Hilfe ruft, und weil uns die Wissenschaft offensichtlich nicht weiterhelfen kann, und kein Glaube uns wirklich erlöst, sollten wir den gesunden Menschenverstand nicht links liegen lassen.

Stattdessen sollten wir uns mit ihm in unerschlossenes Gelände wagen. Die Spuren sind unübersehbar von der Realität gelegt: Wir sehen eine atomisierte, kopflose Welt und eine rebellierende Natur. Wie heute jeder Mensch, weiß auch der gesunde Menschenverstand, diese Welt ist krank. Und jeder weiß, was ihr fehlt – lapidar gesagt: das Gegenteil von jenem, das sie krank macht.

Für uns steht fest, diese Welt können wir nicht retten. Denn hier findet ein Kampf zwischen elementaren Kräften statt. Aber immerhin, mit unserem Wissen und einem offenen Ohr für den gesunden Menschenverstand haben wir die Chance, den uns gemäßen Platz in der Ordnung des Seins zu finden.

Fest steht auch, das kann nicht das Nichts des Todes sein. Weil es ja, wie der gesunde Menschenverstand bereits sagte, das absolute Nichts gar nicht geben kann. Es gibt also nur fließende Veränderungen und gute und schlechte Systeme. Was davon Bestand hat, darüber entscheidet die echte Realität. Der tief im Sein verwurzelte gesunde Menschenverstand hilft uns, diese Realität zu finden.

Heinz Altmann

Heinz Altmann