Mit ADHS-Diagnosen verantwortlich umgehen – Interview

Nicht selten wird bei hyperaktiven oder impulsiven Kindern vorschnell die Diagnosie ADHS erstellt. Selbst Kinderärzte oder Psychologen können ADHS nicht immer zweifelsfrei erkennen. Mangelnde Kompetenz und Erfahrung führen immer wieder zu fehlerhaften Diagnosen.

In diesem Interview von Peter Schipek und dem Facharzt Dr. Terje Neraal werden die Probleme bei der Diagnose von ADHS erläutert und Tipps für Eltern für einen verantwortlichen Umgang damit gegeben. Am Ende des Interviews finden Sie noch eine Kurzvita von Herrn Dr. Neraal. Zu diesem Thema gibt es auch ein Buch von Dr. Neraal.

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„Kinder mit den Verhaltensstörungen Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität, unter der Diagnose ADHS zusammengefasst, lösen in ihrer Umgebung sehr widersprüchliche Gefühle aus. Die Schwierigkeit zu begreifen, was diese Kinder durch ihr gestörtes und störendes Verhalten zum Ausdruck bringen, ruft im Gegenüber einerseits Verunsicherung und Hilflosigkeit, auch Gereiztheit und Ärger, andererseits aber auch Mitgefühl und Anteilnahme hervor.“ (Dr. Terje Neraal)

Interview: ADHS Symptome verstehen – Beziehungen verändern

Peter Schipek: Herr Dr. Neraal – ich möchte unser Gespräch mit einem Auszug aus dem Klappentext Ihres Buches beginnen: „Unaufmerksame, hyperaktive und impulsive Kinder teilen sich weniger über Worte als über ihr Verhalten anderen Menschen mit. Deshalb bleiben ihre Botschaften oft unerhört und rufen bei anderen Unverständnis und Hilflosigkeit hervor.“ „Symptome verstehen …“ – wie können wir denn das Verhalten dieser Kinder besser verstehen lernen und damit auch besser zurecht kommen?

Terje Neraal: Die drei Kernsymptome bei ADHS – Unaufmerksamkeit, motorische Unruhe und Impulsivität – sind in der Tat nicht leicht zu entschlüsseln, weil sie so unspezifisch sind wie die Begriffe „Stress“ oder „Fieber“. ADHS stellt eine am Verhalten, also am Beobachtbaren bemessene Oberflächen-Diagnose dar, die die naheliegenden Fragen übergeht, nämlich: Welche Probleme und Belastungen lenken die Aufmerksamkeit des Kindes ab, welche inneren Spannungen werden durch die motorische Unruhe abgeführt, und woher kommt das schnelle Reagieren auf äußere Reize oder Provokationen?

Um diesen Fragen mit den Eltern und dem Kind behutsam nachzugehen, ist es zunächst wichtig sich nicht anstecken zu lassen von der Hektik und dem Druck, unter dem das Kind und die Eltern meistens stehen. Der zweite Schritt besteht darin, herauszufinden, in welchen Situationen die Symptome (verstärkt) auftreten, die sog. Situationsdiagnostik.

Dabei können nachvollziehbare Ängste wie z. B. Trennungsängste oder Versagensängste oder die Angst nicht genug Aufmerksamkeit zu bekommen eruiert werden, die zu einem Verstehen der Verhaltensstörungen führen. Nach und nach werden Zusammenhänge deutlich, die mit dem Kind und den Eltern erarbeitet werden.

Peter Schipek: „… Beziehungen verändern“ – Die Diagnostizierung eines Kindes mit den vier Buchstaben „ADHS“ ist doch nicht wirklich hilfreich. Verführt sie nicht vor allem dazu, den Blick von problematischen Beziehungserfahrungen fort zum angeblich vererbten Hirnstoffwechsel hin zu wenden?

