Philosophie Einführung: Sokrates und Platon

Sokrates und Platon gehören wohl zu den bekanntesten griechischen Philosophen, von denen heute schon jeder gehört hat. Ihr Leben und Werk beeinflusste die Philosophie bis in die Neuzeit. In diesem Artikel können Sie sich einen Überblick über die beiden Philosophen verschaffen.

Einleitung

Das Werk Platons (428/427 – 348/347 v. Chr.) ist vollständig erhalten. Er schrieb „nicht für Philosophen, sondern für Laien“ (MEL 18/777). Dementsprechend ist der größte Teil seines Werks (in der deutschen Übersetzung von Apelt, nach der ich hier zitiere) leicht zu lesen.

Platon und Sokrates Philosophie Einführung

Da Friedrich Schleiermacher den griechischen Text sehr wörtlich zu übertragen suchte, ist seine Übersetzung zwar genauer als die von Apelt, aber nicht unbedingt richtiger und schon gar nicht verständlicher. Im Zweifelsfall muß man Griechisch lernen und einzelne Stellen etwa in Burnets Ausgabe nachschlagen.

Zitiert wird nach der Stephanus-Paginierung, die aus Seitenzahl und einem Buchstaben besteht (jede Seite wird in fünf etwa gleich große Abschnitte eingeteilt, die mit a-e bezeichnet werden). Mit Ausnahme der Apologie und der Briefe handelt es sich um Dialoge, in denen meist Platons zweiter Lehrer Sokrates (um 470 – 399 v. Chr.) die führende Rolle spielt.

1. Der Tod des Sokrates

Sokrates war „der erste Philosoph, der gerichtlich verurteilt das Leben einbüßte“ (Diogenes Laertios II 20). Für seine Kritik an den Mitmenschen erntete er nicht nur den delphischen Orakelspruch „An Weisheit nimmt es niemand auf mit Sokrates“, sondern auch „große Gehässigkeit gegen ihn, die ihren Grund auch noch darin hatte, daß er die eiteln Herren, die sich wer weiß was auf sich einbildeten, ihrer Torheit überführte, wie z. B. den Anytos, wie es im Menon des Platon zu lesen ist.

Dieser nämlich, erbost über den Spott des Sokrates, reizte zunächst den Aristophanes gegen ihn auf, dann überredete er auch den Meletos, ihn gerichtlich zu belangen wegen Gottlosigkeit und als Verführer der Jugend. So reichte denn Meletos die Klage ein, Polyeuktos trug die Anklage vor Gericht vor, wie Favorinus in seinen Geschichtlichen Miszellen behauptet; geschrieben aber war die Rede von dem Sophisten Polykrates, wie Hermippos behauptet, oder nach andern von Anytos, vorbereitet war alles von dem Demagogen Lykon. Antisthenes in den Sukzessionen der Philosophen und Platon in der Apologie nennen als Ankläger folgende drei: Anytos, Lykon und Meletos, Anytos als grollenden Vertreter der Handwerker und Staatsmänner, Lykon als Vertreter der Redner und Meletos als Vertreter der Dichter, weil Sokrates ihnen allen übel mitgespielt“ (II 37ff).

Die Verteidigungsrede des Sokrates hat Platon, der vor Gericht anwesend war, in seiner Apologie überliefert. Im Kriton und im Phaidon bringt er Nachdichtungen der letzten Gespräche des Sokrates vor seinem Tod durch den Giftbecher. Sie handeln von der Notwendigkeit, die Gesetze einzuhalten, und von der Unsterblichkeit der Seele. „Am Todestag ist Platon nicht zugegen“ (Martin: Sokrates 9; vgl. Phaidon 59b). Auch im 7. Brief geht er auf den Prozeß gegen Sokrates ein, ebenso im Dialog Euthyphron, der unmittelbar vor der Gerichtsverhandlung spielt.

Nach der Hinrichtung des Sokrates wurden die Athener „alsbald von Reue befallen. Sie schlossen die Ringschulen und die Gymnasien, bestraften einige durch Verbannung und verurteilten den Meletos zum Tode. Den Sokrates aber ehrten sie durch Errichtung einer ehernen Bildsäule, die sie, ein Werk des Lysippos, im Zeughaus (Pompeion) aufstellten. Und was den Anytos anlangt, der damals verreist war, so verwiesen ihn die Herakleoten gleich am Tage seiner Ankunft des Landes“ (Diogenes Laertios II 43).

Erec Robertson Dodds stellt den Prozeß gegen Sokrates in seinem Buch über „Die Griechen und das Irrationale“ in einen größeren Rahmen: „Den eindrucksvollsten Beweis einer Reaktion gegen die Aufklärung darf man aber in der erfolgreichen Verfolgung der Intelligenz erblicken, welche aus religiösen Gründen im letzten Drittel des fünften Jahrhunderts in Athen stattfand. Um 432 v. Chr. bzw. ein oder zwei Jahre später wurden mangelnder Glaube an das Übernatürliche und das Lehren der Astronomie zu Kriminalverbrechen erklärt. Während der nächsten rund dreißig Jahre erlebte man eine Serie von Ketzerprozessen, die für die athenische Geschichte einmalig sind.

