Friedrich Wilhelm Nietzsches Philosophie im Überblick

Friedrich Nietzsches (1844-1900) Werke sind einfach zu lesen. Man braucht dazu keine philosophische Vorbildung. Von daher kann eine Einführung nur den Sinn haben, zur Lektüre anzuregen. Zu erklären gibt es nichts für den, der alles liest – erst in manchen Werken der Sekundärliteratur tauchen die Mißverständnisse durch Einseitigkeiten in der Betrachtung auf.

Friedrich Wilhelm Nietzsche Philosophie EinführungDaraus,
daß Nietzsche gegen Ende seines Lebens geisteskrank wurde, darf
man keine Rückschlüsse auf seine Philosophie ziehen.
Vielleicht handelte es sich um eine Spätfolge der Syphilis, die
er sich in jungen Jahren zugezogen hatte, vielleicht um eine Folge
seines Medikamentenmißbrauchs – was kann man in der
Medizin schon „beweisen“!

Auch
daraus, daß Nietzsche von den Nationalsozialisten vereinnahmt
wurde, darf man keine Rückschlüsse auf seine Philosophie
ziehen. Die Nationalsozialisten beriefen sich jedenfalls mit größerem
Recht auf Luthers Antisemitismus als auf Nietzsches angebliche
Herrenmoral.

Warum
sollte man Nietzsche überhaupt lesen? Ganz einfach – weil
man durch die Lektüre seiner Werke einen Menschen kennenlernt,
der kompromißlos nach der Wahrheit suchte und dabei das Ziel
verfolgte, das Leid auf der Erde zu lindern.

1. Sekundärliteratur

Das
beste Buch über Nietzsche hat Walter
Kaufmann
geschrieben. Es handelt sich bei „Nietzsche.
Philosoph – Psychologe – Antichrist“ um „eine
umfassende Darstellung von Nietzsches Denken“ (S. XIII). Wer Nietzsches Werk
bereits kennt, kann sich hier Satz für Satz bestätigt
fühlen – es gibt keine Diskrepanz. Wer Vorurteile
gegenüber Nietzsche hat, kann sie hier abbauen. Wer noch nichts
weiß, kann hier Appetit bekommen, alles zu lesen.

Drei
Klassiker der Philosophiegeschichtsschreibung über Nietzsche
stammen von Rudolf Steiner, Karl Jaspers und Martin Heidegger. Alle drei haben ihre
Tücken. Deshalb muß man darauf achten, daß man sich
von ihnen nicht den Kopf verdrehen läßt.

„Friedrich
Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit“ (1895) von Rudolf Steiner berührt einen
schon in der Vorrede merkwürdig: Da schreibt er, er sei „unabhängig“
von Nietzsche und „auf anderen Wegen“ als Nietzsche „zu
Anschauungen gekommen, die im Einklang stehen mit dem, was Nietzsche
in seinen Schriften: ‚Zarathustra‘, ‚Jenseits von Gut und Böse‘,
‚Genealogie der Moral‘ und ‚Götzen-Dämmerung‘ ausgesprochen
hat.“ Schon in seiner „Erkenntnistheorie der Goetheschen
Weltanschauung“ (1886) komme „dieselbe Gesinnung zum
Ausdruck wie in den genannten Werken Nietzsches“ (S. 9).

Doch
es kommt noch doller: „Dies ist der Grund, warum ich mich
gedrängt fühlte, ein Bild von dem Vorstellungs- und
Empfindungsleben Nietzsches zu zeichnen“ (S. 9). Dieses Bild
macht er fest an den genannten Werken Nietzsches, die er für den
Gipfel seines Schaffens hält. Alles davor sei nur der Weg dahin
gewesen, der uns Nietzsche als Sucher zeige, der unablässig in
die Höhe strebe.

Nietzsches
völlig unmystischer Übermensch sei das eigentliche Ziel
seines Wirkens, seine Charakterisierung macht sich Steiner zur
Hauptaufgabe. Im übrigen habe er sein Buch über Nietzsche aus der Stimmung heraus geschrieben,
die bei seinen Studien im Naumburger Nietzsche-Archiv entstanden sei.

Karl Jaspers will
in „Nietzsche:
Einführung in das Verständnis seines Philosophierens“ auf
der Basis von Vorlesungen 1934/35 einen
Weg vom bloßen Lesen „zum Nietzsche-Studium“ zeigen.
Darunter versteht er die „Aneignung im Umgang mit dem Ganzen von
Denkerfahrungen, das Nietzsche in unserem Zeitalter war: ein
Schicksal des Menschseins selbst, das an die Grenzen und Ursprünge
drängte“. Das Studium ist Jaspers „das innere Tun […],
das das Wesen des rechten Verstehens ist.“ Dieses innere Tun
will Jaspers „fördern“; er will den Leser „zu
wirklichem Eingehen bringen“ (S. 5).

Jaspers
hat den Anspruch, die Mißverständnisse der bisherigen
Interpreten auszuräumen und Nietzsches eigentliche Philosophie
vor seinen eigenen späten Notizen zu schützen, in denen er
sich dem Wahnsinn genähert habe. Außerdem will er „gegen
die Nationalsozialisten die Denkwelt dessen aufrufen, den sie zu
ihrem Philosophen erklärt hatten“
(S. 6).

