Lernprozesse bei Kindern: Interview mit Wolfgang Endres

In diesem Interview geht es hauptsächlich darum, Lernprozesse bei Kindern in der Schule näher zu beleuchten. Zu diesem Zweck hat sich Peter Schipek mit dem Sozialpädagogen und Buchautor Wolfgang Endres getroffen.

Lernprozesse bei Kindern im UnterichtWolfgang Endres ist Referent in der Lehrerfortbildung und hat 1973 das Studienhaus St. Blasien im Schwarzwald gegründet. Dieses Studienhaus hat er bis 2002 selbst geleitet.

Neben anderen Tätigkeiten ist er auch als Autor und Herausgeber von zahlreichen Veröffentlichungen zur Lernmethodik bekannt. Zu seinen erfolgreichsten Büchern gehört der Beltz-Lerntrainer „So macht Lernen Spaß“.

Doch das Thema, Lernen zu lernen, ist längst nicht mehr nur Schulkindern vorbehalten. In unserer Informationsgesellschaft ist Lernen mittlerweile eine Metafähigkeit, die längst zum Maßstab für persönlichen und beruflichen Erfolg geworden ist.

Wer heute auf dem Laufenden bleiben will, kommt in fast keinem Beruf mehr um eine kontinuierliche Fortbildung herum. Und was für unsere Kinder als gute Grundlage gelten kann, kann auch für uns Erwachsene als brauchbare Orientierung fungieren.

Vielleicht finden auch Sie interessante Anregungen, mit welchen Sie Ihr persönliches Lernverhalten erfolgreicher gestalten können.

Lernprozesse bei Kindern mit Wolfgang Endres

Peter Schipek: Herr Endres – Sie und Ihr Lernteam vom Studienhaus St. Blasien beschäftigen sich seit mehr als 30 Jahren mit dem Thema „Lernen lernen“. Die Art, wie Kinder unterrichtet werden, stimmt oft nicht. Sie beschreiben eine Pädagogik, die das Lernen als ein Entdecken, als ein Forschen sieht. Wie können wir Kinder denn anregen und ausbilden, dass sie selbst etwas herausfinden – vielleicht Dinge entdecken, von dem auch der Lehrer gar keine Ahnung hat?

Wolfgang Endres: Da übernehme ich zunächst einmal gern eine Empfehlung des großen Theologen und Pädagogen Johannes Amos Comenius, der vor fast 400 Jahren in seiner „Didactica magica“ gefordert hat, die Unterrichtsmethode an den kindlichen Lernprozess anzupassen: „Lehrer, unterrichtet weniger, damit die Schüler mehr lernen.“

Das heißt nicht, der Lehrer wäre überflüssig. Aber er setzt andere Akzente: Lernen braucht Erlebnis und Erfahrung, aber auch Übung und Systematik. Lernen gelingt in dem Maße, wie sich beide ergänzen. Lernen ist ein individueller Prozess, der sich aber in einem sozialen Kontext vollzieht. Lernen ist angewiesen auf kooperatives Handeln, auf Erforschen und Erproben. Neugierverhalten, Lernfreude und Ernsthaftigkeit bilden den Kern von Bildung.

Die wichtigste Aufgabe der Schule ist es, Lernen so anzulegen, dass daraus Bildung werden kann.

Peter Schipek: Die Frage „Warum?“ – ist eine der häufigsten Fragen im Kleinkindalter. Das Interesse von Kindern am Forschen und Experimentieren ist doch enorm.

Hängt es nicht davon ab, wie Erwachsene auf die Fragen der Kinder reagieren, ob später aus diesen Kindern am Lernen interessierte Menschen werden oder nicht?

Wolfgang Endres: Wenn Kinder merken, dass sie mit ihren Warum-Fragen nerven, halten sie ihre Fragen bald selbst für „dumme“ Fragen und stellen immer seltener Fragen. Oder sie setzen ihre Fragen nur noch strategisch ein, d. h. sie interessieren sich nicht für die Antwort, sondern verfolgen mit ihren Fragen andere Zwecke, etwa mehr Beachtung und persönliche Zuwendung.

Es kann eine sehr positive Reaktion auf die Warum-Frage eines Kindes sein, nicht gleich eine Antwort zu geben, sondern bei der Frage zu verweilen, die Frage spannend oder reizvoll finden und mit dem Kind gemeinsam nach einer Antwort suchen.

Peter Schipek: Viele Lehrer haben ja ein festes inneres Bild vor sich. Sie unterrichten, stellen eine Frage und hören, was die Schüler antworten. Passen diese Antworten in das vorher „gefestigte Bild“ dieser Lehrer, werden diese Antworten belohnt. Andere Antworten werden ignoriert, verworfen.

Gewöhnen wir so nicht unseren Kindern das Denken ab?