Unter den Opfern befanden sich die meisten Wortführer des fortschrittlichen Denkens in Athen, Anaxagoras, Diagoras, Sokrates, mit großer Sicherheit auch Protagoras und wahrscheinlich Euripides. […] All diese waren berühmte Männer. Wieviel weniger bekannte Personen wegen ihrer Überzeugung gelitten haben, wissen wir nicht. Aber das vorliegende Material reicht längst aus, um zu beweisen, daß die große Zeit der griechischen Aufklärung in gleicher Weise – und wie in unseren Tagen – ein Zeitalter der Verfolgung war, der Vertreibung von Wissenschaftlern, der Unterdrückung des freien Denkens und (wenn wir der Überlieferung über Protagoras Glauben schenken können) sogar der Bücherverbrennung“ (S. 101).

Dodds fragt, wieso es damals möglich war, mit dem „Vorwurf der Gottlosigkeit […] eine unbequeme Stimme zum Schweigen zu bringen oder einen politischen Opponenten zu schädigen“, und erklärt es mit der „Annahme […], daß unter der Masse ein erbitterter religiöser Fanatismus herrschte, den die Politiker für ihre eigene Absicht ausnutzen konnten“ (S. 102).

Was war aber der Grund für diesen Fanatismus? Wurde er, wie Nilsson vermutet hat, „von den professionellen Sehern geschürt“? Oder handelt es sich einfach um „Kriegshysterie“? Immerhin sei das „Zeitalter der Verfolgung fast genau mit dem längsten und verheerendsten Krieg der griechischen Geschichte“ (gemeint ist der Peloponnesische Krieg 431-404 v. Chr.) zusammengefallen. In Kriegszeiten sei die Neigung zur Konformität und Intoleranz gesteigert. „Die Götter durch den Zweifel an ihrer Existenz beleidigen oder dadurch, daß man [gemeint ist Anaxagoras] die Sonne einen Stein nannte, war schon in Friedenszeiten riskant genug. Im Krieg aber kam das dem Verrat gleich, es lief auf Hilfe für den Feind hinaus. Denn die Religion fällt in das Gebiet der kollektiven Verantwortlichkeit“ (S. 102f).

Sokrates Philosophie Einführung Überblick

Dodds hält das für „die ganze Erklärung“, ergänzt aber, „daß der neue Rationalismus – neben den nur eingebildeten – tatsächliche Gefahren für die soziale Ordnung mit sich brachte. Viele Leute legten mit dem ererbten Konglomerat gleichzeitig auch die religiösen Bindungen ab, die bisher die menschliche Selbstsucht gezügelt hatten. Für Männer mit strengen moralischen Prinzipien – einen Protagoras oder Demokrit – bedeutete das nichts.

Ihr Gewissen war reif genug, um ohne Stützen stehen zu können. Anders aber verhielt es sich bei der Mehrzahl ihrer Schüler. Für sie bedeutete die Befreiung des Individuums eine schrankenlose Freiheit zur Selbstbehauptung, bedeutete Rechte ohne Pflichten, es sei denn, man wollte diesem Geltungsstreben die Eigenschaft einer Pflicht zuerkennen. […] Thukydides führt das auf die Kriegsmentalität zurück, und zweifellos lag hier auch der unmittelbare Anlaß. […] Der neue Rationalismus […] gab ihnen die Möglichkeit, ihre Brutalität vor sich selbst zu rechtfertigen“ (S. 103).

Kurz: Die Befürchtung, Sokrates hätte die Jugendlichen verdorben, sei „nicht grundlos“ gewesen; doch furchtsame Menschen würden „mit der falschen Waffe“ zustoßen und „den falschen Mann“ treffen (S. 104).

Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848-1931) betrachtet den Prozeß gegen Sokrates nicht wie Diogenes Laertios als persönlichen Rachefeldzug gekränkter Bürger, sondern stellt ihn in den Rahmen der Demokratenverfolgung des Tyrannen Kritias (um 460 – 403), dem ca. 1500 Menschen zum Opfer fielen.

Xenophon übergeht diese Episode ganz (vgl. die Stelle über Kritias und Alkibiades I 2,12-16), Diogenes erwähnt sie eher beiläufig und ohne Bezug zu dem späteren Prozeß: „In seinen Überzeugungen ließ er [Sokrates] sich nicht irremachen; er hielt sich zur Demokratie, wie ersichtlich ist aus dem Widerstande, den er dem Kritias und dessen Genossen entgegensetzte, als sie ihm den Befehl gaben, den Leon aus Salamis, einen reichen Mann, ihnen in die Hände zu liefern, um ihn zum Tode zu verurteilen“ (II 24). Am ausführlichsten steht sie in der Apologie (32a-e).