Was
Jaspers alles weggelassen hat:

  • Nietzsches
    Selbstverständnis als Emigrant;
  • Nietzsches positive
    Äußerungen über die Juden: sie seien „unwesentlich“
    für Jaspers‘ Absichten;
  • eine
    vernichtende Zitatsammlung von Nietzsches Irrtümern (aus
    Achtung vor dem Philosophen):
    „Wer Nietzsche versteht, wie es dieses Buch lehren möchte,
    für den verschwinden jene Abgleitungen in nichts“ (S. 6),
    wer sie ernstnehme, sei zur Lektüre von Nietzsches Werken weder
    reif noch berechtigt.

Die
beiden Bände „Nietzsche“ von Martin Heidegger enthalten
Vorlesungen (1936-40) und Abhandlungen (1940-46). Er
will folgendes: „Unser Denken auf die Sache eingehen lassen,
jenes auf diese vorbereiten“. In den Vorlesungen will Heidegger
„die Aus-einandersetzung anbahnen“, in den Abhandlungen den
Weg der Vorlesungen ausbauen. Er kommt immer wieder auf dieselben
Texte Nietzsches zurück, mit dem Ziel, „wenige Gedanken,
die das Ganze bestimmen, immer neu zu durchdenken“ (I 9). Gemeint
ist hauptsächlich: Nietzsches Gedanken über den „Willen
zur Macht“. Daneben
will Heidegger „einen Blick auf den Denkweg verschaffen, den ich
seit 1930 bis zum ‚Brief über den Humanismus‘ (1947) gegangen
bin (I 10).

Ebenfalls
mit Vorsicht zu genießen sind die Bücher von Bernhard
H. F. Taureck,
der
Nietzsche des Faschismus bezichtigte, und Joachim Köhler, der
Nietzsche für homosexuell hielt.

Die
Schriften von Fischer-Dieskau, Frenzel, Goch, Montinari,
Ross
und Weischedel sind eine dankbare Lektüre.

***

Ich bespreche Nietzsches Werke in folgender
Reihenfolge: Nachgelassene
Fragmente, frühe
Schriften, Briefe,
Werke in der Reihenfolge, wie sie
in der Kritischen Studienausgabe (hg. v. Giorgio Colli und Mazzino
Montinari) abgedruckt sind. Dazwischen
habe ich einen Exkurs über Nietzsche und den Buddhismus
eingeschoben.

1. Nachgelassene Fragmente

Es
handelt sich hier um Notizen, die zum Teil in überarbeiteter
Form in Nietzsches veröffentlichte Werke eingegangen sind, zum
Teil unveröffentlicht blieben. „Der Wille zur Macht“,
eine Kompilation nachgelassener Notizen in vier Büchern, die
Heinrich Köselitz und Nietzsches Schwester Elisabeth-Förster
Nietzsche zusammenschusterten, sollte man – wenn überhaupt
– erst lesen, wenn man alle nachgelassenen Fragmente kennt.
Sonst wird man davon verdorben.

Köselitz
hielt sich „manchmal für einen besseren Philosophen und
Schriftsteller als Nietzsche, und gar die Schwester hatte sich von
Rudolf Steiner in der Philosophie unterweisen lassen …“,
bemerkt Mazzino Montinari im Nachlaß-Kapitel von „Nietzsche
lesen“ (S. 107), bevor er deren „Machwerk“ (S. 104)
einer philologischen Untersuchung unterzieht. Das Ergebnis ist
niederschmetternd:

  • 104 von 374
    Fragmenten zum Thema wurden weggelassen.
  • Von den
    verbleibenden 270 Fragmenten wurden 137 „unvollständig
    bzw. mit willkürlichen Textänderungen […]
    wiedergegeben“.
  • Otto Weiss hat 49
    davon in Anmerkungen verbessert, doch in die Ausgabe des
    Kröner-Verlags sind diese Verbesserungen nicht aufgenommen
    worden. 36 Fragmente hat Weiss nur „mangelhaft […]
    verbessert“, 52 Fragmente hat er fehlerhaft stehengelassen.
  • Nietzsche hat seine
    Fragmente zum Teil selbst auf die von ihm konzipierten Buchkapitel
    verteilt. Diese Verteilung wurde „in mindestens 64 Fällen“
    von den Kompilatoren nicht beibehalten.
  • Nietzsche „scheint
    einer Fassung in 8 bis 12 Kapiteln den Vorzug zu geben gegenüber
    der Gliederung eines Werkes in 4 Bücher.“ Bei einem dieser
    Pläne in 11 Kapiteln ist dem Willen zur Macht nur ein einziges
    Kapitel gewidmet.
  • Nietzsche wollte
    seinen Entwurf nicht veröffentlichen.
  • Die Fragmente
    enthalten Exzerpte aus Werken von Baudelaire, Tolstoi, den Gebrüdern
    Goncourt, Benjamin Constant, Dostojewskij, Julius Wellhausen und
    Renan (S. 107-110).

Noch
ein Lesetip: Nietzsche stellte den Willen zur Macht als Hypothese zur
Erklärung des Daseins auf, lehnte ihn aber als Lehre ab. Jaspers
formulierte das so: „Keine Lehre kommt bei Nietzsche vor, der er
sich unterwirft. Er behält eine jede in der Hand und hält
ihr faktisch das Gleichgewicht durch andere Lehren. Die Lehre vom
Willen zur Macht ist nicht Nietzsches abschließende Metaphysik,
sondern ein Versuch innerhalb des Ganzen seiner Seinsergründung“
(S. 318; vgl. a. S. 132, 135, 137).

