Wie Kinder lernen: Das Genie der frühen Jahre

Hier stellen wir Ihnen ein Interview mit Dr. Marco Wehr zu seinem Buch „Kleine Kinder sind große Lehrer“ mit Peter Schipek vor. In diesem Artikel erklärt der Autor, wie Kinder lernen, welche Einflüsse beim Lernen für Kinder wichtig sind und welche Fehlentwicklungen heutzutage ein gesundes Lernen bei Kindern behindern.

Neben dem folgenden Interview finden Sie am Ende des Artikels noch eine Kurzvita von Dr. Marco Wehr. Falls Sie neugierig auf seine Bücher geworden sind, finden Sie außerdem unterhalb des Artikels eine Auswahl von Dr. Wehrs Publikationen.

Interview mit Dr. Marco Wehr zu seinem Buch „Kleine Kinder sind große Lehrer“ mit Peter Schipek

Wie Kinder lernen Das Genie der frühen Jahre Interview mit Dr. Marco WehrPeter Schipek: Herr Dr. Wehr – Sie sind Physiker, Philosoph und Tänzer und haben jetzt das Buch „Kleine Kinder sind große Lehrer“ geschrieben. Sie wurden wegen Ihrer Doppelbegabung von der „ZEIT“ als „Kopf mit Körper“ bezeichnet. Wie kommen Sie zu einer so ungewöhnlichen Kombination von Wissenschaft und Tanz?

Marco Wehr: Sie müssen einfach den Philosophen in die Mitte stellen, der sich in unterschiedlicher Weise mit der Welt auseinandersetzt und die Ganzheit der Persönlichkeit für ein wichtiges Ziel hält.

Es gibt für uns Menschen Aspekte der Wirklichkeit, die sich intellektuell und sprachlich kommunizieren lassen und es gibt sehr interessante Bereiche des menschlichen Lebens, die sich der Sprache völlig entziehen. Dazu gehören die Musik, der Tanz, gutes Essen und sicher manche Aspekte der Liebe, …

Peter Schipek: Sie schreiben über Bildungsromantiker, die der Überzeugung sind, dass sich Kinder dank eines genuinen Wissens ganz von allein wie Blumen entfalten, über empirische Bildungsforschung, der Sie nicht ganz trauen, und machen uns den Vorschlag, die Nase einmal da reinzustecken, wo Lernen ohne jeden Zweifel gelingt. Wie gelingt denn nun „Lernen ohne jeden Zweifel?

Marco Wehr: Lernen gelingt dort, wo der Lernerfolg unbestreitbar ist. Kleine Kinder sind mit einem evolutionären Lernprogramm ausgestattet, das ihnen ungeheuere Lernleistungen ermöglicht. Sie lernen in kurzer Zeit Fertigkeiten, die die besten Wissenschaftler und Ingenieure der Welt immer noch nicht kopieren können. Meister ihrer Kunst überzeugen uns durch ihr beeindruckendes Können.

Das absolut Erstaunliche: Die Lernstrategien kleiner Kinder und die großer Meister sind dieselben. Sie unterscheiden sich nur durch den Grad der Bewusstmachung.

Peter Schipek: Wir kommen ja recht hilflos zur Welt: Wir können nicht überleben, ohne die Hilfe von anderen Menschen und es dauert lange, bis wir laufen und sprechen können. Warum hat uns die Evolution da nicht besser „ausgerüstet“?

Marco Wehr: Wenn man verstehen möchte, weshalb sich der Mensch entwickelt, wie er sich entwickelt, dann muss man die “evolutionäre Strategie“ des Menschen hinterfragen. Wir sind nämlich nicht wie Arnold Gehlen meinte ein Mängelwesen und schon gar nicht das “missratenste aller Tiere“, wie der Philosoph Friedrich Nietzsche ätzte. Wir müssen uns spät entwickeln, weil wir Spezialisten für Nicht-Spezialisiertheit sind.

Menschliche Kinder wachsen in den verschiedensten Kulturen auf, die sich in den unterschiedlichsten Lebenswelten herausgebildet haben. Ein Eskimokind wächst in einer Eiswüste auf, ein Indiobaby in der grünen Hölle des Amazonas und einige unserer Kinder schon in einer fast körperlosen Welt des World Wide Web.