Wilamowitz stellt den Ungehorsam des Sokrates gegenüber Kritias in den Mittelpunkt: „Sokrates blieb in der Stadt, aber soweit kannte ihn Kritias, zu wissen, daß er die Gewalttaten nicht billigte und seine Meinung nicht zurückhielt. Er versuchte ihn zu kompromittieren, gab ihm also den Befehl, einen angesehenen Demokraten in Salamis zu verhaften. Sokrates gehorchte nicht; das hätte genügt, ihm selbst den Prozeß zu machen. Davor scheute Kritias doch zurück, aber zum Schweigen mußte er ihn bringen; das Gewissen durfte seine Stimme nicht mehr erheben; er selbst wird sich vor ihm gefürchtet haben. So erteilte er ihm den gemessenen Befehl, seine Unterhaltungen mit der Jugend einzustellen, angeblich, weil sie unter das neue Gesetz fielen, das den rhetorischen Unterricht verbot. Das mußte zum Äußersten führen“ (S. 90).

Doch die Zeit arbeitete für Sokrates: Kritias und Charmides fielen im Bürgerkrieg, der spartanische König Pausanias erlaubte die Einführung der Demokratie, Anytos nutzte die allgemeine Amnestie, um ein neues Leben anzufangen. Erst vier Jahre später hat er „die Verurteilung des Sokrates durchgesetzt“ (S. 90).

Zu Beginn von Kapitel 6 bringt Wilamowitz dann die Klage des Meletos mit den Unterschriften von Anytos und Lykon (S. 116) und distanziert sich von einer politischen Interpretation des Prozesses:

„Zu der Partei der gemäßigten Demokraten gehörte Anytos, der Ankläger des Sokrates; auch von Lykon ist nichts anderes anzunehmen. Die Radikalen sind erst einige Jahre später zur Herrschaft gelangt […]. Es ist also ausgeschlossen, daß politischer Fanatismus den Sokrates verfolgt hätte, weil er ein Feind der Demokratie wäre, der Verführer von Alkibiades und Kritias. Davon ist in Platons Apologie keine Spur. Erst der Sophist Polykrates hat diese Vorwürfe erhoben; wir werden später sehen, daß sie eigentlich gar nicht auf den toten Sokrates zielten“ (S. 118), sondern auf Platons Gorgias (S. 200 und 218).

2. Wie Sokrates die Jugend „verdarb“

Im Zentrum der Dialoge Platons über die Tugenden steht Sokrates. Er fragt, was Tugend (Protagoras, Menon), Tapferkeit (Laches), Frömmigkeit (Euthyphron) und Besonnenheit (Charmides) sind. Alkibiades II handelt vom rechten Beten, Symposion und zum Teil Phaidros von der Liebe, Lysis von der Freundschaft, Philebos von der Lust.

Das Besondere ist, daß die Unterredungen weitgehend ergebnislos bleiben und Sokrates stets aus einer überlegenen Position heraus argumentiert, so daß gar kein wirklicher Dialog vorliegt. Sein Gesprächsverhalten wirkt reichlich totalitär und destruktiv – es ist nachvollziehbar, daß sich Handwerker, Politiker, Redner und Dichter über Sokrates ärgerten und sich in ihrer Berufsehre gekränkt fühlten. Über weite Strecken degradiert Sokrates seine Gesprächspartner zu Jasagern, denen nichts übrig bleibt, als seine Sophismen abzunicken, weil sie ihm rhetorisch nicht gewachsen sind. Es ist auch bezeichnend, daß Platon in seinen Dialogen keine Gespräche des Sokrates mit Handwerkern, Dichtern und Staatsmännern bringt – im Laches fungieren Laches und Nikias als Feldherren, nicht als Staatsmänner (vgl. Martin: Sokrates 54f).

Wilamowitz betrachtet die frühen Dialoge des Platon als Satiren. „Wie Sokrates sich dazu stellte, wird keiner aus sich bestimmen wollen und irgendwelche Rücksicht auf die eigene Person ihm noch weniger zutrauen. Da Platon mehr als eine solche Schrift verfaßt hat, schließen wir, daß Sokrates mindestens nichts dagegen getan hat“ (S. 98).

Er bestreitet sogar die Ergebnislosigkeit dieser Dialoge: „Hinter allen Reden, hin und her, steht der Mann, dessen sittlicher Adel nicht mit dem zahlt, was er tut oder redet, sondern mit dem, was er ist. Darum glauben die Menschen an ihn: das Ende ist, daß er sich einen Schüler geworben hat. Und doch reden die Philosophen, es käme bei seinen Dialogen nichts heraus“ (S. 81).

Die Ironie (griech. eirōneia = Verstellung, Ironie, Spott, Scheinheiligkeit, Gebrauch von Vorwänden, Vorwand, Ausflucht, Ausrede) ist keine Tugend, sondern ein rhetorisches Laster, bei dem „Wortsinn und intendierte Bedeutung in Form eines Gegensatzes von dem, was gesagt wird, und dem, was gemeint wird, auseinandertreten. Ironische Rede bedeutet das Gegenteil dessen sagen, was man meint, aber so, daß der darin jeweils eingeschlossene Schein der Anerkennung als Schein durchschaubar ist. Die in diesem Verhältnis liegende Herabsetzung des Adressaten ironischer Argumente sowie das Moment einer Distanz schaffenden Intellektualität unterscheiden die Ironie vom Distanz überbrückenden und statt Herabsetzung und Verlegenheit befreiendes Lachen zu seinen Wirkungen zählenden Humor“ (Jürgen Mittelstraß, in: EPhW 2/295f).