Friedrich Wilhelm Nietzsche Philosphie Einführung 2Während
man die veröffentlichten Werke eines Autors so nehmen kann, wie
sie sind, ist bei nicht veröffentlichten Notizen Vorsicht
geboten: Nicht alles, was einem Autor durch den Kopf geht, ist das,
was ihm am Herzen liegt oder das, was er eigentlich sagen will, auch
wenn er es auf einem Zettel notiert hat.

Am
wichtigsten sind bei einem solchen Nachlaß diejenigen Notizen,
in denen ein Autor sagt, was er über sich selbst denkt und was
er will. Bei Nietzsche sind das folgende Sätze aus den Jahren
1882/83:

„Ich
habe von allen Europäern, die leben und gelebt haben, die umfänglichste Seele: […]
ich könnte der Buddha Europas werden: was freilich ein
Gegenstück zum indischen wäre“ (W 10/109). „‚Der Erwachte‘ bin ich: und ihr – kaum seid ihr geboren,
so fangt ihr auch schon an zu sterben“ (W 10/212).

Zur
Notiz des Namens „Metteyya“ aus dem Jahr 1882 (W 10/43)
zitieren die Herausgeber Colli und Montinari im Kommentarband eine
Stelle aus Hermann Oldenberg: Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine
Gemeinde (Berlin 1897, S. 162, Anm. 1). Dieses Buch stand in der
Ausgabe von 1881 in Nietzsches Bibliothek. Die Stelle lautet:

„Bei
Gelegenheit einer Prophezeiung Buddha’s über Metteyya,
den nächsten Buddha, welcher in ferner Zukunft auf Erden
erscheinen wird, heißt es: ‚Er wird der Führer einer
Jüngerschaar von Hunderttausenden sein, wie ich jetzt der Führer
einer Jüngerschaar von Hunderten bin‘ (Cakkavattisuttanta)“
(W 14/665).

Buddhas
Ziel war die Überwindung des Leidens. Man findet es in den vier
edlen Wahrheiten, dem ältesten und zentralsten Lehrstück
des Buddhismus, das Buddhas Lehre vermutlich am authentischsten
enthält. Sie lauten:

„1.
Wahrheit vom Leiden […].

2. Wahrheit von der Leidensentstehung
[…].

3. Wahrheit von der Aufhebung der Ursache des Leidens
[…].

4. Wahrheit des Pfades, der zur Aufhebung der
Leidensursache führt: Das ist der Hohe Achtfache Pfad“
(Notz 501f).

Von
Metteyya (Pāli) oder Maitreya (Sanskrit, v. maitri =
freundlich, liebevoll) heißt es in der Hami-Version der
Maitrisimit:

„Wegen
seines barmherzigen Sinnes war sein Herz um des Leidens aller
Lebewesen willen betrübt. Er beeilte sich, mit seinem
freundlichen Herzen allen guten Nutzen und Vorteil zu bringen. Denn
zu jener Zeit vergaß er nicht seine freundlichen Gedanken und
gab sie nicht auf. Deshalb erhielt er den Namen ‚Maitreya‘
(‚freundlich‘). Er wurde zum Freund aller“ (zit. n. Shimin/Klimkeit I 73; da der uigurische Text
zum Teil zerstört ist, zum Teil wegen
Defektiv-Schreibung ergänzt werden mußte, enthält die
deutsche Übersetzung neben den Versangaben und Anmerkungszahlen
zahlreiche Einfügungen in eckigen und runden Klammern, die ich
um der besseren Lesbarkeit willen hier weggelassen habe).

Nietzsche
erfand mit dem Zarathustra seine eigene Erlöserfigur (s.u.), bei
der unklar ist, inwieweit er sich mit ihr identifizierte. Ihn läßt
er im ersten Teil (1883) sagen: „Nicht den Nächsten lehre
ich euch, sondern den Freund“ (W 2/78; der zweite Teil erschien
ebenfalls 1883, der dritte 1884, der vierte 1885).

Jedenfalls
hat auch bei den folgenden nachgelassenen Notizen aus den Jahren
1882-86 der Buddhismus bzw. Maitreya Pate gestanden:

„Ich
möchte der Welt ihren herzbrechenden Charakter nehmen“ (W
10/117). „Das tiefe Wohlwollen gegen alle Dinge. Es kostet mich
eine Komödie, auf Menschen, die ich kenne, böse zu sein:
vorausgesetzt, daß ich nicht krank bin“ (W 11/256).
„Wohlwollen auf erster Stufe: nicht-wehethunwollen“ (W
11/288). „Ich habe den heiligen Namen der Liebe nie entweiht“
(W 12/58).

Alle
anderen Äußerungen
von Nietzsche kann
man entsprechend als Mittel zur Verwirklichung seines Ziels,
nämlich der Überwindung des Leidens, betrachten. Dazu
gehört vor allem seine Kritik

  • am Bildungswesen,
  • an einem falsch
    verstandenen Christentum,
  • an einer verderbten
    Moral,
  • an
    einer falschen Demokratie,
  • an einer verlogenen
    Politik,
  • an sozialistischer
    Gleichmacherei und Schreckensherrschaft,
  • an
    machtversessenen Frauen (da
    ist wohl vor allem seine Schwester Elisabeth gemeint, die während
    einiger Wochen in Bayreuth womöglich von
    der Antisemitin Cosima Wagner das Herrschen gelernt hat und
    Nietzsche mit ihren Intrigen das Leben schwer machte; vgl.
    W 13/347: Seit Pyrrho „fürchteten sich am Allermeisten die
    Philosophen vor der Schwester
    – die Schwester! Schwester! ’s klingt so fürchterlich!“),
  • am
    Intellektualismus,
  • am
    Pessimismus – kurz: an so gut wie allem. Deshalb bekam er das
    Epitheton „Der Philosoph mit dem Hammer“ (vgl. Störig
    373ff).