Überall gelten bestimmte Überlebensregeln, die die Kinder von den Erwachsenen lernen. Wären sie “vorprogrammiert“, könnten sie diese flexiblen kulturellen Regeln gar nicht lernen, ganz abgesehen davon, dass es lange dauert, die kommunikativen Werkzeuge zu entwickeln, die diesen typisch menschlichen Wissenstransfer möglich machen. Ich rede hier von der Sprache und dem Lernen durch Vor- und Nachmachen.

Peter Schipek: Kinder brauchen Gemeinschaft – das wissen die meisten Eltern. Trotzdem verbringen immer mehr Kinder zu viel Zeit an Computern oder mit Videospielen: Wie wirkt sich das auf die Entwicklung der Kinder aus?

Marco Wehr: Ich persönlich halte diese Entwicklung für sehr bedenklich und zwar aus mehreren Gründen. Das sich entwickelnde kindliche Gehirn ist ein fast selbstorganisierendes System. In bestimmten Entwicklungsphasen braucht das Kind aber einen bestimmten Input, eine bestimmte Auseinandersetzung mit der Welt. Wenn es Sehen lernt, muss es etwas zu sehen geben, wenn es Sprechen lernt, muss jemand mit ihm sprechen, wenn sich die Motorik entwickelt, muss es die Möglichkeit geben, sich bewegen zu können und wenn es lernt, sich in Menschen einzufühlen, müssen Menschen da sein, in die man sich einfühlen kann, …

Zu den Gelingensbedingungen dieser Lernschritte gehört es nun, dass ein Kind zum richtigen Zeitpunkt die Möglichkeit hat, diese elementaren Erfahrungen zu machen. Dazu braucht es Erwachsene mit ihrem Wissen, die dem Kind helfen, Erfahrungen zu bewerten und die es in gefährlichen Situationen auch vor Schaden bewahren. Das ist ein komplexer aber spannender Interaktionsprozess.

Was macht ein Kind vor dem Computerbildschirm oder dem Fernsehen? Setzt es sich mit der komplexen Welt der Wirklichkeit auseinander? Schön wär’s!

Es setzt sich mit einem von Erwachsenen reduzierten Modell der Wirklichkeit auseinander und das auch noch bewegungslos. Deshalb wird es bestimmte Erfahrungen auch nicht machen können. Das hat fatale Konsequenzen. Für die Entwicklung des Gehirns ist es nämlich notwendig, dass die verschiedenen Sinnesmodalitäten integriert werden. Wichtig sind zum Beispiel Motorik und visueller Input. Ein Kätzchen, das nur sieht, sich aber nicht bewegen darf, bleibt blind!

Ein Kind vorm Fernseher bewegt sich nicht, es sieht und hört nur. Und sehen tut es in allem Überfluss auch nur in zwei Dimensionen. Mehr muss man dazu eigentlich nicht sagen!

Und warum tun wir das den Kindern an? Weil es bequem ist und die Erwachsenen meinen, dass es Sinnvolleres zu tun gibt, als sich mit den eigenen Kindern zu beschäftigen. Die Konsequenzen gehören übrigens zu meinem Berufsalltag. Ich sehe Kinder, die Mühe haben, Treppen zu steigen, die nicht rückwärts laufen können und Angst haben, eine 15 Zentimeter hohe Treppenstufe herunterzuspringen.

Peter Schipek: In Ihrem Buch beschreiben Sie wesentliche Faktoren – „4 Z“ – „Zeit, Zuneigung, Zuwendung und Zutrauen“. Wir lassen den Kindern heute viel zu wenig Zeit zum Lernen. Eltern machen sich Sorgen, dass ihr Kind, wenn sie ihm zu viel Zeit lassen, um seinen eigenen Interessen nachzugehen und seine eigenen Entdeckungen zu machen, hinter den Gleichaltrigen zurückbleiben wird. Was ist für Kinder wichtig und was sollten Eltern und Lehrer tun?

Marco Wehr: Darauf gibt es eine ganz einfache Antwort und die ist gänzlich unmodern: Einfach entspannt bleiben! Der ganze Frühförderwahn ist nur möglich, weil die ehrgeizigen Förderer überhaupt nicht verstanden haben, was sich da wie im kindlichen Kopf entwickelt. Ich habe es oben schon angedeutet. In den ersten Jahren lernen die Kinder die Werkzeuge für die Welt des Wissens.