„Die sokratische Ironie und die sokratische Aporie sind umstritten“ (Martin: Sokrates 127). In ihr „wird unter dem Anschein eigener Unwissenheit und unter Beschränkung auf fragende Hilfestellung […] die Unwissenheit des vermeintlich Wissenden zu Tage gefördert“ (Mittelstraß, in: EPhW 2/296).

Platon hat das Redeverhalten des Sokrates jedenfalls mit diesem Wort charakterisiert. So läßt er in der Politeia den Thrasymachos sagen: „Beim Herakles, da haben wir wieder die gewohnte Verstellung (Ironie) [eirōneia] des Sokrates“ (337a). Im Kratylos beklagt sich Hermogenes über Sokrates: „Und wie ich nun weiter frage und mich eifrig bemühe zu erfahren, was er eigentlich meine, gibt er mir nicht nur keine klare Antwort, sondern hänselt [eirōneuetai] mich auch noch mit seinem Versteckspiel“ (383b/384a). Alkibiades faßt den Sachverhalt im Symposion folgendermaßen zusammen: „Alle diese Güter [Schönheit, Reichtum, Ehre] hält er für wertlos und wir Menschen sind in seinen Augen nichts – merkt’s euch -, sein ganzes Leben aber ist ein fortwährendes ironisches Spiel der Verstellung [eirōneuomenos] und der Hänselei der Menschen“ (216e).

Sören Kierkegaard (1813-1855) charakterisiert die Ironie in seiner Dissertation „Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates“ ganz und gar negativ: „Sie ist ein göttlicher Wahnsinn, der gleich einem Tamerlan wütet, und keinen Stein auf dem andern läßt“ (S. 266). Er findet, „daß d a s g e s a m t e D a s e i n dem ironischen Subjekt fremd und dieses wiederum dem Dasein fremd geworden ist, daß das ironische Subjekt selber, indem die W i r k l i c h k e i t für es ihre Giltigkeit verloren hat, in gewissem Maße zu etwas Unwirklichem geworden ist“ (S. 263). Das gelte auch für Sokrates, der „das Griechentum vernichtete“ (S. 269). Er sei allerdings nach dem Urteil der Geschichte „weltgeschichtlich berechtigt gewesen“ (S. 276). Sein Tod sei nicht einmal tragisch, da er für ihn unwirklich gewesen sei. Insoweit habe sich das Gericht nur eingebildet, den Sokrates zu bestrafen – noch im Tod hat Sokrates die Richter getäuscht.

3. Hat Sokrates überhaupt gelebt?

Heutzutage ist es leider immer noch (oder wieder?) Mode, an der Historizität Jesu zu zweifeln, der wie Sokrates selbst nichts Schriftliches hinterlassen hat (vgl. die Bücher von Bergh van Eysinga, Doherty, Detering und Specht).

Von Sokrates wissen wir anhand von Philosophen (besonders von seinen Schülern, darunter Xenophon, Platon und Aristoteles), von zeitgenössischen Dichtern (darunter Aristophanes: „Die Wolken“) und anhand von bildlichen Darstellungen, bei denen fraglich ist, ob sie „einen Quellenwert haben“ (Martin: Sokrates 8).

Gottfried Martin unterscheidet drei Meinungen: 1. Sokrates war keine historische Persönlichkeit (ohne Beispiel) bzw. wir wissen nichts Genaues (Hermann Diels, Olof Gigon); 2. der platonische Sokrates sei historisch (Johannes Burnet, Alfred Edward Taylor); 3. der platonische Sokrates sei zum Teil historisch, zum Teil Sprachrohr Platons (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher). Martin schließt sich Schleiermacher an; im Hinblick auf die Statuen folgt er Gisela Richter, die sie für getreue Abbilder hält.

Hier ist noch ein Beleg für die von Martin nur genannte, aber nicht belegte Meinung, Sokrates sei keine historische Persönlichkeit gewesen. Wilamowitz erzählt eine Anekdote von August Böckh (1785-1867):

„In den Tagen, da es Mode war, die Personen zu verflüchtigen, in welchen man die Träger von überpersönlichen in der Geschichte wirkenden Kräfte erkannte, ist ein Student zu Boeckh gekommen und hat ihm seine Entdeckung vorgetragen, daß es mit Sokrates auch so stünde wie mit Homer und Hesiod und Aesop. Und da zu eben der Zeit die Namendeutung im Stile des platonischen Kratylos im Schwange ging, lieferte er den Beweis gar nicht übel. Sokrates, die Herrschaft [vgl. griech. kratein = herrschen] der gesunden Vernunft [vgl. griech. sōphrōn = vernünftig], ist der Sohn des Sophroniskos, der die Sophrosyne [= Besonnenheit] vertritt, wenn er auch erst ein kleiner Sophron ist, und der Hebamme Phainarete, die die Tugend [griech. aretē] zur Erscheinung bringt [griech. phainein]. Man kann hinzufügen, daß in dem Heimatdorfe Alopeke, Fuchsheim [vgl. griech. alōpēx = Fuchs], die Falschheit des Ironikers steckt“ (S. 67).