Dazu
eine Stelle aus dem Nachlaß: „Der Hammer: als die Lehre,
welche die Entscheidung herbeiführt“ (W 12/120). Eine ausführliche Anleitung
gibt Nietzsche in „Götzendämmerung oder wie man mit
dem Hammer philosophirt“ (W 6/55-161). Es gibt zu diesem Titel
eine alternative Version: „Götzen-Hammer. Oder Heiterkeiten eines
Psychologen“. Von dem Untertitel dieser
Version gibt es noch folgende
Varianten: „Oder: wie ein Psycholog Fragen stellt“ und „Müssiggang eines Psychologen“ (W 13/586).

Was
diese nachgelassenen Fragmente vor Nietzsches veröffentlichten
Werken auszeichnet, ist ihre Ursprünglichkeit. Daß
Nietzsche seinen Einfällen vor der Veröffentlichung einen
literarischen Schliff gab, geriet seinen Gedanken nicht immer zum
Vorteil: Manches in seinen Werken wirkt oberlehrerhaft,
besserwisserisch, nur gesagt aus Freude an der gekonnten Formulierung (vgl. dazu das Beispiel im
nächsten Kapitel: W
3/467 und W
9/626).

2. Nietzsche und der
Buddhismus

Der
Buddhismus spielt eine große Rolle bei Schopenhauer,
Schopenhauer spielt eine große Rolle bei Nietzsche. In
den Registern zu Nietzsches frühen Schriften taucht der Name „Buddha“
nicht auf.

Seinen
Freund Erwin Rohde redete Nietzsche in seinem Brief vom 3. April 1868
mit „heilger
Buddha“
an – oder sollte die Stelle nicht als Anrede, sondern ähnlich
wie „bei
Gott“ zu verstehen
sein? Doch in diesem Fall würde man ein zusätzliches Komma
nach dem ersten Wort erwarten. Wie auch immer, die Stelle lautet so:
„Aber heilger Buddha, Du verlangst nun Kritik von mir“ (B
2/262).

Am
3. Januar 1889 schrieb Nietzsche aus Turin an Cosima Wagner: „Es
ist ein Vorurtheil, daß ich ein Mensch bin. Aber ich habe schon
oft unter den Menschen gelebt und kenne alles, was Menschen erleben
können, vom Niedrigsten bis zum Höchsten. Ich bin unter
Indern Buddha, in Griechenland Dionysos gewesen, – Alexander und
Caesar sind meine Inkarnationen, insgleichen der Dichter des
Shakespeare Lord Bakon. Zuletzt war ich noch Voltaire und Napoleon,
vielleicht auch Richard Wagner … dies Mal aber komme ich als
der siegreiche Dionysos, der die Erde zu einem Festtag machen wird …
Nicht daß ich viel Zeit hätte … die Himmel freuen
sich, daß ich da bin … Ich habe auch am Kreuze gehangen
…“ (B 8/572f).

Nietzsche
hat diesen Brief während seines geistigen Zusammenbruchs
geschrieben. Seine Identifikationen sind wohl am ehesten als
gefühlsmäßige Wesensverwandtschaften zu
interpretieren, nicht als ernsthafte Inkarnationshypothesen. Immerhin
taucht Buddha hier an erster Stelle auf.

Richard
Oehler listet in seinem Nietzsche-Register eine ganze Reihe von
Stellen über den Buddhismus mit Zusammenfassungen auf, die
zeigen, daß Nietzsche dieser Religion einerseits kritisch
gegenüberstand, sie andererseits aber auch schätzte und in
ihr Wesenszüge fand, die er in seine Philosophie einbaute.

Die
folgende Zitatsammlung beruht auf dem Gesamtregister der Kritischen
Studienausgabe (in Bd. 15).

Aus
„Menschliches, Allzumenschliches“: „Die religiös
strengen Menschen, welche gegen sich selber unerbittliche Richter
sind, haben zugleich am meisten Uebles der Menschheit überhaupt
nachgesagt: ein Heiliger, welcher sich die Sünden und den
Anderen die Tugenden vorbehält, hat nie gelebt: ebensowenig wie
jener, welcher nach Buddha’s Vorschrift sein Gutes vor den Leuten
verbirgt und ihnen sein Böses allein sehen lässt“ (W
2/344; vgl. a. W 3/325, W
8/14).

In
der „Morgenröthe“ vergleicht
Nietzsche die religiöse Entwicklung der Europäer mit der
der Inder. Er findet, daß die Europäer „noch nicht
die freisinnige Naivität der alten Brahmanen erreicht“
haben. Die Inder hätten die Einstellung der Brahmanen mit der
Abschaffung der Götter überwunden. Danach sei Buddha als
„Lehrer der Religion
der Selbsterlösung

aufgetreten und habe damit auch noch das Priestertum abgeschafft. Was
kommt danach?, fragt Nietzsche weiter, will aber nicht herumraten.
Stattdessen appelliert er an die Europäer, erst einmal das
nachzuholen, was die Inder schon hinter sich haben (W 3/87; vgl.
a. W 5/409).