Terje Neraal: Die einseitige neuro-psychiatrische Ursachenerklärung verhindert geradezu eine heilsame Arbeit zur Verbesserung der familiären Beziehungen. Wenn die Verhaltensauffälligkeiten ADHS durch vererbte Stoffwechselstörungen im Gehirn des Kindes erklärt werden, fühlen sich die Eltern zwar zunächst von Schuldgefühlen entlastet. Aber diese meist nur vorübergehende Entlastung geschieht auf Kosten einer Stigmatisierung des Kindes: Es ist nicht mehr die „verträumte Nora“ oder der „umtriebige Kevin“, sondern das Kind hat ADHS.

Diese Art des Labelings kann zur Folge haben, dass das Kind sich nicht mehr verantwortlich fühlt für das eigene Verhalten. Von den Eltern wird erwartet, dass sie quasi als Hilfstherapeuten mitwirken sollen, das kindliche Verhalten zu korrigieren, – und zwar ohne selbst eine Hilfe zu bekommen für die eigenen Konflikte und Belastungen, die sie bisher daran gehindert haben diese Korrekturen vorzunehmen.

Ein Beispiel: Wenn Eltern aufgrund von eigenen Schuldgefühlen nicht in der Lage sind, dem Kind durch ein „Nein“ Grenzen zu setzen, weil dies die Schuldgefühle noch verstärken würde, muss es darum gehen, die Gründe für diese Schuldgefühle herauszufinden und sie zu bearbeiten. Erst dann können die Eltern dem Kind durch sichere Grenzen eine Halt gebende Beziehung anbieten.

Peter Schipek: Liegen die Gründe für die Unruhe des Kindes nicht oft tief im Verborgenen? Können sich nicht versteckte familiäre Gewalt, Ehekrisen, eine Depression der Mutter oder vieles mehr hinter ADHS verbergen?

Terje Neraal: Wenn nur das äußere Verhalten des Kindes eingeschätzt wird, ohne die zugrunde liegende Konflikte und Belastungen zu eruieren, können diese übersehen werden. Wenn ein Kind sich nicht konzentrieren und nicht still sitzen kann, zeigt es an, dass in seiner unmittelbaren Umwelt etwas „nicht in Ordnung“ ist. Und es stellt nach meiner Meinung ein schweres Versäumnis dar, sich nicht nach den dahinter liegenden Ursachen zu erkundigen.

Gerade Kindern, die sich über ihr gestörtes Verhalten ausdrücken, fehlen in der Regel die Möglichkeiten sich über Sprache auszudrücken. Umso wichtiger ist es, dass wir, die professionell mit diesen Kindern zu tun haben, uns durch die Diagnose ADHS nicht davon abbringen lassen, die ursächlichen Probleme und Belastungen aufzuspüren.

Peter Schipek: ADHS verunsichert Eltern. Bei kleinsten Anzeichen von Unruhe fragen sich viele Eltern, ob ihr Kind auch ADHS haben könnte. Kinder haben doch unterschiedliche Temperamente – und auch Kinder ohne ADHS wirken oft unkonzentriert. Wird die Diagnose nicht häufig zu voreilig gestellt?

Terje Neraal: Doch, gewiss. Wenn die Eltern und die Lehrer aufgefordert werden, das Ausmaß der Verhaltensauffälligkeiten des Kindes auf einer Skala, z. B. nach Connors, einzuschätzen, so geschieht diese Einschätzung natürlich vor dem Hintergrund der ganz individuellen Toleranz der betreffenden Erwachsenen. In manchen Familien ist eine quirlige Lebendigkeit die Norm, in anderen herrscht eher ruhige Besinnlichkeit vor.

Abweichungen von der Norm werden in der Gesellschaft oft besonders dann als schwerwiegend eingeschätzt, wenn Zukunftsunsicherheit bezüglich ausbildungsmäßiger und beruflicher Chancen vorherrscht, wie es zurzeit der Fall ist. Dann übertragen sich die Nervosität und der Leistungsdruck der Erwachsenen auf das Kind, das in der Folge seine Angst den Anforderungen nicht gerecht zu werden durch „Hippeligkeit“ ausdrückt.

Peter Schipek: Im Buch beschreiben Sie auch „Die Bedeutung des Vaters für die kindliche Entwicklung.“ Lange Zeit war das Interesse in der Kleinkindforschung auf die Beziehung zwischen Mutter und Kind gerichtet. Erst in der letzten Zeit kam es zu einer grundlegenden Neubewertung der Bedeutung des Vaters für das Aufwachsen und für die Entwicklung des Kindes. Wie wichtig sind Väter für ihre Kinder?