Wilamowitz kommentiert: „Es ist ein toller Einfall; aber er gibt zu denken“ (S. 67). Sein Gegenargument: Wäre Sokrates ein Phantasieprodukt, „würde er die Macht, uns zur Nachfolge zu treiben und zu stärken, kaum noch behaupten. Ereignis muß diese Menschenkraft geworden sein, damit wir an die Möglichkeit glauben, mit unsern Kräften Ähnliches zu erreichen“ (S. 67f). Dasselbe gilt für Jesus.

4. Taylor vs. Gigon

Alfred Edward Taylor (1869-1945) führt für seine Interpretation der Quellen als historisch relativ zuverlässige Dokumente folgende Gründe an:

  • Aristophanes (vor 445 – um 385 v. Chr.) karikiere in den „Wolken“ den jüngeren Sokrates. Der Sokrates, über den Platon (428/427 – 348/347 v. Chr.) und Xenophon (um 430 – um 354 bzw. nach 355 v. Chr.) berichten, sei entsprechend ihren Geburtsdaten 10 – 15 Jahre älter. Es bestehe zwischen den Darstellungen von Platon und Xenophon, der Sokrates nicht so gut wie Platon gekannt habe, nicht nur kein ernstlicher Widerspruch, sondern Xenophon bestätige Platon „auf bemerkenswerte Weise“ (S. 25; Übersetzung von mir).
  • Daß Sokrates in Platons späten Dialogen zurücktritt oder gar nicht mehr vorkommt, zeige, daß Platon ihn in seinen frühen und mittleren Dialogen porträtiert habe. Sein Auftritt im Philebos hänge mit dem Thema zusammen.
  • Die Apologie sei von Richtern und Publikum gelesen worden. Deshalb habe sie exakt sein müssen. Sonst hätte Platon sich blamiert. Dasselbe gelte für den Phaidon, der von den Augenzeugen der Hinrichtung des Sokrates gelesen worden sei. Taylor hält deshalb auch die Ideenlehre für sokratisch. Platon habe sie übernommen. Dafür sprächen auch das Daimonion des Sokrates sowie seine Zustände von Trance oder Ekstase.
  • Über den jungen Sokrates habe Platon über seine Verwandte viel erfahren können, die ihn gut kannten.

Olof Gigon (1912-1998) betrachtet Sokrates als Zeitgenossen oder Ursache des Übergangs von der Gegenstands- zur Existenzphilosophie (oder von der Naturphilosophie zur Ethik). Angesichts der Quellenlage und der Meinungen der Interpreten schreibt er: „Von nahezu jeder Aussage über Sokrates lässt sich mit guten Gründen auch das Gegenteil behaupten“ (S. 12). „Unter den Primärquellen […] findet sich keine einzige, die sachlich Zeugnis hat geben wollen davon, wie der geschichtliche Sokrates gelebt und gesprochen hat. […] Die Sokratesliteratur ist primär Selbstzeugnis der Sokratiker über sich selbst, über ihr philosophisches Denken und ihr dichterisches Können“ (S. 314).

Nur eines sei sicher: daß „ein Athener namens Sokrates, der Sohn des Sophroniskos, existiert hat“ (S. 14). Später merkt man dann, daß das doch nicht alles ist: Gigon wertet auch das Daimonion des Sokrates und sein (häßliches) Aussehen als historisch (S. 64). Zum Prozeß schreibt er immerhin eine halbe Seite, die er als „Tatsachen“ betrachtet (S. 69). Doch der Rest sei Dichtung. Da die Frage nach dem historischen Sokrates unbeantwortbar sei, bleibe nur die Beschäftigung mit den sokratischen Dichtern übrig. Das sieht dann praktisch so aus, daß Gigon die verschiedenen Versionen verschiedener Begebenheiten gegeneinanderhält.

Begründung:

  • Bei Xenophon handele es sich nicht um Erinnerungen, da deutlich zu erkennen sei, daß er vorliegende Texte bearbeitet habe.
  • Bei Platon handele es sich nicht um Erinnerungen, da er seine eigene Person nicht eingebracht, also die Beziehung zu Sokrates nicht thematisiert habe (Gegenbeispiel: Herodot, der etwa von seinen Begegnungen mit ägyptischen Priestern berichtet).
  • Die Gesprächspartner in den sokratischen Dialogen seien Typen, keine Individuen (Beispiele: Charmides und Kritias). Platon habe den Sokrates als Typus des wahren Philosophen im Gegensatz zu den Sophisten entworfen.
  • Platons Charakterisierung der Sophisten als eitel und unsachlich sei unhistorisch.
  • Platons Dialoge seien stilisiert, kein Abbild des Schulbetriebs.
  • Der sokratische Dialog sei die Gegenform zum sophistischen Traktat.
  • Die sokratische Literatur sei so uneinheitlich, daß man nicht einmal die Schülerschaft der Sokratiker ableiten könne.