Aus
der „Fröhlichen Wissenschaft“ (1882):
„Nachdem Buddha todt war, zeigte man noch Jahrhunderte lang
seinen Schatten in einer Höhle, – einen ungeheuren schauerlichen
Schatten. Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird
es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man
seinen Schatten zeigt.- Und wir – wir müssen auch noch
seinen Schatten besiegen!“ (W 3/467)

In
der ursprünglichen Fassung (vom Herbst 1881) lautete die Stelle
folgendermaßen: „Überall wo verehrt, bewundert,
beglückt, gefürchtet, gehofft, geahnt wird, steckt noch der
Gott, den wir todt gesagt haben – er schleicht sich allerwegen
herum und will nur nicht erkannt und bei Namen genannt sein. Da
nämlich erlischt er
wie Buddha’s Schatten in der Höhle – er lebt fort unter
der seltsamen und neuen Bedingung, daß man nicht
mehr an ihn glaubt.
Aber
ein Gespenst ist er geworden! Freilich!“ (W
9/626)

„Buddha sagt:
’schmeichle deinem Wohlthäter nicht!‘ Man spreche diesen Spruch
nach in einer christlichen Kirche: – er reinigt sofort die Luft von
allem Christlichen“ (W 3/489).

„So
viel Misstrauen, so viel Philosophie. […]
Sie hat ihren letzten Ausdruck im modernen Pessimismus gehabt, einen
älteren, stärkeren in der Lehre des Buddha; aber auch das
Christenthum enthält sie“ (W 3/580).

„Buddha
insgleichen fand jene Art Menschen vor, und zwar zerstreut unter alle
Stände und gesellschaftliche Stufen seines Volks, welche aus
Trägheit gut und gütig (vor Allem inoffensiv) sind, die,
ebenfalls aus Trägheit, abstinent, beinahe bedürfnisslos
leben: er verstand, wie eine solche Art Menschen mit
Unvermeidlichkeit, mit der ganzen vis inertiae, in einen Glauben
hineinrollen müsse, der die Wiederkehr der irdischen Mühsal
(das heisst der Arbeit, des Handelns überhaupt) zu verhüten verspricht,
– dies ‚Verstehen‘ war sein Genie“ (W 3/589f).

Aus „Jenseits
von Gut und Böse“: „Wer, gleich mir, mit irgend einer
räthselhaften Begierde sich lange darum bemüht hat, den
Pessimismus in die Tiefe zu denken […]; wer wirklich einmal
mit einem asiatischen und überasiatischen Auge in die
weltverneinendste aller möglichen Denkweisen hinein und hinunter
geblickt hat – jenseits von Gut und Böse, und nicht mehr,
wie Buddha und Schopenhauer, im Bann und Wahne der Moral -, der hat
vielleicht ebendamit, ohne dass er es eigentlich wollte, sich die
Augen für das umgekehrte Ideal aufgemacht: für das Ideal
des übermüthigsten lebendigsten und weltbejahendsten
Menschen“ (W 5/74f).

Aus
„Zur Genealogie der Moral“: „Jeder
Philosoph würde sprechen, wie einst Buddha sprach, als ihm die
Geburt eines Sohnes gemeldet wurde: ‚Râhula ist mir geboren,
eine Fessel ist mir geschmiedet‘ (Râhula bedeutet hier ‚ein
kleiner Dämon‘)“ (W 5/351).

Aus
„Der Antichrist“: „Mit meiner Verurtheilung des
Christenthums möchte ich kein Unrecht gegen eine verwandte
Religion begangen haben, die der Zahl der Bekenner nach sogar
überwiegt, gegen den Buddhismus. Beide
gehören als nihilistische Religionen zusammen – sie sind
décadence-Religionen -, beide sind von einander in der
merkwürdigsten Weise getrennt. […] Der Buddhismus ist
hundert Mal realistischer als das Christenthum, – er hat die
Erbschaft des objektiven und kühlen Probleme-Stellens im Leibe,
er kommt nach einer
Hunderte von Jahren dauernden philosophischen Bewegung, der Begriff
‚Gott‘ ist bereits abgethan, als er kommt. Der Buddhismus ist die
einzige eigentlich positivistische Religion,
die uns die Geschichte zeigt, auch noch in seiner Erkenntnisstheorie
(einem strengen Phänomenalismus -), er sagt nicht mehr ‚Kampf
gegen Sünde‚,
sondern, ganz der Wirklichkeit das Recht gebend, ‚Kampf gegen das Leiden‚.
Er hat – dies unterscheidet ihn tief vom Christenthum –
die Selbst-Betrügerei der Moral-Begriffe bereits hinter sich, –
er steht, in meiner Sprache geredet, jenseits von
Gut und Böse“ (W 6/186; die Charakterisierung des
Buddhismus geht noch weiter bis Seite 188).

Später
schreibt Nietzsche über Jesus, den „Berg- See- und
Wiesen-Prediger, dessen Erscheinung wie ein Buddha auf einem sehr
wenig indischen Boden anmuthet“ (W 6/202).

Aus
„Ecce homo“: „Das Ressentiment ist das Verbotene an
sich
für
den Kranken – sein Böses:
leider auch sein natürlichster Hang. – Das begriff jener tiefe
Physiolog Buddha. Seine ‚Religion‘, die man besser als eine Hygiene bezeichnen
dürfte, um sie nicht mit so erbarmungswürdigen Dingen wie
das Christenthum ist, zu vermischen, machte ihre Wirkung abhängig
von dem Sieg über das Ressentiment: die Seele davon frei
machen – erster Schritt zur Genesung. ‚Nicht durch Feindschaft
kommt Feindschaft zu Ende, durch Freundschaft kommt Feindschaft zu
Ende‘: das steht am Anfang der Lehre Buddha’s – so redet nicht die
Moral, so redet die Physiologie“ (W 6/272f; vgl.
W 13/618).