Terje Neraal: Um es ganz schlicht auszudrücken: genauso wichtig wie die Mutter. Sie hat zwar durch die Schwangerschaft und das Stillen anfangs eine innigere Beziehung zum Kind und dadurch einen „Vorsprung“. Aber die neuere Forschung zeigt, dass diese Innigkeit auch eine Gefahr für die kindliche Entwicklung bedeuten kann.

Wenn sich nicht der „Dritte im Bunde“, nämlich der Vater, von früh an einbringt als Halt gebende Alternative im Dreieck Mutter-Kind-Vater kann es nach Storck (1993) zu einer „Verklebung“ in der Beziehung zwischen Mutter und Kind kommen.

Dadurch wird die Autonomie-Entwicklung des Kindes gefährdet. Während früher postuliert wurde, der Vater bekäme erst in der ödipalen Phase des Kindes, im Alter von 4 bis 7 Jahren, eine Bedeutung für das Kind, wissen wir heute, dass die so genannte „frühe Triangulierung“, bei der der Vater von Anfang an in der Pflege und beim Spielen mit dem Kind für es bedeutungsvoll wird, eine große Wichtigkeit hat für eine gute Entwicklung des Kindes.

Viele Väter unterschätzen immer noch ihre Bedeutung für die Kinder. Aber es ist eine erfreuliche Entwicklung zu verzeichnen: Sie stellen sich immer mehr den väterlichen Aufgaben von Anfang an und erleben die Freude daran.

Peter Schipek: Diagnose ADHS. Nach wie vor beruht die Diagnose hauptsächlich auf dem subjektiven Eindruck des Arztes. Dazu braucht es Erfahrung, Fachwissen und viel Zeit. Wird die Diagnose nicht allzu oft voreilig gestellt? Sollten sich Eltern damit zufriedengeben, wenn nach einem kurzen Gespräch die Diagnose ADHS gestellt wird?

Terje Neraal: Meine schwerwiegendste Kritik an der heutigen Diagnosestellung ist, dass sie oft von Ärzten vorgenommen wird, die nicht über die nötige Kompetenz verfügen. Kinderärzte, aber auch manche Kinderpsychiater begnügen sich mit der vorher beschriebenen Verhaltensdiagnostik, ohne sich nach den Ursachen des gestörten Verhaltens zu erkundigen. Um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen, benutze ich oft einen Vergleich:

Wenn ein Kinderarzt zu einem Kind mit Fieber gerufen wird, kann er durch die Beobachtung der geröteten Haut und Befühlen der Hautoberfläche die Diagnose Fieber schnell bestätigen. Wenn er nach dieser „Oberflächendiagnostik“ ein fiebersenkendes Medikament verordnen würde, ohne vorher durch weitere Untersuchungen auszuschließen, dass es sich um eine Mittelohr-, eine Lungen-, oder gar eine Blinddarmentzündung handelt, würde man dies als fahrlässig bezeichnen.

Dieselbe Sorgfalt darf bei der Diagnostik von den Verhaltensstörungen ADHS auch erwartet werden.

Peter Schipek: ADHS und Ritalin©. Könnten Kinder, die täglich die Erfahrung machen, dass sie nur mithilfe eines Medikaments für die Umwelt erträglich sind, durch diese Erfahrung noch mehr in ihrer Fähigkeit sich selbst zu regulieren, geschwächt werden?

Terje Neraal: Eine solche Vermutung ist sehr naheliegend. Das Vertrauen in die Selbstwirksamkeit, eine wichtige Voraussetzung für ein sicheres Selbstwertgefühl, wird gewiss geschwächt durch die Vorstellung: „Ich funktioniere zur Zufriedenheit meiner Umgebung nur durch ein Medikament“.

Überhaupt ist in der heutigen gesellschaftlichen Situation die Verbreitung von Aufputsch- und Beruhigungsmittel ein ernst zu nehmendes Problem. Das fängt mit der Tendenz zum Doping im Sport an, und geht über sog. Neuro-Enhancements weiter.