Kritik von mir:

  • Daß Xenophon vorliegende Texte bearbeitet hat, muß nicht bedeuten, daß die mitgeteilten Inhalte nicht historisch sind.
  • Daß Platon seine Person nicht eingebracht hat, kann ein Ausdruck von Verehrung und Bescheidenheit sein. Xenophon hat seine eigene Person in die sokratischen Dialoge eingebracht, doch diese Tatsache wertet Gigon nicht als Indiz für Xenophons historiographischen Anspruch.
  • Da Charmides und Kritias Verwandte von Platon waren, ist nachvollziehbar, daß er nichts mitteilte, was die Öffentlichkeit nichts angeht. Sokrates kann durchaus der wahre Philosoph gewesen sein, als den Platon ihn darstellt.
  • Platon differenziert bei den Sophisten schon (Beispiele: Protagoras, Gorgias).
  • Das Gesprächsniveau beim Umgang mit Sokrates kann durchaus so hoch gewesen sein, wie es von Platon dargestellt wird. Umgekehrt zeigt das niedrigere Gesprächsniveau der von Xenophon wiedergegebenen Dialoge, daß Sokrates in der Lage war, sich auf seine Gesprächspartner einzustellen.
  • Die Gegenüberstellung von Dialog und Traktat besagt bezüglich der Wahrheit der mitgeteilten Inhalte überhaupt nichts.
  • Gerade die Vielfalt der sokratischen Literatur zeigt, daß Sokrates das Potential des einzelnen weckte und seine Schüler nicht zu Nachbetern dressierte.

Kurz: Ich sehe keinerlei Grund dafür, daran zu zweifeln, daß die Verfasser der sokratischen Texte etwas anderes beabsichtigten, als die historische Wahrheit über Sokrates mitzuteilen – so gut sie es eben konnten, so, wie sie ihn erlebt hatten bzw. entsprechend den Berichten und Texten, die ihnen vorlagen. Während mich Taylors Argumente überzeugt haben, kann ich die Auffassung Gigons in keiner Weise teilen. Es ist durchaus nachvollziehbar, daß Sokrates sich von den rein ethischen Anfängen zu mystischen Höhen entwickelt und je nach Gegenüber jedesmal einen ganz anderen Eindruck von sich selbst zurückgelassen hat.

Gigon selbst bringt noch ein Argument, das er leider nicht zugunsten der Historizität des von Platon Mitgeteilten wertet: Bei ihm sei „die Anzahl der festgestellten Anachronismen derart gering, dass weit eher die Frage sich stellt, ob nicht wir aus Unkenntnis der Tatsachen Dinge für Anachronismen halten, die es gar nicht sind. Von den vier Anachronismen, die das Handbuch von Überweg-Præchter anführt […], ist nur einer wirklich unbezweifelbar“ (S. 29f). Insgesamt meint er, daß Platon nicht viel „an historischen Tatsachen liegt“ (S. 245).

5. Über Rhetorik, Linguistik und Ästhetik

Mehrere seiner Dialoge hat Platon den mit der Sprache zusammenhängenden Themen gewidmet: der Rhetorik (Gorgias, zweiter Teil des Phaidros), der Sophistik und der Lüge (Euthydemos, Hippias I, Sophistes). Dabei meint er durchaus nicht alles ernst (vgl. etwa die seltsamen etymologischen Ableitungen in dem nach Platons erstem Lehrer benannten Dialog Kratylos).

Platon und Sokrates Philosophie Einführung Überblick

Im Hippias II geht es um das Schöne, im Ion um die Rhapsodenkunst. In der Politeia lehnt Platon die Dichtkunst überhaupt ab. Seine Begründung: Die Dichter würden falsche Dinge über die Götter erzählen (377d-378e). Das richtet sich natürlich vor allem gegen die Göttergeschichten in der griechischen Mythologie, die als Vorlage zahlreicher Werke der Literatur dienten.

6. Wie Platon als Politiker scheiterte

Im 7. Brief erzählt Platon, daß der Tod des Sokrates in ihm Bedenken erweckte, in den Staatsdienst zu treten. Auch die Schwierigkeit, Freunde und Mitstreiter zu finden, führt er an. Außerdem fürchtete er Sittenverfall und zunehmende Gesetzlosigkeit. Wegen der politischen Verwahrlosung der ihm bekannten Staaten zog er sich auf die Philosophie zurück.

Als Platon 388 v. Chr. als Tourist zum ersten Mal nach Syrakus kam, widerten ihn Völlerei und sexuelle Freizügigkeit an. Ihm war nicht so recht klar, daß sein Einfluß auf den jungen Dion, Schwager und Schwiegersohn von Dionysios I. (ca. 430-367 v. Chr.; vgl. die Biographien von Nepos und Plutarch), aus Sicht des Herrschers subversiv war. Platon stellte gegenüber Dionysios die Tugend über den Nutzen, was letzterer für ein Zeichen von Altersschwäche hielt. Platon bezeichnete ihn dafür als Tyrannen. Dionysios wollte ihn zuerst töten, ließ sich aber von Dion und Aristomenes davon abbringen und verkaufte ihn als Sklaven. Annikeris aus Kyrene kaufte Platon frei und ließ ihn nach Athen zurückkehren. Als Dion ihm das Geld ersetzen wollte, kaufte Annikeris dafür dem Platon den Akademiegarten, in dem er seine Philosophenschule begründete. Dionysios hatte ein schlechtes Gewissen und war in Sorge um seinen Ruf. Als er Platon bat, „ihn nicht durch nachteilige Äußerungen bloßzustellen“, antwortete Platon, „er habe nicht Zeit genug, um an den Dionysios zu denken“ (Diogenes Laertios III 21).