Aus den
nachgelassenen Fragmenten (hier bringe ich nur die interessantesten
Stellen): „Wir haben es Buddha nachzumachen, der die Weisheit
der Wenigen nahm und davon einen Theil zum Nutzen der Menge
ausprägte“ (W 7/108).

Für „Zeichen“
des 20. Jahrhunderts hielt Nietzsche erstens den kulturellen
Aufschwung der Russen mit „Nähe der Barbarei“ und
zweitens „die Socialisten“. Drittens prophezeite er
folgendes: „die religiösen Kräfte können immer
noch stark genug sein zu einer atheistischen Religion à la Buddha,
welche über die Unterschiede der Confession hinweg striche, und
die Wissenschaft hätte nichts gegen ein neues Ideal“ (W
9/340f).

„Die Praxis des
Christenthums ist keine Phantasterei, so wenig die Praxis des
Buddhismus sie ist: sie ist ein Mittel; glücklich zu sein …“
(W 13/162).

3. Frühe Schriften

Nietzsches Philosophie EinführungDie
Herausgabe von Nietzsches frühen Schriften (Autobiographisches,
Aufsätze, Gedichte, Notizen, Schriften zur Philologie) wurde
durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen. Danach wurde sie nicht mehr
fortgesetzt.

Interessant
sind vor allem Nietzsches autobiographische Aufzeichnungen, die über
seine tiefe Religiosität Auskunft geben. Er empfand sich von
Gott geleitet wie ein Kind von seinem Vater (FS 1/31; vgl. a. FS
1/49, 58, 76, 106, 385). Die Verbindung zu Gott gab ihm das Gebet (FS
1/116, 124, 220, 225). Den Sonntag brauchte er dazu nicht (FS 1/117).
Daß ihn der schlechte Religionsunterricht regelrecht schmerzte
(FS 1/19), steht dazu nicht im Widerspruch.

Nietzsche
interessierte sich für alles außer der Mathematik (FS
3/67). Die Religion war ihm die „Grundveste
alles Wissens!“ (FS 1/154)
und die „Grundlage des Staates“ (FS 1/155). Die
Evolutionstheorie lehnte er ab. Er entschied sich „für die
erste Meinung, die den Menschen mit Kultur versehen schaffen und sich
dann theils unter dem Einfluß großer Weltereignisse und
Revolutionen zur Barbarei wenden, theils weiter auf den begonnenen
Pfaden der Kultur entwickeln läßt“ (FS 1/236; vgl. a.
FS 1/277f).

Für
Esoteriker sind Nietzsches Aufzeichnungen über innere Bilder
interessant, die absichtslos entstanden, die er aber dann zu
beeinflussen suchte (FS 3/131f). Auch seine Notizen über
Selbstbeobachtung
gehören hierher. Sie war ihm einerseits „eine Waffe gegen
fremde Einflüsse“, andererseits eine
„Entwicklungskrankheit“ (FS 4/126).

Nietzsche
notierte bei der Lektüre Tristram Shandy von
Laurence Sterne „alle
frappanten Gedanken“
(FS 1/151). Das ist beim Lesen aller seiner Notizen wichtig: Nicht

alles, was da steht, muß von ihm selbst stammen. Es kann sich
auch um ein Exzerpt handeln.

4. Briefe

Die
Lektüre von Nietzsches Briefen, die gegen seinen Willen
veröffentlicht wurden, ist unverzichtbar, denn sie zeigen ihn
uns als Menschen. Falls jemand bei der Lektüre seiner
nachgelassenen Fragmente auf dumme Gedanken gekommen ist, wird er in
den Briefen eines besseren belehrt. Nietzsche war kein
„Herrenmensch“,
er gierte nicht nach Macht. Er konnte keiner Fliege etwas zuleide tun
und war zu allen Menschen, mit denen er zu tun hatte, stets
hochanständig (was nicht heißen soll, daß es keine
Schwierigkeiten mit ihnen gab).

5.
Werke I

Mit Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) hat Nietzsche seinen Ruf
als Wissenschaftler ruiniert. Altphilologen lehnten die Schrift
heftig ab: „Die
vernichtenden Pamphlete des damals unbekannten Ulrich von
WILAMOWITZ-MÖLLENDORFF gegen Nietzsches ‚Zukunftsphilosophie‘ sind grundsätzlich
unwidersprochen geblieben, Die
Geburt der Tragödie
ist
nicht in die Geschichte der klassischen Philologie eingegangen. […]
Beispiellos ist die nicht-akademische, ‚weltanschauliche‘ Wirkung von
Nietzsches Erstlingswerk, die ihren Anfang mit der begeisterten
Rezeption durch Wagner nahm“ (Federico Gerratana, in: Jens 12/429).