Solche leistungssteigernde Mittel werden immer häufiger in der Ausbildungs- und Berufswelt benutzt, aus Angst sonst im Konkurrenzkampf nicht mithalten zu können. Wenn Ärzte und Eltern auch bei kleineren Kindern nach dem amphetamin-ähnlichen Mittel Ritalin© greifen, das nicht unerhebliche Nebenwirkungen am Herz-Kreislaufsystem, sowie Depressionen bis hin zu Selbstmordabsichten verursachen kann, so zeigt es nach meinem Dafürhalten die große Ohnmacht und Hilflosigkeit aller Beteiligten an.

Die Erfahrungen, die wir in unserer Forschungsgruppe gemacht haben, hat zu folgender Haltung in der Frage der Verschreibung von Ritalin© geführt: Nur wenn das Kind so aufgedreht und außer sich ist, dass es nicht gelingt, mit ihm in Kontakt zu kommen, kann vorübergehend eine Ritalingabe verantwortet werden.

Bei einer bedürfnisorientierten Psychotherapie, die sowohl das Kind selbst, wie auch die gesamte Familie mit einbezieht, erübrigt sich nach und nach die Einnahme von Ritalin©. Von 93 nach diesem Modell psychotherapeutisch behandelten Kindern zeigte die Nachuntersuchung, dass nur ein einziges Kind vorübergehend bei einer familiären Krise wieder Ritalin© einnehmen musste.

Peter Schipek: Ist denn alles eine „Störung“? Können denn nicht auch „negative“ Verhaltensweisen, wie sie in der Diagnose ADHS beschrieben werden, Teil einer ganz normalen und gesunden Entwicklung sein, Verhaltensweisen, die ein Kind erst im Laufe der Zeit lernen muss zu verändern?

Terje Neraal: Ich nehme an, dass ein Verhalten dann als „Störung“ erlebt wird, wenn es sich nicht erklären lässt, und dadurch in der Umgebung Unsicherheit und Hilflosigkeit hervorruft. Wenn das Symptom hingegen als Signal verstanden werden kann, das der Umgebung etwas mitteilen möchte über die innere Befindlichkeit des Kindes, das durch Sprache nicht ausgedrückt werden kann, eröffnet diese Sichtweise eine Möglichkeit mit dem Kind in Kontakt zu treten.

Statt sich damit zu begnügen, beim Kind das störende Verhalten zu registrieren und mit der unemotionalen Buchstabendiagnose ADHS zu versehen, tritt der Erwachsene mit dem Kind in Beziehung, signalisiert, dass er verstehen möchte, um welche Nöte es sich beim Kind handelt.

Dann kann es gelingen vom „Tanz auf der Verhaltensebene“ wegzukommen, und stattdessen einen Zugang zu der inneren Welt des Kindes und der Eltern zu finden. Die Arbeit mit dem Buch „ADHS Symptome verstehen – Beziehungen verändern“ war getragen von der Hoffnung, Eltern, Erzieherinnen, Lehrer, Ärzte und Psychologen Verstehensansätze an die Hand zu geben – auch durch die 10 ausführlich beschriebenen Behandlungsgeschichten – die ihnen mehr Sicherheit im Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern ermöglichen.

Kurzvita von Dr. Terje Neraal

Dr. med. Terje Neraal ist Facharzt für Kinder- u. Jugendpsychiatrie, Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytiker. Er war zwischen 1973-1995 Mitarbeiter am Zentrum für Psychosomatische Medizin der Justus-Liebig Universität Gießen. Er leitete die Ambulanz für Kinder, Jugendliche und Familien.

Seit 25 Jahren ist er Leiter der Sektion Paar-, Familien- und Sozialtherapie im Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Gießen e.V. – außerdem ist er Gründungsvorsitzender des „Bundesverbands Psychoanalytische Paar- und Familientherapie“ (BvPPF). Weiterhin ist er bekannt durch seine Dozenten- und Supervisionstätigkeit in psychiatrischen Institutionen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Deutschland und Skandinavien.

Peter Schipek