Der naive Dion meinte, er könne mit Hilfe Platons den Sohn des Dionysios, der sein Nachfolger wurde, zur Tugend bekehren und so das ganze Land glücklich machen. Deshalb reiste Platon 366/65 v. Chr. ein zweites Mal nach Syrakus, um dort seine Staatsutopie zu verwirklichen, doch er konnte nichts ausrichten: Dion wurde noch im selben Jahr mit der Begründung verbannt, er strebe nach der Herrschaft. Über Platon kursierte das Gerücht, er sei von Dionysios II. getötet worden. Doch dieser bat ihn zu bleiben. Platon witterte hinter dieser Bitte einen Befehl, denn „die Bitten der Tyrannen sind bekanntlich nur ein Schleier für Zwangsmaßregeln“ (329d). Dionysios wurde gegenüber Platon „immer herzlicher“, begehrte aber Schmeicheleien und (aus Eifersucht) den Vorrang vor Dion (330a). Doch sein Schüler wollte er nicht werden.

361/60 v. Chr. fuhr Platon ein drittes Mal nach Syrakus, um Dionysios II. mit Dion zu versöhnen. Doch er scheiterte und „kehrte […] unverrichteter Sache nach der Heimat zurück“ (Diogenes Laertios III 23), um zu unterrichten und zu schreiben. Seine politischen Werke handeln von der Tüchtigkeit des Staatsmanns (Alkibiades I), von der Gerechtigkeit und dem idealen Staat (Politeia), vom Staatsmann (Politikos) und von den Gesetzen (Nomoi).

7. Erkenntnistheorie, Ontologie und Metaphysik

Die einschlägigen Dialoge sind Theaitetos (über Erkenntnis) und Parmenides (über das Sein). Metaphysische Themen finden wir im Phaidros (Himmelsreise der Seele 246a-250d), in der Politeia (Ideenlehre 504a-518a; Nahtoderfahrung 614b-621d), im Menon (Reinkarnation 81a-d), im Symposion (Aufstieg zum Schönen in Stufen, 199c-212a), im Phaidon (Wanderung der Seele in die Unterwelt, 107c-115a) und im Gorgias (Mythos vom Totengericht, 523a-527e).

Die beste Zusammenfassung der Ideenlehre gibt Aristoteles (384-322 v. Chr.) in seiner Metaphysik:

Platon habe mit Kratylos und Heraklit angenommen, „daß alles Sinnliche in beständigem Flusse begriffen sei, und daß es keine Wissenschaft davon gebe […]. Und da sich nun Sokrates mit den ethischen Gegenständen beschäftigte und gar nicht mit der gesamten Natur, in jenen aber das Allgemeine suchte und sein Nachdenken zuerst auf Definitionen richtete, brachte dies den Platon, der seine Ansichten aufnahm, zu der Annahme, daß die Definition auf etwas von dem Sinnlichen Verschiedenes gehe […]. Was nun von dem Seienden solcher Art war, nannte er Ideen; das Sinnliche aber sei neben diesem und werde nach ihm benannt; denn durch Teilhabe an den Ideen existiere die Vielheit des den Ideen Gleichnamigen“ (987a29-987b10).

Es lohnt sich, die Stelle nachzuschlagen und das ganze 6. Kapitel des 1. Buchs zu lesen (bis 988a17). Für Interessierte: vgl. Buch XIII Kap. 4f (1078b7-1080a11) mit der Kritik des Aristoteles an der Ideenlehre und Kap. 9 ab (f) (1086a21-1086b13).

8. Kosmologie und Geschichte

Die einschlägigen Dialoge sind der Timaios (über die Entstehung der Welt) und der Kritias mit der Sage von Atlantis. Ansonsten kann man sich überlegen, ob man dem Mythos von der Erschaffung und Erziehung des Menschen im Protagoras (320c-322c) historischen Gehalt beimessen will.

Sogar Platons Höhlengleichnis wurde mit guten Gründen von einigen Autoren (John Henry Wright, Ernst Hoffmann, John Ferguson, Günter Ralfs, Luce Irigaray, W. K. C. Guthrie, Hans Blumenberg, Jacob Burckhardt, John A. Stewart, Heinrich Scholz) für den Reflex einer tatsächlichen Begebenheit gehalten.

9. Platons ungeschriebene Lehre

Thomas A. Szlezák macht anhand zahlreicher Stellen bei Platon auf „das Motiv des Verbergens und der absichtlichen Zurückhaltung von Wissen“ aufmerksam (S. 22). Er unterscheidet so auf der einen Seite den Esoteriker Sokrates, auf der andern die Sophisten als „Antiesoteriker“ (S. 27). Die esoterische Auslegung der Dialoge von Platon wurde „besonders durch Léon Robin, Paul Wilpert, Hans Krämer und Konrad Gaiser vertreten“ (S. 45).