Die
moderne Musikwissenschaft hat übrigens Nietzsches Erklärung,
die Poesie sei aus der Musik entstanden, übernommen:

  • Tragödie
    („Bocksgesang“) „bedeutete
    ursprünglich wohl […] Gesang um den Siegespreis eines
    Bocks oder ritueller Gesang von maskierten Männern, die im
    Frühling das Bocksopfer zu vollziehen hatten“ (Riethmüller/Zaminer 153).
  • „Als
    Heimat des Aulos [eines Blasinstruments] galt Kleinasien: der Mythos
    nennt als Aulos-Spieler die Silene im Gefolge des Dionysos sowie die
    Phrygier Marsyas und Olympos. Im 7. Jh. v. Chr. soll Klonas den
    aulodischen Nomos (Gesang zur Aulos-Begleitung) erfunden haben. […] In
    der älteren griechischen Dichtung sind vor allem die Vorformen
    der Elegie und der Komödie mit dem Aulos verbunden“ (Riemann Musiklexikon,
    Art. Aulos).

Von
dreizehn geplanten hat Nietzsche nur vier Unzeitgemässe
Betrachtungen
fertiggestellt: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller (1873), Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874), Schopenhauer als Erzieher (1874) und Richard Wagner in
Bayreuth
(1876). „Sie
richten sich gegen den zeitgenössischen Wissenschafts- und
Bildungsbetrieb des Wilhelminischen Reiches und hoffen auf eine
‚wahrhaft deutsche Kultur‘ der Zukunft“ (Reinhard Margreiter, in: Volpi/Nida-Rümelin 759).

6. Basler nachgelassene
Schriften

Das
griechische Musikdrama
(1870), Socrates und die Tragoedie (1870), Die dionysische Weltanschauung (1870), Die Geburt des tragischen Gedankens (1870) und Sokrates und die
griechische Tragoedie
(1871) gehören in die
Gedankenwelt der „Geburt
der Tragödie“.

Nietzsche alt Philosph EinführungUeber
die Zukunft unserer Bildungsanstalten
umfaßt
fünf Vorträge, die Nietzsche vom 16.1.-23.3.1872 im Museum
von Basel hielt. Was er zu
sagen hatte, kleidete Nietzsche in einen Dialog zwischen einem
älteren Philosophen und seinem jüngeren Gefährten. „In
der Unterhaltung wird das Elend der modernen Erziehung beklagt: die ’nationalökonomischen
Dogmen‘
,
die eine unkontrollierte ‚Erweiterung‘ der
Bildung fördern, der Anspruch des Staates, ‚Mystagoge
der Kultur‘
zu sein, die Verwahrlosung de Deutschunterrichts im Gymnasium, das
Unvermögen der Universitäten, den Studenten die
Philosophie, die Kunst und das klassische Altertum näherzubringen,
sowie die ‚ungeheure
Kluft‘
,
die Studenten und Professoren trennt“ (Federico
Gerratana, in: Jens 12/438).

Die Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern (1872) umfassen Ueber
das Pathos der Wahrheit, Gedanken über die Zukunft unserer
Bildungsanstalten, Der griechische Staat, Das Verhältniss der
Schopenhauerischen Philosophie zu einer deutschen Cultur
und Homer’s Wettkampf. Bemerkenswert
ist hier das Gewicht, das Nietzsche in der ersten Vorrede auf die „Momente
der plötzlichen Erleuchtungen“
legt, „in denen der Mensch seinen Arm befehlend, wie zu einer
Weltschöpfung, ausstreckt, Licht aus sich schöpfend und um
sich ausströmend.“ Diese Erleuchtungen seien die
eigentliche Quelle des Ruhms (W 1/755).

Zu Ein Neujahrswort
an den Herausgeber der Wochenschrift „Im
neuen Reich“
(1873) gibt
es nichts zu sagen.

Mit Die Philosophie
im tragischen Zeitalter der Griechen
(1873) gibt
Nietzsche eine spezielle Art der Philosophiegeschichtsschreibung: Er
erreicht „Kürze“ durch „Unvollständigkeit.
Es sind aber die Lehren ausgewählt worden, in denen das
Persönliche eines Philosophen am stärksten nachklingt“
(W 1/803).

Ueber
Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
(1873)
zeigt Nietzsches Desillusionierung über den zwischenmenschlichen
Umgang: Was allgemein als Wahrhaftigkeit gehandelt werde, sei eine
bestimmte Konvention des Lügens.

Der
kurze Mahnruf an
die Deutschen
ist nicht
nur eine Hymne auf Richard Wagner, sondern ein echter Appell: „Glauben
wir doch sogar noch ein Höheres und Allgemeineres: ehrwürdig
und heilbringend wird der Deutsche erst dann den anderen Nationen
erscheinen, wenn er gezeigt hat, dass er furchtbar ist und es doch durch Anspannung seiner
höchsten und edelsten Kunst- und Culturkräfte vergessen
machen will, dass er furchtbar war
“ (W 1/896).

7.
Werke II

In
den beiden Bänden Menschliches, Allzumenschliches (1878 und 1886) „werden
Metaphysik, Moral, Religion, Kunst, höhere und niedere Kultur,
Momente des sozialen Lebens, Geschlechtlichkeit, Familiarität
und Staat behandelt. […] Die thematische Anordnung des I.
Bandes wiederholt sich (ohne Zwischentitel) in den beiden Schriften
des II. Bandes“ (Reinhard Margreiter, in:
Volpi/Nida-Rümelin 442).

In
der Morgenröthe (1881) kritisiert Nietzsche „sowohl
die traditionellen religiösen und metaphysischen Auffassungen
als auch die neueren positivistischen und utilitaristischen
Begründungen der Moral“ (Marco Brusotti, in: Jens 12/434),
weil sie ihm als intellektuell unredlich erscheinen. So will er sie
durch intellektuell redliche Erkenntnisse ersetzen, die bis in das
Gefühlsleben hinein wirken.