Wolfgang Endres: Unsere Kinder werden – in guter Absicht – von uns geistig verwöhnt. Wir machen sie denkfaul, indem wir mit Erklärungen und präzisen Anleitungen oft des Guten zu viel tun. Um das zu vermeiden, gibt uns Maria Montessori mit einem einzigen Satz und drei verschiedenen Akzenten eine hilfreiche Empfehlung:

  • Hilf mir, es selbst zu tun – Selbstständiges Lernen ist die erste Forderung
  • Hilf mir, es selbst zu tun – Selbsttätigkeit ist die zweite Forderung
  • Hilf mir, es selbst zu tun – Hilfe zur Selbsthilfe ist die dritte Forderung.

Peter Schipek: Sie schlagen interessante Lernexperimente vor – z. B. eine ungewöhnliche Methode Vokabeln zu lernen. Können Sie uns einige dieser Lernexperimente näher beschreiben?

Wolfgang Endres: Dazu möchte ich eine kleine Geschichte erzählen: Eines Tages habe ich bei einigen meiner Schüler während einer Klassenarbeit Spickzettel (Schwindelzettel) entdeckt.

Weil ich diese für nicht sonderlich gelungen hielt, habe ich kurzentschlossen eine Spickzettel-AG angeboten. Denn ein wirklich gut gemachter Spickzettel ist eine fantastische Prüfungsvorbereitung. Und das will gelernt sein.

Natürlich war das keine Anleitung zum Mogeln, sondern zum systematischen Arbeiten mit dem Blick für das Wesentliche. Das war der Anfang meiner Lernwerkstatt. Das Konzept habe ich systematisch mit meinen Schülern weiter entwickelt.

So kam die Locitechnik bei einem Lernspaziergang zum Einsatz oder wir praktizierten die Paradoxe Intervention, d. h. durch intensives Vergessen-Wollen wurde ein fast beiläufiges Behalten erzielt.

Peter Schipek: Dazu ein Zitat von Ihnen: „Wenn kein gutes Lernklima herrscht, bin ich für Lernexperimente nicht bereit.“ Das Wichtigste ist doch, dass Kinder angenommen werden.

Kinder müssen wissen, dass sie wichtig sind – sie dürfen nicht gedemütigt werden. Was müssen wir in dieser Hinsicht an den Schulen verändern?

Wolfgang Endres: Wir brauchen eine Beziehungskultur an unseren Schulen, wie sie Prof. Gerald Hüther als „Supportive Leadership“ beschreibt: „Eine Kultur, die geprägt wird von den Schwerpunkten Wertschätzung, Anerkennung, Ermutigung und gemeinsame Anstrengung. Überall dort, wo diese wertschätzende, unterstützende und gleichzeitig zu Höchstleistungen anspornende Beziehungskultur entwickelt wird, sind erstaunliche Erfolge zu beobachten.“

Mit dieser Feststellung empfiehlt der Neurobiologe Prof. Gerald Hüther den Schulen, von den guten Erfahrungen zu lernen, die derzeit in der Wirtschaft mit dem Modell „Supportive Leadership“ gesammelt werden. „Supportive Leadership" heißt die neue Führungskultur, mit der es gelingen kann, das kreative Potenzial der Mitarbeiter wiederzuerwecken.

Ein "supportiver Leader" vermittelt seinen Mitarbeitern das Gefühl, dass es auf jeden einzelnen ankommt, dass jeder mit seinen Ideen gebraucht wird. Es ist eines von wenigen Beispielen aus der Wirtschaft, das die Schule 1 : 1 übernehmen kann.

Peter Schipek: Jeder von uns hat seine eigenen Lernwege, seinen eigenen Lernrhythmus. Wie können wir Kinder und auch Erwachsene mit der Motivation und der Fähigkeit ausstatten, ihren eigenen Lernweg zu finden und zu gestalten – also autonom zu handeln?

Wolfgang Endres: Durch Projektarbeit, handlungsorientierten Unterricht und selbstgesteuertes Lernen oder das sogenannte E-Learning haben sich in den letzten Jahren viele gute Ansätze entwickelt. Jedoch kommen durch die allgemeine Beschleunigung in allen Lebensbereichen viele Lernprozesse zu kurz.

Wenn nur noch das Ergebnis zählt, wird der Prozess zur Nebensache. Lernen ist aber ein Prozess. Was das eine Kind in einer Stunde lernt, lernt ein anderes in zwei Stunden oder auch überhaupt nicht. Stattdessen lernt es etwas anderes als das erste Kind, vielleicht etwas weniger von dem, was das erste lernt, doch dafür möglicherweise mehr von etwas anderem.

Wenn unterschiedliche Ergebnisse voreilig als die besseren oder schlechteren klassifiziert werden, wird der Lernprozess nicht gewürdigt.

Peter Schipek: Lernen braucht Zeit. Lehrer sind ja permanent mit der Zeit befasst – allerdings in der Regel mit Zeitmangel. Besonders wichtig ist für sie daher eine Zeitkultur.

Wie können wir eine neue Kultur an unseren Schulen schaffen, wo Zeit für Kreativität und Phantasie bleibt und wo Vertiefung und reflexives Wissen im Vordergrund der Bemühungen stehen?