Das heißt sie lernen Sprechen, sie lernen eine höchst komplexe Motorik, die es ihnen erlaubt schwierige Handlungen zu imitieren. Das ist neurobiologisch das Schwierigste und Komplexeste, was überhaupt vorstellbar ist. Das Faszinierende: Kinder lernen diese elaborierten Fähigkeiten in allen erdenkbaren Lebensräumen, das kann eine kleine Pizzeria in Neapel sein oder ein Bauernhof im Emsland. Sie brauchen nur Erwachsene, die ihnen auf eine völlig unangestrengte Weise zugewandt sind. Das ist total unspektakulär!

Wenn Sie wollen, dass sich Ihr Kind gut entwickelt, brauchen Sie ihm nicht mit zwei Jahren die Grundlagen der Physik beizubringen: Sprechen Sie viel mit ihm! Spielen Sie viel mit ihm! Und sorgen Sie vor allen Dingen dafür, dass es vor die Tür kommt und mit anderen Kindern in den Bäumen klettert!

Peter Schipek: Zwei sehr wichtige Aspekte gibt es in Ihrem Buch: „Gewinnen und Misslingen“. Lob für Selbstverständlichkeiten und eine mangelnde Kultur des Misslingens. Was läuft da im Elternhaus und in der Schule falsch?

Marco Wehr: Lernen bedeutet, eine Sache zu tun, die man noch nicht kann. Könnte man sie, dann bräuchte man sie nicht zu lernen. Das bedeutet, dass beim Lernen anfänglich immer Fehler passieren. Das ist die natürlichste Sache der Welt! Kleine Kinder haben mit dieser Einsicht kein Problem. Sie fallen hundert Mal auf den Hosenboden, bevor sie laufen können.

Die Misslingenskompetenz der Kinder hat nun unterschiedliche Facetten: Kinder sind motiviert, ausdauernd, machen leidenschaftlich gern Dinge, die sie noch nicht können, und haben keine Angst vor Fehlern. Sie sind definitiv nicht frustriert, wenn es ihnen beim ersten Anlauf nicht gelingt, auf einen Stuhl zu klettern. Die Angst vor Fehlern ist eine Angst aus der Welt der Erwachsenen!

Und mit dieser Angst sollten wir sehr vorsichtig sein. Wenn wir diese nämlich auf die Kinder übertragen, werden sie bestimmte Lernentwicklungen nicht machen. Das ist der Kardinalfehler überbehütender Eltern. Noch schlimmer wird es dann, wenn die in Watte gepackten Kinder für Dinge gelobt werden, die des Lobes nicht wert sind. Die Kinder sind nämlich nicht dumm. Sie sehen, ja, was andere risikobereitere Kinder können und gleichzeitig merken sie, dass die Erwachsenen mit gezinkten Karten spielen.

Noch schlimmer aber ist, dass ihnen verwehrt wird, ein gesundes Könnensbewusstsein zu entwickeln, das sich einstellt, wenn man eine Sache trotz anfänglicher Schwierigkeiten schafft. Nur so entsteht langsam aber sicher Selbstbewusstsein, da das Kind aufgrund positiver Erfahrungen den Mut findet, immer anspruchsvollere Aufgaben zu bewältigen.

Die Auseinandersetzung mit dem Fehler ist für jeden Lernenden elementar. Sie zu vermeiden ist ein großer pädagogischer Fehler. Besser ist es, den Schwung kleiner Kinder, die die Angst vor dem Misslingen noch nicht kennen, mitzunehmen und in spätere Lernprozesse auf eine natürliche Weise zu integrieren.

Peter Schipek: Üben, üben, üben – „Unermüdliche Wiederholungen“. Viele Kinder und Eltern sehen darin einen Drill und eine überholte Lernform. Sie beschreiben in Ihrem Buch den Sinn des Übens aus einer anderen Perspektive. Können Sie uns diese Perspektive kurz beschreiben?

Marco Wehr: Üben ist eine Kunstform, und ob es sich um stupiden Drill oder um eine die Persönlichkeit bereichernde Erfahrung handelt, hängt einzig und allein von der Herangehensweise ab. Ich übe täglich zwischen 3-5 Stunden, und wenn ich kein Geld zu verdienen bräuchte, würde ich mir den Luxus erlauben, nur zu lernen. Warum? Weil das Üben einem etwas über die eigene Person lehrt.