Dabei sei die Unterscheidung Esoterik – Exoterik an sich irreführend. Man müsse eher von zwei Arten der Esoterik sprechen:

1. Schleiermacher und seine Schüler meinen, Platon habe alles niedergeschrieben, doch „das Wesentliche“ sei „verhüllt durch die Techniken der indirekten Mitteilung“ (S. 45).

2. Besonders Hans Krämer und Konrad Gaiser rechnen „mit der historischen Wirklichkeit einer schriftlich nie festgehaltenen Prinzipienlehre […], auf die sich Aristoteles […] bezieht, wenn er Platon in der Metaphysik kritisiert“ (S. 46).

Die zweite Art der esoterischen Auslegung kann sich vor allem auf folgende Stellen bei Platon stützen: „die Untersuchung über die Schicklichkeit oder Unschicklichkeit des Schriftgebrauchs“ im Phaidros (274b-278c) und die entsprechenden Hinweise im 7. Brief:

  • Platon hat dem „Genußmenschen“ Dionysios nicht alles vorgetragen, um festzustellen, ob er zur Philosophie berufen ist oder nicht. Während der Berufene sein Leben fortan der Philosophie widme, meine der Unberufene, schon alles empfangen zu haben (340b-341b).
  • „Wenigstens gibt es von mir selbst keine Schrift darüber und wird auch keine geben. Denn es steht damit nicht so, wie mit anderen Lehrgegenständen: es läßt sich nicht in Worte fassen, sondern aus lange Zeit fortgesetztem, dem Gegenstande gewidmetem wissenschaftlichen Verkehr und aus entsprechender Lebensgemeinschaft tritt es plötzlich in der Seele hervor wie ein durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht und nährt sich dann durch sich selbst“ (341cd).
  • „Daher wird kein Vernünftiger es jemals wagen das von ihm mit dem Geiste Erfaßte diesen unzulänglichen sprachlichen Mitteln anzuvertrauen und noch dazu, wenn dieselben ein für allemal festgelegt sind, wie es bei dem in Buchstaben Niedergeschriebenen der Fall ist“ (343a).
  • „Daher ist denn jeder ernsthafte Mann weit entfernt, durch Veröffentlichung schriftlicher Auslassungen über hochernste Dinge diese der Streitsucht und den Zweifeln der Menschen preiszugeben“ (344c).

Bleibt die Frage übrig, was denn Platon nicht niedergeschrieben hat. Themenkandidaten sind die konkrete Schau der Ideen (als Phänomenologie) und gezielte Reinkarnationshypothesen (nach dem Vorbild des Pythagoras; vgl. Iamblichos Kap. 63 und 134). Denn ansonsten hat sich Platon sehr freimütig geäußert (vgl. meine Zusammenstellung metaphysischer Themen im 6. Kapitel dieses Aufsatzes).

Daß die Prinzipienlehre damit gemeint ist, ist schwer nachvollziehbar, da sie wenigstens in der Darstellung des Aristoteles ganz und gar nicht esoterisch wirkt und viele Vorgänger bei den Vorsokratikern hat (vgl. im Register zum 2. Band der Metaphysik die Stellen über das Eine bzw. Eins, das Gute und die Prinzipien).

Ein Beispiel: „Von denen aber, welche behaupten, daß es unbewegte Wesen gibt [tas akinētous ousias], erklären einige, das Eine-an-sich [auto to hen] sei das Gute-an-sich [to agathon auto]; als Wesen desselben jedoch sahen sie vorzugsweise das Eine [to hen] an“ (1091b13-15).

10. Unechtes

Die folgenden Dialoge erwähne ich nur der Vollständigkeit halber. Sie sind sicher nicht von Platon und fallen stilistisch und inhaltlich weit hinter den anderen unter seinem Namen überlieferten Werken zurück (von denen auch nicht alle für echt gehalten werden – die Meinungen über die Reihenfolge der Entstehung und die Echtheit differieren erheblich).

Die Themen im Überblick:

  • Hipparchos: Was ist Gewinnsucht?
  • Anterastai: Was ist Philosophie?
  • Theages: Über die Erziehung
  • Kleitophon: Über Sokrates als Ermunterer zur Philosophie
  • Minos: Über das Gesetz
  • Epinomis: Über das Wesen der Weisheit
  • Horoi: Definitionen
  • Peri dikaiou: Über die Gerechtigkeit
  • Peri aretes: Über die Tugend
  • Demodokos: Über das Beraten, Urteilen, Borgen und Glauben
  • Sisyphos: Über das Beraten
  • Eryxias: Über den Reichtum
  • Axiochos: Über den Tod und die Unsterblichkeit der Seele

© Gunthard Rudolf Heller, 2015

Literaturverzeichnis

(Bei Zitaten aus Nachschlagewerken schreibe ich die Abkürzungen in der Regel aus.)

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Gunthard Heller