Wolfgang Endres: Was Sie da sagen, bringt Wolfgang Edelstein auf die Formel: „Der Stoff, aus dem das Lernen ist, ist die Zeit.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Peter Schipek: Sie sind auch Autor zahlreicher Bücher, Lernhilfen und Elternratgeber. Ich möchte noch gerne ein wenig über Ihr Basiswerk – „Die Endres Lernmethodik“ sprechen. Einer Ihrer Bausteine ist „Stärkenanalyse und Lernvorlieben“. „Um ihr Potenzial beim Lernen besser nutzen zu können, sollen Schülerinnen und Schüler als Erstes ihren Stärken nachspüren“.

Die meisten Schüler kennen doch eher ihre Schwächen – darauf werden sie ja ständig hingewiesen. Was empfehlen Sie Schülern, um ihre Stärken zu finden?

Wolfgang Endres: Stärkenanalyse soll darauf gerichtet sein, in der unmittelbaren Umgebung der Schwachstelle nach Stabilität und Halt zu suchen. Wer in einem fremden Text als Erstes nur nach unbekannten Wörtern sucht, kann keinen Zusammenhang erkennen. Sehr oft aber lässt sich der unbekannte Begriff aus dem unmittelbaren Umfeld erschließen. In Zusammenhängen lernen, kann schon damit beginnen, bestimmte Lerninhalte mit markanten Lernorten zu verknüpfen.

So könnten die Kinder einmal ausprobieren, ob sie sich einen Sachverhalt besser merken, wenn sie diesen im Schulgarten oder vor einem Gemälde, auf einer Treppe oder in einer Ecke des Klassenzimmers bearbeiten. Auf diesem Weg können sie ihren Lernvorlieben nachspüren, die mit Struktur und Systematik zu tun haben, etwa, wie ausgeprägt ihr Orientierungssinn ist und wie sie die Locitechnik als Lernhilfe einsetzen können. Wer beim Positionslernen gute Erfahrungen sammelt, wird wahrscheinlich auch Tabellen und Checklisten als hilfreich empfinden.

Textstellen zu markieren oder Lernstoff in Kategorien einzuteilen, sind ähnliche Ordnungstendenzen, die sich als Lernhilfe erweisen. So sollten Schüler von Zeit zu Zeit ihren Lernvorlieben nachspüren und ihr Lernverhalten reflektieren.

Wer die Erfahrung macht, wie gut das Lernen durch Lehren gelingt, ist gut beraten, immer wieder Situationen zu suchen, einem anderen etwas erklären zu können. Die Empfehlung „Docendo discimus“ (durch Lehren lernen wir) hat Seneca schon gegeben.

Peter Schipek: Sie haben mit der „Pädagoptik“ Ihre Lernmethodik erweitert. Was dürfen wir uns unter Pädagoptik vorstellen?

Wolfgang Endres: Hinter dieser Wortschöpfung steckt eine Kombination aus Pädagogik und Optik. Erziehung und Unterricht werden unter verschiedenen Perspektiven betrachtet. Bei dieser Betrachtung spielt die Beziehungsdidaktik eine herausragende Rolle:

Denn wenn Lernen gelingen soll, braucht es ein gesundes Lernklima, eine Atmosphäre des Wohlwollens, eine gute Beziehung. Lernen soll zum Lernerlebnis werden. Und dazu wollen viele kleine Lernexperimente der „Pädagoptik“ beitragen.

Denn Erfolgserlebnisse und gute Erinnerungen sind das Beste, was wir unseren Kindern von der Schule mitgeben können.

Peter Schipek: Zum Abschluss noch eine Frage zu einer besonders interessanten Veranstaltung von Ihnen. Seit 20 Jahren ist das Symposion „Lernen lernen“ ein Treffpunkt für Pioniere der Schulentwicklung und Lernförderung.

Immer wieder bringen Sie hochkarätige Referenten nach Bad Wörishofen. Vom 11. bis 13. April 2008 findet das 10. Symposion "Lernen lernen" statt. Wer und was erwartet uns bei diesem Jubiläums-Symposion?

Wolfgang Endres: Prof. Joachim Bauer, Prof. Martin Korte und Prof. Ulrich Herrmann betrachten Motivationsfragen aus dem Blickwinkel der Hirnforschung und Reinhard Kahl berichtet von Schulen, die gelingen. Einen besonderen Akzent setzt Prof. Peter Sloterdijk mit seinen unverwechselbaren Kennzeichen des Denkens und Bischof Huber stellt seinen Festvortrag unter das Thema „Die Rolle der Familie beim Gelingen von Schule und Lernen.“

Unser Symposion beleuchtet den Trend, dass Erziehung mehr und mehr verstaatlicht und Schule mehr und mehr privatisiert wird. So werden aber Lernprobleme des Kindes nicht gelöst. Deshalb beschäftigen wir uns mit der Optimierung von Lernbedingungen. Eine Aufgabe, die weder komplett der Schule übertragen, noch den Eltern allein überlassen werden darf.

Peter Schipek: Herr Endres – herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

Viel Erfolg beim "Lernen lernen"

© Peter Schipek – www.lernwelt.at

Peter Schipek