Bei
den Idyllen aus Messina (1882)
handelt es sich um acht Gedichte, von denen Nietzsche „sechs
(in veränderter Form) in die ‚Lieder des Prinzen Vogelfrei‘, den
Anhang zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen
Wissenschaft
“ übernahm. „Deshalb
fehlen die Idyllen
aus Messina
in
den bisherigen Editionen der Werke Nietzsches“ (Colli/Montinari, in: W 14/229).

Den
Titel von Die fröhliche Wissenschaft (1887) erklärt
Nietzsche in der „Vorrede
zur zweiten Ausgabe“: „‚Fröhliche
Wissenschaft‘: das bedeutet die Saturnalien eines Geistes, der einem
furchtbaren langen Drucke geduldig widerstanden hat – geduldig,
streng, kalt, ohne sich zu unterwerfen, aber ohne Hoffnung -, und der
jetzt mit Einem Male von der Hoffnung angefallen wird, von der
Hoffnung auf Gesundheit, von der Trunkenheit der
Genesung“ (W 3/345).

Nietzsches
Hauptwerk Also sprach Zarathustra (1883-85) „besteht
aus einzelnen ‚Reden‘ Zarathustras, die von einem mythologischen
Erzählrahmen zusammengehalten werden. […] Zarathustras
Grunderlebnis ist sein Ungenügen an der Selbstbescheidung,
Engherzigkeit und Kleinheit des gegenwärtigen Menschen, die sich
vor allem in der Gleichheits- und Mitleidsmoral des Christentums
äußern. Diese verschließt die Augen vor dem seiner
Meinung nach herben Tatsachencharakter der Welt, den Nietzsche als
‚Wille zur Macht – und nichts außerdem‘ bestimmt“ (Reinhard Margreiter, in:
Volpi/Nida-Rümelin 17f). Nietzsches Therapie gegen
diesen Zustand ist eine neue Wertskala, die,
modern gesprochen, den Menschen am Grad seiner Selbstverwirklichung
mißt.

Jenseits
von Gut und Böse
(1886) „ist
aus dem aufgegebenen Entwurf einer gründlichen Überarbeitung
von Menschliches,
Allzumenschliches
im
Sinne von Nietzsches späterer Philosophie hervorgegangen“ (Marco Brusotti, in: Jens 12/431). In „Ecce
homo“ (1888/89), einer autobiographischen Schrift, die erst nach Nietzsches
Tod erschien, charakterisiert der Philosoph das Werk folgendermaßen: „Dies
Buch (1886) ist in allem Wesentlichen eine Kritik
der Modernität
,
die modernen Wissenschaften, die modernen Künste, selbst die
moderne Politik nicht ausgeschlossen, nebst Fingerzeigen zu einem
Gegensatz-Typus, der so wenig modern als möglich ist, einem
vornehmen, einem jasagenden Typus“ (W 6/350).

Zur
Genealogie der Moral
(1887)
soll einer Notiz Nietzsches auf der Rückseite des Titelblatts
zufolge „Jenseits
von Gut und Böse“ ergänzen und verdeutlichen (W 14/377).

In Der Fall Wagner (1888)
rechnet Nietzsche mit Wagner, den
er anfangs verehrte, ab, in Götzen-Dämmerung (1889)
mit so ziemlich allem.

8. Nachgelassene Schriften II

Der
Antichrist
(1888) „hat
weitgehend den Charakter eines Pamphlets und verzichtet auf eine
argumentative Fundierung der vorgebrachten Thesen“ (Reinhard Margreiter, in:
Volpi/Nida-Rümelin 27).

In Ecce homo (1888/89)
erklärt Nietzsche, was er mit seinen veröffentlichten
Werken wollte. Das Buch ist ein einziger Schrei gegenüber der
Mißachtung durch seine Zeitgenossen.

Die Dionysos-Dithyramben (1888) „erschienen
1892 als Anhang zur zweiten Ausgabe des vierten Teils von Also
sprach Zarathustra
“ (Hans-Horst Henschen, in: Jens 12/420). Nietzsche nannte sie auch „‚Lieder
Zarathustras'“
(W 14/513).

Nietzsche
contra Wagner
(1888) sollte
nicht mehr veröffentlicht werden. So heißt es auf einem
Zettel, den Nietzsche für seinen Verleger Constantin Georg
Naumann schrieb: „‚Die
Ereignisse haben die kleine Schrift Nietzsche contra W. vollständig
überholt: senden Sie mir umgehend das Gedicht, das den Schluß
macht, ebenso wie das letztgesandte Gedicht ‚Ruhm und Ewigkeit‘.
Vorwärts mit Ecce!'“ (W 14/522)

© Gunthard Rudolf Heller,
2013

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Sperrdruck habe ich durch Kursivdruck wiedergegeben)

  • Sämtliche
    Werke – Kritische Studienausgabe, 15 Bände,
    München/Berlin/New York 1980 (W; Sperrdruck habe ich durch
    Kursivdruck wiedergegeben; die eckigen Klammern bei der
    Vervollständigung von nicht ausgeschriebenen Wörtern durch
    die Herausgeber habe ich weggelassen)
  • Sämtliche
    Briefe – Kritische Studienausgabe, 8 Bände,
    München/Berlin/New York 1986 (B)
  • Der Wille zur Macht
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Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie (1950),
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Gunthard Heller