Das funktioniert aber nur, wenn man weg- und nicht zielorientiert denkt. Wenn einem die Tätigkeit als solche Spaß macht, dann ist das Ziel nicht so wichtig und man erreicht es von alleine. Im Prozess des Übens verändert man sich als Mensch. Dafür muss man aber den inneren Blick entwickeln. Das wissen zum Beispiel die Buddhisten genau. Wenn man dann diese Kunst beherrscht, dann macht man in der Wiederholung immer etwas anderes, auch wenn man für Außenstehende das Gleiche macht. Warum?

Ich kann eine Sache tausendmal machen. Und die Wahrheit ist: Ich muss sie tausendmal machen, damit sie gelingt. Das sieht von außen sehr langweilig aus. Wenn ich aber meine innere Entwicklung und meine inneren Widerstände in der Wiederholung spüre, dann ist das eine sehr spannende Geschichte, von der man irgendwann nicht genug bekommen kann.

Peter Schipek: Vermittelt die Schule nicht allzu oft eher oberflächliches Wissen und gibt zu einfache Antworten? Kinder sind doch neugierige Wesen und wollen die Welt erkunden. Sollten gute Antworten nicht demjenigen, der gefragt hat, das selbstständige Weiterdenken ermöglichen?

Marco Wehr: Ja, die Schule ist sicher zu fakten- und zu wenig prozessorientiert. Ich würde mir wünschen, dass die Kinder in der Schule deutlich weniger lernen müssten, dafür aber wieder mehr die Möglichkeit bestände, sich außerschulisch gemäß eigener Interessen zu entwickeln. Ich glaube, wir haben da den Kurs völlig verloren.

Meine ältere Tochter Naima hat im Augenblick 40 (!) Wochenstunden, dazu kommen die Hausaufgaben. Ich hatte vor dem Abitur etwas mehr als zwanzig.

Als ich letztens meinem Deutschlehrer für seinen tollen Unterricht dankte, der mir die Tür zur Schriftstellerei geöffnet hat, sagte er mir mit Wehmut in der Stimme, dass er an diese Zeit auch gerne zurückdenkt. Leider wären so komplexe Sachverhalte heute nicht mehr vermittelbar. Er ist Direktor an einem Gymnasium mit 1500 Schülern und muss es wissen. Ich finde: Da stimmt etwas nicht!

Peter Schipek: Sie beschäftigen sich als Künstler mit dem Phänomen der Meisterschaft und schreiben „Meister machen’s wie die Kinder“. Was bedeutet das für das Lernen an unseren Schulen und was empfehlen Sie den Eltern?

Marco Wehr: Ein Meister zu werden, bedeutet dicke Bretter zu bohren. Man muss Dinge unendlich lang wiederholen, man muss permanent Dinge tun, die man noch nicht kann und das “Schlimmste“: Es gibt ein Exponentialgesetz des Lernens.

Der Volksmud sagt “Aller Anfang ist schwer“. Goethe sagte: “Aller Anfang ist leicht“. Goethe hatte recht. Am Anfang lernt man schnell. Dann braucht man aber immer mehr Zeit für immer winzigere Lernfortschritte, bis man sich eine gefühlte Ewigkeit auf einem Plateau befindet. Wie soll man das aushalten? Das Zauberwort heißt “Motivation“!

Kinder und Meister sind intrinsisch motiviert. Das ist ein Glücksfall! In der Schule obliegt die Motivation oft dem Lehrer. Und da werden gewisse Ansprüche an ihn gestellt. Ich habe etwa 50 Jugendliche gefragt, was einen Lehrer ausmacht, der sie motiviert: Er muss gerecht sein, kompetent, Strenge mit Humor paaren und sich in die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen hineindenken können. Das ist ein sehr anspruchsvolles Anspruchsprofil und vielleicht müssen wir unser System, Lehrer auszuwählen und entsprechend auszubilden, überdenken.

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Kurzvita von Dr. Marco Wehr

Dr. Marco Wehr ist Physiker, Philosoph und Tänzer. Wegen seiner ungewöhnlichen Doppelbegabung wurde er von der ZEIT als “Kopf mit Körper“ bezeichnet. Seine Arbeitsschwerpunkte als Autor und Redner sind Voraussagbarkeit, Komplexitätstheorie sowie die Beziehung von Körper und Denken.

Seine bisher erschienenen Bücher wurden hochgelobt und auf die Liste der Wissenschaftsbücher des Jahres gewählt. Seine Essays für die FAZ, die sich kritisch mit der Mathematisierung der Welt befassen, wurden für den Henri-Nannen-Preis 2013 nominiert.

Peter Schipek